Dr. med. Alex Rosen, Co-Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW
Seit diesem Sommer gehören die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) nun auch ganz offiziell zur Liste der Atomstaaten. Am 1. August 2020 begann der neue Atomreaktor Barakah 1 Strom zu produzieren. Der Reaktor ist der erste von insgesamt vier Reaktoren an dem Standort im dünn besiedelten Western von Abu Dhabi und damit auch der erste Atomreaktor überhaupt auf der arabischen Halbinsel. Drei weitere Reaktoren in Barakah sind aktuell noch im Bau und sollen in den kommenden Jahren fertig gestellt werden. 5.600 Megawatt Elektrizität sollen die vier Reaktoren einst produzieren – rund ein Viertel der aktuellen Strombedürfnisse der Emirate.
In Auftrag gegeben 2009, zwei Jahre vor Fukushima, sollte der erste Reaktor in Barakah ursprünglich 2017 ans Netz gehen. Sicherheitsbedenken, die Folgen von Fukushima, Korruptionsfälle beim süd-koreanischen Bauherrn KEPCO und der beginnende Ausstieg Südkoreas aus der Atomenergie führten zu mehreren Verzögerungen.
Die VAE sind die einzigen Auslandskunden von KEPCO. Noch nie hat der Konzern außerhalb von Südkorea ein Kraftwerk gebaut – und offenbar in Barakah auch an einigen kritischen Stellen gespart. Um den ursprünglich ausgehandelten Preis von rund 30 Milliarden US-Dollar trotz dreijähriger Verzögerungen einzuhalten, wurde auf einige moderne Sicherheitsvorkehrungen verzichtet, die seit Fukushima eigentlich zum Standard-Repertoire neuerer Atomreaktoren gehören sollten. So ist der Reaktorkern weder gegen militärische Angriffe geschützt, noch gegen Flugzeugabstürze oder „unerwartete Unfälle“. Vor allem der Verzicht auf eine Auffangvorrichtung für geschmolzene Brennstäbe im Fall eines Reaktorbruchs wird von internationalen Sicherheitsexpert*innen schwer kritisiert. Ein solcher „core-catcher“ oder „Kernfänger“ wird beispielsweise im Europäischen Druckreaktor EPR eingebaut und soll das hoch-radioaktive Material bei einer Kernschmelze auffangen und kühlen. Die damalige Vorstandsvorsitzende der französischen Atomfirma AREVA, Anne Lauvergeon, nannte den KEPCO-Reaktor in Barakah „ein Auto ohne Airbags oder Sitzgurte“.
Hinzu kommt, dass KEPCO in den letzten Jahren von zahlreichen Korruptionsfällen betroffen war. Neben Schmiergeldzahlungen ging es vor allem um Fälschungen von Sicherheitszertifikaten bei Atomreaktoren in Südkorea. Mehr als 100 Menschen der sog. „Atom-Mafia“ innerhalb und im Umfeld von KEPCO wurden vor Gericht gestellt, sechs Atomreaktoren abgeschaltet. Südkorea beschloss 2017, aus der Atomenergie auszusteigen. Weitere Auslandsprojekte wurden gestoppt, zwei ältere Reaktoren vom Netz genommen. Der Reaktor in Barakah ging dennoch ans Netz, wenn auch mit drei Jahre Verspätung.
Mittlerweile wurden auch hier, ähnlich wie an Atommeilern in Europa, Risse in der Reaktorhülle festgestellt und offenbar fehlerhafte Sicherheitsventile installiert. Diese Vorwürfe lassen die Aufsichtsbehörden der VAE in einem schlechten Licht darstellen und nähren die Sorge, dass, ähnlich wie in anderen Atomstaaten, die Kollusion zwischen Betreibern, Politik und Aufsichtsbehörden der Sicherheit des Kraftwerks zuwiderlaufen.
Der Nachbarstaat Katar hat bereits im März 2019 die zunehmenden Sicherheitsbedenken zum Anlass genommen, um bei der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO eine offizielle Beschwerde einzureichen. Das Emirat, das nur etwa 150 km vom Atomkraftwerk in Barakah entfernt liegt, spricht von ernsthaften Bedrohungen für Umwelt und regionale Stabilität durch das Projekt. Im Fall einer Atomkatastrophe könnte die katarische Hauptstadt Doha laut Prognosen der katarischen Behörden binnen Stunden von einer radioaktiven Wolke umhüllt sein.
Auch der Transport von hoch-radioaktivem Uran (übrigens auch aus dem westfälischen Gronau) über den Persischen Golf bereitet Anrainerstaaten Sorgen. Anders als Unfälle von Ölfrachtern oder Gasschiffen hätte die Havarie eines Transportschiffes von Uran die langfristige radioaktive Kontamination der Küstengewässer zur Folge. Eine radioaktive Kontamination der Küstengewässer durch ein Schiffsunglück, steigende Meeresspiegel, Überflutungen, Stürme oder gar ein Super-GAU wie in Fukushima hätte katastrophale Folgen für Staaten wie Katar, die ihr Trinkwasser hauptsächlich aus Entsalzungsanlagen entlang der Küste beziehen.
Hinzu kommt, dass die Küstenregionen der Region mit ihren Wattflächen und artenreichen Mangrovenwäldern ein einzigartiges und schützenswertes Ökosystem darstellen und im Fall einer Atomkatastrophe unwiderruflich kontaminiert wären. Es wird davon ausgegangen, dass Mangrovenwälder wie ein Schwamm radioaktive Stoffe aufnehmen und ansammeln würden. Umweltschützer sprechen davon, dass die Küstennahen Ökosysteme im Fall einer Atomkatastrophe zu einer radioaktiven Kloake werden würden.
Wissenschaftler*innen des Weltklimarats IPCC rechnen in den kommenden Jahren mit einem deutlichen Anstieg von Hochwassersituationen. Küstennahe Atomkraftwerke wie Barakah werden daher zunehmend von Sturmfluten und Überschwemmungen der Reaktorgebäuden und Abklingbecken betroffen werden. Die VAE hatten die Konsequenzen des Klimawandels sicherheitshalber nicht in die Umweltprüfungen des Kraftwerkprojekts in Barakah einbezogen.
Angesichts der fortschreitenden Klimakatastrophe und Erderwärmung ist es ohnehin verwunderlich, dass ein Wüstenstaat mit rund 3.500 Sonnenstunden im Jahr (mehr als doppelt so viel wie beispielsweise Deutschland) in Reaktoren investiert, deren hoch-radioaktiver Kern kontinuierlich durch Küstenwasser gekühlt werden muss. Schon jetzt hat der Persische Golf eine Durchschnittstemperatur von 20-35°C, die mittelfristige Prognose deutet nach oben. Als Flüsse in Europa im Rekordsommer 2019 die kritische Grenze von 26°C Wassertemperatur erreichten, mussten zahlreiche Atomreaktoren heruntergefahren oder ganz abgeschaltet werden. Es wird interessant sein zu sehen, inwieweit sich das Wasser des Persischen Golfs als Kühlwasser nutzen lässt und ob die zunehmende Erwärmung der Ozeane den Betrieb der Reaktoren in den VAE beeinträchtigen wird.
Sicherheitsexpert*innen warnen zudem vor der Möglichkeit, dass ein Atomkraftwerk als militärisches Ziel missbraucht werden könnte. Aufgrund der großen Menge an spaltbarem Material in den Reaktoren und Abklingbecken, ist ein Atomkraftwerk eine „in Beton gegossene schmutzige Bombe“. Ein Flugzeugabsturz über dem Reaktorkern, ein konventioneller terroristischer Anschlag, ein Hackerangriff, Sabotage oder ein Militärschlag könnten Unmengen von radioaktivem Material freisetzen und die wirtschaftlichen und politischen Zentren der Region mit einem einzigen Schlag nachhaltig destabilisieren.
Die offenkundig unzureichenden Vorkehrungen für ein solches Szenario sind umso beunruhigender, da erst 2019 militärische Angriffe auf saudische Ölraffinerien die Verletzlichkeit der Energieinfrastruktur in der Region aufzeigten. Die VAE beteiligen sich militärisch auf der Seite Saudi Arabiens am Bürgerkrieg im Jemen und schiitische Houthi-Rebellen prahlen damit, bereits im Dezember 2017 eine ersten Raketenanschlag auf das noch im Bau befindliche Reaktorgebäude in Barakah durchgeführt zu haben. Die VAE geben zwar an, dass keine Huthi-Raketen ihr Staatsgebiet erreicht hätten, aber die Sorge um künftige Anschläge auf die Reaktoren, angereicherte Urantransporte oder Atommülllagerungsstätten sind verständlicherweise hoch.
Doch auch ohne drohende Anschläge stellen die Reaktoren in Barakah eine Gefahr für die Sicherheit und Stabilität in der Region dar. Im Mittleren und Nahen Osten gab es bislang lediglich zwei Staaten mit Atomprogrammen: im Iran produziert der russische Atomreaktor in Buschehr seit 2013 Strom, ein zweiter Reaktor ist seit 2019 im Bau. Es besteht weltweit die Sorge, dass das zivile Atomprogramm für militärische Zwecke genutzt werden könnte. Ein Paradebeispiel für die militärische Nutzung kommerzieller, bzw. wissenschaftlicher Atomprogramme ist der zweite Atomstaat in der Region: Israel besitzt bereits seit Anfang der 1960‘er Jahren einen funktionierenden Atomreaktor in der Negev-Wüste nahe Dimona. Offiziell als Forschungsreaktor deklariert, produzierte der Reaktor keinen kommerziellen Strom, sondern Plutonium für das israelische Atomwaffenprogramm. In der Türkei baut der russische Staatskonzern ROSATOM seit 2018 vier Atomreaktoren an der Mittelmeerküste in Akkuyu, an zwei weiteren Standorten gibt es vage Konstruktionspläne für Anschlussprojekte. Auch hier besteht die Sorge, dass die Türkei die Reaktoren für militärische Zwecke nutzen könnte. Die Pläne für 4 ROSATOM-Reaktoren in El Dabaa in Ägypten sind nicht weit gediehen. Im Irak und in Syrien wurden Atomreaktoren jeweils noch während der Bauzeit durch israelische Luftangriffe zerstört: 1981 der Osirak-Reaktor in der Nähe von Baghdad und 2007 ein geheimer Atomreaktor in der Region Deir ez-Zor im Osten Syriens. Man sieht also – die militärische und zivile Nutzung von Atomprogrammen sind in der Region historisch nie einfach zu trennen gewesen. Nun sind also die VAE zum dritten Atomstaat der Region geworden.
Die VAE geloben zwar in Abkommen wie der Nuklearen Kooperationsvereinbarung mit den USA von 2009 selbst keine Urananreicherung vorzunehmen, doch Experten befürchten dennoch ernsthafte Proliferationsrisiken durch den Aufbau einer umfangreichen atomaren Infrastruktur am Persischen Golf. Vom Transport über Lagerung und Sicherung bis hin zur Entsorgung des hoch-radioaktiven Urans gibt es zahlreiche Möglichkeiten, bei denen spaltbares Material in die falschen Hände gelangen könnte. Expert*innen attestieren den VAE unzureichende institutionelle Kapazitäten, um ihren vertraglich zugesicherten Verpflichtungen bezüglich der radioaktiven Materialien nachzukommen.
Das Land ist außerdem traditionell ein wichtiger Transitpunkt für illegale Transaktionen in der Region. Die VAE sollen Berichten zufolge Hunderte von Scheinfirmen und ausländischen Handelsagenturen beherbergt haben, die aktiv Dual-Use-Güter für Unternehmen in sanktionierten Ländern beschafften. Gerade Dubai spielte eine wichtige Rolle als Knotenpunkt für das Netzwerk des pakistanischen Atomdealers A.Q. Khan, der Nukleartechnologie an Länder wie Iran, Libyen und Nordkorea lieferte.
Der britische Atomexperte Dr. Paul Dorfman befürchtet zudem, dass die VAE sich entgegen aller internationalen Verträge mit ihrem zivilen Atomprogramm die Option auf die Bombe offenhalten wollen – vor allem angesichts eines möglichen Rüstungswettlaufs mit dem Iran und seinen Verbündeten auf der einen und den US-Alliierten Saudi Arabien, Bahrain, den VAE und ggf. sogar Israel auf der anderen Seite. Auf die Frage, weshalb die VAE trotz aller Bedenken bezüglich Effizienz, Sicherheit, ökologischer Folgen und trotz der offensichtlich wirtschaftlich viel attraktiveren erneuerbaren Alternativen so massiv in Atomtechnologie investieren, antwortet Dorfman: „Es ist der falsche Reaktor am falschen Ort zur falschen Zeit. Die Motivation, so etwas zu bauen, mag im Offensichtlichen verborgen liegen. Sie erwägen ernsthaft die Entwicklung von Atomwaffen.“
veröffentlicht am 13.9.2020 auf deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)