NATO-Kriterien: Versteckte Rüstungsausgaben

Stolz verkündete die Bundesregierung pünktlich kurz vor den Feierlichkeiten zum 70jährigen NATO-Jubiläum, für das kommende Jahr seien dem Bündnis erstmals Militärausgaben von über 50 Mrd. Euro gemeldet worden. Der offizielle Haushalt soll laut Kabinettsbeschluss im Jahr 2020 allerdings „nur“ 44,9 Mrd. Euro umfassen. Die Ursache für diese Lücke sind Umfrageergebnisse wie etwa vom Deutschlandtrend im April 2019: Sie zeigen ein ums andere Mal, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung – in diesem Fall von 53 Prozent – gegen eine vor allem von den USA massiv eingeforderten Erhöhung der Militärausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausspricht. Insofern ist es für die Bundesregierung überaus attraktiv, immer mehr Posten in andere Haushalte zu verschieben, sie aber bei der NATO dennoch anzumelden. Das hilft, den offiziellen Haushalt mit Blick auf die skeptische Bevölkerung halbwegs niedrig zu halten und trotzdem bei den NATO-Kollegen auf Schönwetter machen zu können.

Konsequenterweise geht die Schere zwischen offiziellem BMVg-Haushalt und den der NATO übermittelten Zahlen seit Jahren immer weiter auseinander. Lagen die NATO-Zahlen im Jahr 2014 „nur“ rund 2,3 Mrd. Euro über dem, was der Bevölkerung weisgemacht wurde, werden es im kommenden Jahr schon 5,5 Mrd. Euro sein. Und diese Kluft wird in den kommenden Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch weiter zunehmen – so ist etwa geplant, die als NATO-relevant eingestuften milliardenschweren deutschen Beiträge für die kommenden neuen EU-Rüstungstöpfe dem Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) zu entnehmen. Doch auch damit könnte das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sein, an darüber hinausreichenden Vorschlägen herrscht kein Mangel. Zuletzt meldete sich Ende letzter Woche der ehemalige Kommandierende der US-Landstreitkräfte in Europa, Ben Hodges, zu Wort, der der Bundesregierung eine Reihe weiterer Tipps gab, wie Militärausgaben in andere Haushalte verschoben und dennoch bei der NATO gemeldet werden könnten.

Chronisch unterfinanziert?

Im Jahr 2014 rief die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die „Agenda Rüstung“ aus, mit der durch mehrere Trendwenden die militärische Schlagkraft der Bundeswehr deutlich erhöht werden sollte. Dazu gehörte auch die „Trendwende Finanzen“, die geschickt das Debakel um – vor allem durch die lausig arbeitende Rüstungsindustrie verursachte – Ausrüstungsmängel mit der Forderung nach einer massiven Erhöhung der Rüstungsausgaben verband. Seither bemühen Politik, Industrie und nicht zuletzt auch die Medien, das Bild von der „kaputtgesparten Bundeswehr“, um auf massive Etaterhöhungen zu drängen: Die Bundeswehr sei „stahlgewordener Pazifismus“ (Die Zeit), sie sei „Schrott“ (Bild), weil sie „chronisch unterfinanziert“ (Deutschlandfunk) sei, befanden diverse „Leitmedien“ in der Woche unmittelbar nach Ausrufung der Agenda Rüstung.

Dabei war es schon zum damaligen Zeitpunkt keineswegs so, dass sich die Militärausgaben im Sinkflug befunden hätten – im Gegenteil: Sie stiegen zwischen dem Jahr 2000 (24,3 Mrd. Euro) und 2014 (32,4 Mrd. Euro) auch inflationsbereinigt deutlich an. Dennoch verfing die Propaganda, weshalb die Erhöhungen in den Folgejahren noch ganz andere Dimensionen annahmen. Zufrieden konnte deshalb die Bundeswehr die bisherige Entwicklung auf ihre Homepage mit folgenden Worten bilanzieren: „Die mit dem Haushalt 2015 eingeleitete Trendwende Finanzen setzt sich auch mit dem Haushalt 2019 fort. […] In den vergangenen Jahren ist der Verteidigungshaushalt schrittweise angestiegen. 2014 betrug der Soll-Etat noch 32,4 Milliarden Euro. 2017 erhöhte er sich bereits auf rund 37 Milliarden Euro. Im Jahr 2019 liegt er nunmehr bei rund 43,2 Milliarden Euro.“

Obwohl es sich hierbei um eine – inflationsbereinigte! – Erhöhung von ziemlich genau 35 Prozent seit der Jahrtausendwende handelt, scheinen die interessierten Akteure den Hals nicht voll genug zu bekommen. Abgesehen von der – vorsichtig formuliert – fragwürdigen Herangehensweise, den Material- und Finanzbedarf einer Armee in die Relation zu seiner Wirtschaftsleistung zu setzen, handelte es sich bei dem viel bemühten 2%-Ziel ohnehin nie um eine zwingend bindende Verpflichtung, sondern lediglich um eine äußerst lose Absichtserklärung, sich in die grobe Richtung dessen zu begeben. Im Gegensatz dazu hat sich die Bundesregierung inzwischen aber relativ bindend gegenüber der NATO darauf festgelegt im Jahr 2024 satte 1,5 Prozent des BIP bei der NATO zu melden. Da passt es doch perfekt, dass das Verteidigungsministerium seinen Finanzbedarf exakt auf diesen Betrag beziffert hat und in einem Papier der Bundeswehr-Universität München ausrechnen ließ, dass dies 2024 einer Summe von 58 Mrd. Euro entsprechen würde.

Die darüber hinausgehenden Vorstellungen präsentierte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Münchner Grundsatzrede Anfang November, als sie sich hinter die Forderung schmiss, den Militärhaushalt perspektivisch noch weiter auf geschätzte 75 Mrd. Euro aufzuplustern: „Ja, wir haben in den letzten Jahren enorm aufgeholt. Und wir haben für das nächste Jahr zum ersten Mal, bei der Summe, die wir an die NATO melden, die Schallmauer von 50 Milliarden durchbrochen. Das ist eine enorme Leistung. Aber das reicht noch nicht aus, denn wir brauchen die Steigerung auf 1,5% des BIP bis 2024 und 2% bis spätestens 2031.“

Dies würde allerdings einen nochmaligen – politisch nur schwer verkaufbaren – drastischen Anstieg des offiziellen Haushaltes erfordern. Alternativ bietet es sich deshalb an, mehr und mehr Gelder in andere Haushalte zu verschieben und dennoch bei der NATO anzumelden.

NATO-Kriterien unter Verschluss

Auf eine Anfrage der Linksfraktion räumte die Bundesregierung in ihrer Antwort Ende August 2019 zunächst einmal ein, dass diverse militärische Ausgabenposten auf andere Haushalte verteilt sind: „Wenn von Verteidigungsausgaben die Rede ist, ist stets der entsprechende Betrachtungsrahmen zu beachten. Aus Sicht des Bundeshaushalts zählen hierzu im Wesentlichen die Ausgaben des Einzelplans 14. Der Begriff der Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien ist weiter definiert. Er enthält neben den Ausgaben des Einzelplans 14 auch Ausgaben aus anderen Einzelplänen.“

Ein Blick in die NATO-Angaben zur Anrechenbarkeit von Ausgaben zeigt, dass zu den in Deutschland nicht dem Verteidigungsetat zugerechneten Posten unter anderem Dinge gehören wie die Ausgaben für UN-Einsätze (Einzelplan 5: Auswärtiges Amt) oder für die „Ertüchtigung“ (Einzelplan 60: Allgemeine Finanzverwaltung), also für die Ausbildung und Aufrüstung „befreundeter“ Akteure.

Gleichzeitig legte die Bundesregierung in ihrer Antwort aber keinerlei Bereitschaft an den Tag, für Transparenz zu sorgen, um welche konkreten Beträge es sich hier in welchen Haushalten handelt: „Aufgrund der sich daraus ergebenden verteidigungspolitischen Sensibilität dieser detailscharfen Daten ist die detaillierte Gesamtübersicht der Ausgaben außerhalb des Einzelplans 14, die als Verteidigungsausgaben angerechnet werden, „VS-vertraulich“ eingestuft und wird als Anlage gesondert hinterlegt. […] Die Antwort ist in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages hinterlegt und kann dort nach Maßgabe der Geheimschutzordnung eingesehen werden.“

Das bedeutet, dass die diesbezüglichen Informationen von Bundestagsabgeordneten zwar eingesehen werden dürfen, es ist ihnen aber verboten, sich dabei Notizen zu machen oder später öffentlich darüber zu berichten.

EU-Verschiebebahnhof

Mit dem neuen Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 will die Europäische Union zum großen Rüstungsschlag ausholen. Erstmals wird eine Art EU-Verteidigungsministerium namens „Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum“ eingerichtet, die über beachtliche Mittel verfügen soll. Dazu gehören laut derzeitigen Vorstellungen der Kommission 16 Mrd. Euro für militärisch relevante Weltraumprogramme, insbesondere Copernicus (Erdbeobachtung) und Galileo (Satellitennavigation). Für „Militärische Mobilität“, also für primär militärisch motivierte Infrastrukturmaßnahmen zur schnellen Verlegung von Gerät und Truppen an die Grenze Russlands, sind 6,5 Mrd. Euro vorgesehen. Und mit einem „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) soll die Erforschung und Entwicklung von Rüstungsgütern aus dem EU-Haushalt mit 13 Mrd. Euro bezuschusst werden. Hinzu sollen noch 10,5 Mrd. Euro für einen irreführenderweise „Europäische Friedensfazilität“ (EFF) benannten Topf kommen, der zwar kein offizieller Teil des EU-Haushaltes sein wird, aber dennoch u.a. für die Finanzierung von EU-Militäreinsätzen gedacht ist.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang eine parlamentarische Anfrage des Linken-Abgeordneten Tobias Pflüger, aus der hervorging, dass sich der deutsche Anteil nach einem britischen Austritt auf 25 Prozent belaufen würde. In derselben Antwort räumte die Bundesregierung zudem ein, dass zumindest die Gelder des Europäischen Verteidigungsfonds keineswegs dem BMVg-Etat entnommen werden: „Beiträge für den EU-Haushalt werden im Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) etatisiert.“

Und auf die Frage, ob besagte Gelder dann auch bei der NATO angerechnet werden, kam als Antwort eine nur leicht verklausulierte Zustimmung: „Für eine Klassifizierung als Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien ist es im Verständnis eines ‚single set of forces‘ unerheblich, innerhalb welcher Internationalen Organisation militärische Fähigkeiten erforscht, entwickelt und beschafft werden.“

Zwar liegen über die anderen EU-Budgets – Weltraum, Military Mobility und EFF – noch keine eindeutigen Aussagen der Bundesregierung vor. Angesichts der Verfahrensweise mit dem EVF ist aber davon auszugehen, dass auch diese Gelder bei der NATO abgerechnet werden dürften. Allein was diese neuen EU-Töpfe anbelangt, sprechen wir also von bis zu 46 Mrd. Euro, die für militärische Zwecke ausgelobt wurden, was nach einem Brexit einem deutschen Anteil von über 11,5 Mrd. Euro oder rund 1,6 Mrd. Euro im Jahr entspricht.

Ausweitung der NATO-Kriterien

Auch über die aktuellen Klimmzüge mit Blick auf die kommenden EU-Militärhaushalte hinaus, sind derzeit der Kreativität in Sachen NATO-Kriterien scheinen kaum Grenzen gesetzt. Vor wenigen Tagen schlug der ehemalige hohe NATO-Mann Ben Hodges in der FAZ vor, auch „andere Ausgaben in die zwei Prozent einrechnen“ zu lassen. Dazu zählt er zum Beispiel „Investitionen in den Cyber-Schutz der für die Nato wichtigen deutschen Häfen oder Flughäfen sowie des Schienennetzes“. Ferner wäre dabei auch an „Dual-Use-Projekte“ für „Start-ups und Unternehmen“ zu denken und auch universitäre „Forschungen, die militärischen Nutzen haben“ seien auszuweiten.

Auch für die Bahn vorgesehene Gelder des Verkehrsministeriums sollen künftig entlang der militärischen „Logik“ verausgabt werden, schlägt Hodges vor: „Auch das deutsche Schienensystem ist in militärischer Hinsicht verbesserungsfähig. Die Deutsche Bahn wäre derzeit im Krisenfall nicht in der Lage, Ausrüstung für Nato-Streitkräfte schnell in notwendigem Umfang zu transportieren. Investitionen in die Bahnkapazitäten würden dabei natürlich nicht nur der Nato, sondern auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland und der Zivilgesellschaft nutzen.“

Aber natürlich müsse laut Hodges auch dafür Sorge getragen werden, dass der offizielle und „besser“ direkt in die Ausrüstung investierbare Militärhaushalt ebenfalls weiter steige. Hierfür bedürfe es allerdings einer Begradigung der hierzulande immer noch wenigstens halbwegs kritischen Debatte in Sachen Militär, Rüstung und Rüstungsausgaben: „Darüber hinaus bedarf es jedoch – so glaube ich – auch im Ministerium, im Bundestag und in der deutschen Zivilgesellschaft einer ‚Kultur der Einsatzbereitschaft‘, am besten eingebettet in eine strategische Debatte über Deutschlands Rolle in der Welt. Denn es sind noch weitere erhebliche Investitionen erforderlich, um die Bundeswehr in einen Zustand zu versetzen, der Deutschlands Rolle als eine der weltweit größten demokratischen Wirtschaftsmächte mit hohen moralischen Standards gerecht wird. Sind es nicht auch deutsche Interessen und Werte, die eines militärischen Schutzes bedürfen?“

Veröffentlicht am 6.12.2019 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)