Defender Europe 2020 Plus
Das US-Großmanöver wird fortgesetzt!
Die ursprünglich für den Zeitraum zwischen Januar und Juni 2020 terminierte US-Großübung „Defender Europe 2020“ war als zentraler Baustein im allgegenwärtigen Säbelrasseln gegen Russland gedacht. Beim größten US-Manöver seit 25 Jahren hätten eigentlich 20.000 US-Soldaten aus den USA 4.000km quer durch Europa bis an die Grenze Russlands verfrachtet werden sollen – insgesamt war von 37.000 beteiligten Soldaten die Rede. Deutschland sollte dabei sowohl in einer Reihe angegliederten NATO-Manöver, vor allem aber auch bei der logistischen Unterstützung der US-Truppen eine zentrale Rolle spielen (siehe Telepolis, 8.1.2020).
Dann machte die Corona-Krise den USA allerdings einen gründlichen Strich durch die Manöverrechnung – Mitte März 2020 war der Presse zu entnehmen: „Das war’s: Der Coronavirus hat das Mega-Manöver der USA endgültig zum Erliegen gebracht. ‚Defender 2020‘ wird vorzeitig beendet.“ Bis zu diesem Zeitpunkt waren nach NATO-Angaben bereits 6.000 US-Soldaten und 3.000 Fahrzeuge über den Atlantik transportiert worden. Obwohl dies natürlich automatisch die Frage aufwarf, was mit diesen Truppen geschehen würde, antwortete die Bundesregierung Anfang April 2020 auf eine Anfrage der Linken, ob die ursprünglich für Mai im Zusammenhang mit Defender 2020 stehenden Übungen „Allied Spirit XI“ und „Trojan Footprint“ trotz der Corona-Krise stattfinden würden, dies sei „der Bundesregierung nicht bekannt.“
Nun ist die Katze aber aus dem Sack: Zumindest Allied Spirit XI soll im Juni 2020 ungeachtet der Umstände durchgezogen werden – auch die Durchführung weiterer mit Defender 2020 in Verbindung stehender Manöver wurde von der U.S. Army Europe angekündigt. Auch über das der Übung zugrundeliegende Szenario ist inzwischen ein wenig mehr bekannt, wobei die neuen Informationen im Wesentlichen bestätigen, was ohnehin bereits auf der Hand lag: Dass das Manöver gegen Russland gerichtet ist.
Occasus-Szenario
Von offizieller Seite wurde bis zuletzt an einer gemeinsamen Sprachregelung festgehalten: Defender 2020 sei ein rein defensives Unterfangen, das keineswegs gegen einen bestimmten Staat gerichtet wäre. Stellvertretend sei hier Martin Schelleis zitiert, der als Kommandeur der Streitkräftebasis für die gesamte deutsche Logistikunterstützung der US-Truppen zuständig war: „Sie [die Defender 2020-Übung] ist nicht gegen Russland gerichtet.“
Natürlich glaubt das kein Mensch und Kommentatoren mit ein wenig mehr rhetorischer Beinfreiheit hatten dies auch von Anfang an frank und frei eingeräumt. Christian Mölling etwa von der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ gab an:
„Es geht insgesamt darum, Russland zu zeigen, dass man im Falle eines Falles bereit und in der Lage ist, Nordosteuropa zu schützen. Denn das ist zurzeit eine der wesentlichen Achillesfersen der NATO. Wir wissen, dass wir mit den wenigen Verbänden, die wir da oben haben, nicht lange durchhalten können. Das heißt, es wird alles darauf ankommen, die Durchhaltefähigkeit zu erhöhen, indem man tatsächlich Verstärkung schicken kann.“
Aus der Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Tobias Pflüger (Linke) geht das Szenario hervor, auf dem die Großübung basiert: „Nach Kenntnis der Bundesregierung liegt DEFENDER-Europe 20 und allen darin integrierten oder damit verbundenen Übungsvorhaben das Szenario OCCASUS zugrunde.“
Im gleichen Atemzug untermauerte die Bundesregierung allerdings, dass sie darüber hinaus nicht gewillt war, allzu viele Details über das Szenario herauszurücken: „Da sich die Frage auf eingestufte Informationen von Verbündeten bezieht, kann hierzu keine Aussage getroffen werden.“ Lediglich eine Sache wollte sie unbedingt noch betonen: „Das Szenario der Übung ist fiktiv, Ableitungen auf reale Gegebenheiten sind nicht möglich.“
Von einem fiktiven Szenario kann allerdings kaum die Rede sein, die Taz schrieb Anfang Mai über Occasus:
„Der Kern des Konflikts: Eine Allianz rund um den fiktiven Staat Murinus will die Nato schwächen und erhöht dafür ihre Militärpräsenz in der Nachbarschaft des Bündnisgebiets. Dann greift sie eines der Mitgliedsländer direkt an und nutzt dafür Mittel der hybriden Kriegsführung. Die fiktive Allianz will also ihre eigene Rolle im Konflikt verschleiern, indem sie beispielsweise Soldat*innen in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen in den Kampf schickt. Mittels einer Propagandakampagne verbreitet sie zudem die Behauptung, dass der angegriffene Nato-Staat eine ethnische Minderheit im Land unterdrücke. Erinnert an die Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt?“
Nun mag man die Rolle des Westens und Russlands im Ukraine-Konflikt bewerten, wie man möchte, dass er dem Occasus-Szenario als Vorbild dient, scheint recht offensichtlich. Und in diesem Zusammenhang sollte über Defender 2020 der schnelle Truppentransport im Eskalationsfall „optimiert“ werden, was im Übrigen sowohl defensiv wie auch offensiv nutzbar ist. Insofern ist es fast amüsant, wenn die Bundesregierung verwundert angibt, sie könne sich die ganze Aufregung auf russischer Seite auch nicht erklären: „Die Übung wurde durch Vertreter der Regierung der Russischen Föderation trotz ihres defensiven Charakters und trotz der u. a. auch von Deutschland ursprünglich geplanten freiwilligen Transparenzmaßnahmen erwartungsgemäß kritisiert.“
Jedenfalls hielten Teile des deutschen sicherheitspolitischen Establishments die Übung für so bedeutend, dass sie sich mit der im Raume stehenden Komplettabsage nicht abfinden wollten. Claudia Major und Dominic Vogel etwa von der die Regierung beratenden „Stiftung Wissenschaft und Politik“ machten sich vor einiger Zeit für eine Wiederholung von Defender stark:
„[S]eit dem 16. März stehen die Räder still. […] Doch sobald die Umstände es wieder zulassen, sollte die Übung wiederholt werden: Die militärischen Herausforderungen bleiben unabhängig von der Pandemie bestehen, von Russland bis Terrorismus. Bundeswehr und Nato-Verbündete müssen unverändert in der Lage sein, einander Beistand zu leisten, sollten sie Opfer eines bewaffneten Angriffs werden. Und so muss geprobt werden, was viele europäische Länder verlernt haben: der schnelle und sichere Transport über Staatsgrenzen hinweg. Dabei geht es um eine interne Verfahrensübung, nicht um das Durchspielen eines Angriffsszenarios.“
Wie dargelegt, wird der Charakter der Übung in Russland nachvollziehbarerweise gänzlich anders bewertet. In jedem Fall unterstreicht die SWP-Forderung die Bedeutung, die dem Manöver beigemessen wird. Eine vollständige Neuauflage noch in diesem Jahr dürfte allerdings aufgrund neuer Aussagen der US-Armee, Teile der beigeordneten Manöver nun verspätet durchexerzieren zu wollen, vom Tisch sein.
Defender-Fortsetzung: Allied Spirit
Augenscheinlich wurden Teile von Defender 2020 nicht gänzlich abgesagt, sondern lediglich auf Eis gelegt. Dies war allein insofern auch naheliegend, da nirgends von einem Rücktransport der bereits nach Europa verfrachteten US-Soldaten die Rede war. Am 13. Mai 2020 meldete die U.S. Army Europe unter dem Titel „DEFENDER-Europe 20 Plus“ Teile des Manövers würden in Kürze fortgesetzt:
„Nach sorgfältiger Beurteilung und Planung zwischen der U.S. Army Europe und dem polnischen Verteidigungsministerium wird vom 5. bis 19. Juni auf dem Truppenübungsplatz Drawsko Pomorskie in Polen die Übung Allied Spirit stattfinden, eine Übung in Verbindung mit DEFENDER-Europe 20, die ursprünglich für Mai geplant war. […] Etwa 6.000 US-amerikanische und polnische Soldaten werden an der Übung teilnehmen. […] Die bilaterale Übung zwischen den USA und Polen, die aufgrund von COVID-19 von ihrem ursprünglichen Entwurf abgeändert wurde, um die Sicherheit der Soldaten zu gewährleisten, wird eine polnische Luftlandeoperation und eine amerikanisch-polnische Flussüberquerung in Divisionsgröße umfassen.“
Außerdem kündigte die U.S. Army Europe in derselben Pressemitteilung auch noch eine Reihe weiterer im Zusammenhang mit Defender 2020 stehender Manöver für den Lauf des Jahres an:
„Die U.S. Army Europe plant für die nächsten Monate weitere Manöver. Diese Manöver werden viele der ursprünglichen DEFENDER-Europe 20 Trainingsziele aufgreifen, um Einsatzbereitschaft und Interoperationalität zwischen den USA, den Verbündeten und Militärs von Partnern zu verbessern.“
Deutschland wird dabei wohl bei Allied Spirit XI keine Rolle spielen, dürfte aber auf andere Weise involviert sein. Die U.S. Army Europe gibt jedenfalls an, es existierten „Pläne, mit der Ausrüstung zu üben, die bereits aus Lagern herausgeholt wurde“ und nennt dabei unter anderem Gerät für eine „gepanzerte Kampfbrigade, das sich weiterhin am Truppenübungsplatz Bergen-Hohne mit Unterstützung der deutschen Streitkräftebasis befindet.“
Jedenfalls ist damit klar, dass der Defender-Spuk nicht einmal für dieses Jahr erledigt ist – und für das kommende steht ja ohnehin bereits die nächste Manöverrunde vor der Haustür.
Nach Defender ist vor Defender
Die USA haben eine Art Manöver-Doppelpack geschnürt: In diesem Jahr war für die Europa-Variante ein großer Umfang mit einem Budget von 340 Mio. Dollar (allein der US-Teil) geplant und für das ostasiatische Pendant „Defender Pacific“ eine abgespeckte Version. Im kommenden Jahr soll es dann genau umgekehrt sein: Für Defender Europe 2021 hat die US-Armee 150 Mio. Dollar beantragt (Defender Pacific ist mit 364 Mio. veranschlagt). Das ist zwar deutlich geringer als die diesjährige Version, aber immernoch genug, um Defender Europe 2021 im kommenden Jahr zu einem Großereignis zu machen, dass erneut der Aufmerksamkeit der Friedensbewegung bedarf.
Veröffentlicht am 15. Mai 2020 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)