Umfrage zeigt massiven Niedergang der politisch-institutionellen Ordnung. Präsident Piñera nur noch bei sechs Prozent Zustimmung
Die Unterstützung für die Regierung des chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera ist nach monatelangen Protesten auf ein Minimum von sechs Prozent gesunken. Ein schlechteres Ergebnis hat in der Geschichte der chilenischen Republik noch kein Präsident erreicht. Das geht aus einer unlängst veröffentlichten Umfrage der chilenischen Denkfabrik Centro de Estudios Políticos (CEP) hervor. Im Vergleich mit den Werten vom Mai vergangenen Jahres bedeutet das für Piñera einen Einbruch um 43 Prozentpunkte. Die Ablehnung der amtierenden rechtskonservativen Regierung ist auf 82 Prozent hochgeschnellt.
Mitte Oktober vergangenen Jahres war es in Chile zu spontanen Demonstrationen gegen die vierte U-Bahn-Preiserhöhung innerhalb weniger Monate gekommen. Die Proteste entwickelten sich rasch zu einem Flächenbrand. Inzwischen gehen Chileninnen und Chilenen fast täglich gegen die soziale Ungleichheit und für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf die Straße. Das derzeitige Grundgesetz des südamerikanischen Landes stammt noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-1990).
Die Umfrage des CEP zeigt weit über die Bilder von Zusammenstößen zwischen Demonstranten und bewaffneten staatlichen Kräften hinaus die Tragweite der politischen und sozialen Krise in Chile. So geben die 1.469 Befragten in über 100 Gemeinden des Landes als vorrangige Probleme das Rentensystem, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie das Gehaltsgefüge an. Der Komplex „Kriminalität/Überfälle/Diebstähle“ ist in der Wahrnehmung von 51 Prozent im Mai vergangenen Jahres auf 26 Prozent abgerutscht.
Auch auf den hinteren Rängen zeigt sich ein Umdenken in der Bevölkerung. So sahen im Mai vergangenen Jahren nur neun Prozent der Chileninnen und Chilenen in der sozialen Ungleichheit ein Problem, im Dezember waren es 18 Prozent. Die Lage der Menschenrechte sahen zuletzt acht Prozent als Problem an, im Mai zuvor waren es nur vier Prozent.
Die eigene wirtschaftliche Prognose sehen mehr Befragte negativ. Ende 2018 dachten 43 Prozent, es gehe ihnen im einem Jahr besser; im vergangenen Dezember schlossen sich nur noch 30 Prozent diesem Urteil an. 13 Prozent gehen indes von einer Verschlechterung der eigenen Lage binnen zwölf Monaten aus. Ähnlich sieht es bei der Bewertung der Lage des Landes insgesamt aus.
Gaben im Mai 2017 noch 26 Prozent der Chileninnen und Chilenen an, das bürgerlich-demokratische System funktioniere schlecht bis sehr schlecht, schlossen sich im vergangenen Dezember 47 Prozent der Befragten diesem Urteil an.
Zugleich hatten 2017 noch knapp 40 Prozent der Menschen in dem südamerikanischen Land Vertrauen in Armee und Polizei, Nach den massiven Angriffen auf Demonstranten Ende des Jahres sank diese ohnehin geringe Quote auf 17 bis 25 Prozent. Auch Medien, Kirchen und staatliche Institutionen verloren massiv an Vertrauen.
55 Prozent der Chileninnen und Chilenen unterstützen jedoch die andauernden Demonstrationen, nur elf Prozent lehnen sie ab. Lediglich zehn Prozent derjenigen, die anfangs die Proteste unterstützten, sehen die Demonstrationen inzwischen kritisch. In 57 Prozent der Familien sorgt die Haltung zu den Protesten für Diskussionen. 67 Prozent der Menschen sprechen sich für eine neue Verfassung aus.
Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sind seit Ausbruch der Proteste mehr als 20 Zivilisten getötet worden, mehr als Tausend Menschen wurden verhaftet. Das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) hat zahlreiche Fälle von Folter und sexuellem Missbrauch in der Haft nachgewiesen.
Die massive Gewalt gegen Demonstranten hat erheblich zum Verfall der Umfragewerte der Piñera-Regierung beigetragen. Nach einem Bericht des INDH haben 372 Teilnehmer der Proteste bei Schusswaffeneinsätzen der Polizei Traumata oder Augenverletzungen erlitten, 33 weitere verlorenen ihr Augenlicht teilweise oder komplett. Gesundheitsminister Jaime Mañalich sprach dennoch von Einzelfällen; „Es wurden einige wenige Verletzungen beobachtet, die aber wegen ihrer Folgen, die mit Schlägen mit stumpfen Gegenständen verbunden sind, Relevanz besitzen.“
Rodrigo Bustos, juristischer Leiter des INDH, wies darauf hin, dass 405 Personen mit Augenverletzungen innerhalb von 90 Tagen nicht als Einzelfälle bezeichnet werden können. Bustos stimmt mit der Ärztekammer darin überein, dass die Enthemmung beim Vorgehen der Carabineros die Hauptursache für die schweren Verletzungen ist. „Das ist äußerst ernst: Wir haben gesehen, wie die Polizei in vielen Fällen direkt auf Demonstranten geschossen hat“, so Bustos.
Anders als Frankreich, das die Polizeikooperation mit Chile angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen eingestellt hat, schickt die Bundesregierung nach wie vor Polizeiausbilder in das südamerikanische Land. Nach Ansicht (Seite 17357) von Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, „werden Polizistinnen und Polizisten, also Sicherheitskräfte, dabei unterstützt, ihren humanitären Verpflichtungen nachzukommen“.
Veröffentlicht am 4.2.2020 auf Portal amerika21.de