Rail Baltica
Die militärisch-geopolitische Dimension eines EU-Eisenbahnprojektes
Eines der aktuell prominentesten – und kostspieligsten – Infrastrukturprojekte der Europäischen Union ist die „Rail Baltica“. Dahinter verbirgt sich der Plan, eine Schnellbahntrasse von Tallinn über die baltischen Staaten bis nach Polen zu legen und damit auch an das restliche westeuropäische und nicht zuletzt deutsche Netz anzubinden. Nachdem die ersten Pläne viele Jahre zurückreichen, ist es auffällig, dass gerade in jüngster Zeit wieder Schwung in das Projekt kam: „Die Rail Baltica galt als vorrangiges Bahnprojekt der EU. Doch jahrelang passierte nichts. Nun wird Megaprojekt in Angriff genommen“, schrieb etwa die taz im März 2020.[1]
Weder dieser noch die meisten anderen Berichte über das Projekt erwähnen allerdings, weshalb es in jüngster Zeit mit der Rail Baltica wieder recht flott vorangeht: Weil es ein wichtiges Puzzlestück für die „Militärische Mobilität“ zur schnellen Verlegung von Truppen und Material an die russische Grenze darstellt, ein Pfund, mit dem die Anrainer inzwischen auch offen um Gelder werben.
EU-Mammutprojekt
Mit der Rail Baltica soll eine 870 Kilometer lange Schnellbahntrasse entstehen, die Tallinn (Estland), Riga (Lettland) und Kaunas (Litauen) mit Warschau (und daran anknüpfend Berlin) mittels westeuropäischer Spurbreite verbinden und elektrifizieren soll. Die Fertigstellung ist reichlich optimistisch für das Jahr 2026 geplant[2], zum selben Zeitpunkt soll auch ein 100 Kilometer langer Ostseetunnel fertiggebaut sein, mit dem eine Anbindung an Helsinki gewährleistet wäre. Die Trasse soll ein deutlich höheres Fahrttempo ermöglichen[3] und auch das bisher erforderliche Umspuren von der in den baltischen Staaten bislang üblichen russischen Breitspur auf die ansonsten gängige Normalspur an der polnischen Grenze würde dann entfallen.[4] Dadurch soll sich die Fahrtzeit auf der gesamten Strecke deutlich reduzieren – Schätzungen gehen für die Strecke von Berlin nach Tallinn zum Beispiel von weniger als der Hälfte der Zeit aus.[5]
Die Trasse gilt als Kernstück zur infrastrukturellen Anbindung der gesamten Region an Westeuropa und wurde inzwischen zu einer Priorität der Europäischen Union erklärt: „Die Gesamtbaukosten werden auf 5,79 Milliarden Euro geschätzt, wovon die Europäische Union 4,634 Milliarden, also 80 Prozent, tragen soll. Rail Baltica ist das Hauptprojekt im so genannten Nord-Ostsee-Korridor im Rahmen der EU-Politik der transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V).“[6]
Geworben wird für das Vorhaben unter anderem damit, dass es eine spürbare Zunahme des Personen- und Güterverkehrs bewirken soll.[7] Nachdem allerdings schon seit mindestens 2004 konkret versucht wurde, das Projekt auf die Schiene zu setzen, es aber erst in den letzten Jahren seitens der Europäischen Union vorangetrieben wird, liegt die Vermutung nahe, dass dies auch mit dem rapide verschlechterten Verhältnis zu Russland zu tun haben könnte. Ein erstes Motiv dürfte dabei die symbolträchtige Abwicklung der russischen Spurbreite darstellen, wodurch ein Beitrag geleistet würde, die ‚Gebietsgewinne‘ der Europäischen Union infrastrukturell zu konsolidieren. Schließlich diene das Projekt „vorrangig der Integration der baltischen EU-Staaten in das europäische Eisenbahnnetz“, die alte Spurbreite sei dagegen ein Relikt für die „historische Anbindung an Russland.“[8]
Doch von der Trasse verspricht man sich noch einen deutlich handfesteren „Nutzen“, wie Aussagen aus dem Jahr 2018 belegen, als entscheidende Schritte zur Realisierung des Projektes und seiner Querfinanzierung durch die Europäische Union unternommen wurden. Damals gab Catherine Trautmann, die Europäische Koordinatorin für den transeuropäischen Verkehrskorridor Nordsee-Ostsee, an, eine Finanzierung der Rail Baltica sei durchaus auch über den kurz zuvor erstmals für den EU-Haushalt 2021 bis 2027 vorgeschlagenen Budgettitel „Militärische Mobilität“ möglich (siehe dazu auch den Beitrag von Victoria Kropp in dieser Ausgabe).[9]
Eisenbahn und Geopolitik
Transportmittel galten und gelten als elementare Machtmittel, weshalb sie auch in den Überlegungen prominenter Geopolitiker stets eine wichtige Rolle einnehmen. Lange wurden Schiffe als wichtigstes Verkehrsmittel erachtet und demzufolge in Seemächten – allen voran dem British Empire – als die dominierenden Akteure auf der Weltbühne gesehen. Am prominentesten vertrat diese Sicht Alfred Thayer Mahan (1840-1914) mit seinem bekanntesten Werk „The Influence of Sea Power upon History”.
Doch allmählich drehte sich der Wind, neue Transportfahrzeuge, insbesondere die Eisenbahn, schmälerten die Bedeutung der Seemächte immer weiter. Bereits 1904 fasste der britische Geograf Halford Mackinder diese Entwicklung und die daraus folgenden Konsequenzen in seinem Aufsatz „The geographical pivot of history“ zusammen: „Noch vor einer Generation schienen Dampfkraft und Suezkanal die Mobilität der Seemacht relativ zur Landmacht erhöht zu haben. Eisenbahnen dienten in der Hauptsache der Beschickung des Überseehandels. Heute jedoch verwandeln transkontinentale Eisenbahnen die Bedingungen der Landmacht von Grund auf, und nirgendwo sonst können sie eine solche Wirkung haben, wie im geschlossenen Herzland Eurasiens […].“[10]
Bis heute verfügt die Eisenbahn gegenüber anderen Verkehrsmitteln in bestimmten Situationen über einige Vorteile: Ein durchschnittlicher militärischer Gütertransport kann beispielsweise bis zu 120 gepanzerte Fahrzeuge aufnehmen – weniger zwar als ein Schiff, aber weit mehr als ein Flugzeug.[11] Gegenüber dem Schiff haben Bahntransporte wiederum erhebliche Geschwindigkeitsvorteile – ebenso wie gegenüber einem direkten Transport auf der Straße, der in der Regel 35km/h nicht überschreitet. Außerdem sind Bahntransporte die kostengünstigste der diversen Optionen.[12]
Rail Baltica: Militärische Nutzung
Die zuvor beschriebenen ‚Vorteile‘ militärischer Gütertransporte greifen besonders vor dem Hintergrund der aktuellen NATO-Planspiele gegen Russland. Deren Kern besteht in dem Ziel, bei Bedarf binnen kürzester Zeit große Truppen- und Gütermengen an die russische Grenze verlegen zu können.[13] Aufgrund der langen Fahrzeit und des aufwändigen Umspurens an der polnisch-litauischen Grenze bleiben hierfür bislang nur die aus NATO-Sicht suboptimalen Optionen, per Flugzeug in Riga anzulanden oder über die Ostsee diverse baltische Häfen anzulaufen. Während die erste Option kostspielig und vom Umfang her limitiert ist, dauert der Seeweg länger und muss vor allem die russische Enklave Kaliningrad umschiffen. Dort soll Russland – zumindest nach NATO-Angaben – aber Kurzstreckenraketen in einem Umfang stationiert haben, dass es im Ernstfall den Seeweg zu den baltischen Staaten abschneiden könnte.[14]
Mit der Rail Baltica würden all diese Probleme buchstäblich umfahren, weshalb der diesbezügliche ‚Wert‘ des Projektes auch immer offener betont wird. So wurde die Bedeutung der Schnellbahntrasse für die „Militärische Mobilität“ unter anderem in einer gemeinsamen Stellungnahme der drei baltischen Premierminister im Dezember 2019 hervorgehoben. Darin wird die „Synergie zwischen zivilen und militärischen Verkehrsanforderungen begrüßt“ und „betont“, dass die Rail Baltica „sehr wichtig für die Verteidigungsfähigkeiten und die regionale Sicherheit ist.“[15]
Im selben Monat wurde auf einem litauischen Nachrichtenportal über die Anbahnung von Gesprächen mit weiteren NATO-Staaten für eine militärische Nutzung der Trasse berichtet: „In Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium wird ein Dialog mit NATO-Partnern über die Nutzung der Rail-Baltica-Infrastruktur für die Militärische Mobilität abgehalten und die Optionen für den Transport militärischen Geräts nach Kaunas evaluiert.“[16] Im Juni 2020 räumte dann auch der Kommandeur des Allied Joint Force Command (JFC) der NATO in Brunssum, Jörg Vollmer, die militärische Dimension des Projektes offen ein: „Es handelt sich um ein ziviles, nicht um ein militärisches Projekt, aber es wird für beide Zwecke von Vorteil sein. Es wird beiden Seiten dienen, da sich das Projekt sowohl vorteilhaft auf die Wirtschaft als auch das Militär auswirken wird.“[17]
Dass eine machtpolitisch-militärische Dimension bei der Rail Baltica schon länger mitgedacht wurde, zeigt unter anderem auch, dass bereits im Jahr 2016 über eine mögliche Anbindung der Ukraine spekuliert wurde.[18] Auch die über Abzweigungen geplante – oder zumindest intensiv diskutierte – Anbindung der Rail Baltica an die Militärbasen der „Enhanced Forward Presence“ der NATO – je ein Bataillon (1.000 Soldaten) in jedem der baltischen Staaten und Polen – spricht Bände: „Das lettische Verteidigungsministerium setzt sich für den Bau eines Anschlussgleises von der Rail Baltica zu einem Militärgelände ein. Die Stichbahn soll in Ādaži nordöstlich von Riga abzweigen.”[19] Ādaži ist der Stützpunkt der lettischen NATO-Battlegroup unter kanadischer Führung. Auch für das litauische Rukla, wo ein weiteres NATO-Bataillon, hier unter deutscher Führung, stationiert ist, scheint es Planspiele zu geben, den Militärstandort über eine Abzweigung direkt an die Rail Baltica anzubinden.[20]
Die Logistik des Neuen Kalten Krieges
Die militärisch-geopolitische Dimension der Rail Baltica liegt auf der Hand und wird auch teils offen angesprochen. Nüchtern betrachtet ist es sogar recht wahrscheinlich, dass die Schnellbahntrasse überhaupt nicht realisiert würde, wenn sie nicht als integraler Bestandteil der Logistik des Neuen Kalten Krieges erachtet würde: „Nach Fertigstellung verspricht die Rail Baltica zur Sicherheit der drei baltischen Staaten beizutragen, indem die Militärische Mobilität und Logistik alliierter Truppen bei Bemühungen zur Verlegung von ihren Basen in Polen und Deutschland in die Region vereinfacht wird.“[21]
Anmerkungen
[1] Wolff, Reinhard: Schnelle Bahn ins Baltikum, taz.de, 5.3.2020.
[2] Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass 2026 als Termin zur Fertigstellung eingehalten wird. Bereits im Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1723 der Kommission vom 26. Oktober 2018 über das grenzüberschreitende Projekt ‚Rail Baltica‘ im Nord-Ostsee-Kernnetzkorridor (Bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2018) 6969) wird bereits ein anderes Datum eingeführt: „Nach diesem Arbeitsplan soll das grenzüberschreitende Projekt ‚Rail Baltica‘ zum frühestmöglichen Zeitpunkt, in jedem Fall aber bis 2030 betriebsbereit sein.“
[3] „Die insgesamt 870 km lange, elektrizitätsbetriebene Strecke soll sowohl für den Personen- (max. 249 km/h) als auch den Güterverkehr (max. 120 km/h) ausgelegt werden.“ (Hesse, Fabian: Infrastrukturgroßprojekt Rail Baltica erschließt baltische Staaten, bauingenieur24.de, 3.6.2020)
[4] Wolff 2020.
[5] Nikers, Olevs: Baltics to Build Stronger Logistics Within the EU and NATO, Eurasia Daily Monitor, Volume: 13 Issue: 168, 19.10.2016.
[6] Hesse 2020. Andere Quellen wie zum Beispiel der oben bereits erwähnte EU-Durchführungsbeschluss aus dem Jahr 2018 geben sogar einen EU-Anteil von bis zu 85 Prozent an.
[7] „Trotz drei- bis vierjähriger Verspätung bei der Designphase wird offiziell immer noch das Jahr 2026 für eine Fertigstellung des gesamten Projekts angepeilt. Alle zwei Stunden soll es dann eine schnelle Verbindung zwischen den baltischen Hauptstädten und den größeren Orten an der Strecke geben, viermal täglich bis nach Warschau. Und man hofft einen großen Teil des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene verlagern zu können.“ (Wolff 2020)
[8] Hesse 2020.
[9] Statement by Catherine Trautmann, North-Sea Baltic TEN-T Corridor Coordinator, Brüssel, railbaltica.org, 6.6.2018.
[10] Zitiert nach LETTRE INTERNATIONAL 120, LitteratA, mironde.com, 11.5.2018.
[11] Nikers 2016.
[12] Nikers, Olevs/Tabuns, Otto (Hg.): Baltic Security Strategy Report, Washington 2019, S. 157.
[13] Siehe zu den NATO-Überlegungen mit Blick auf Auseinandersetzungen mit Russland Wagner, Jürgen: Großmanöver Defender 2020. Mit Tempo in den Neuen Kalten Krieg, in: AUSDRUCK (März 2020), S. 31-34.
[14] Howard, Glen: Enabling Deterrence: U.S. Security Policy Toward the Baltic, in: Sprūds, Andris/Andžāns, Māris (Hg.): Security of the Baltic Sea Region Revisited amid the Baltic Centenary, The Rīga Conference Papers 2018, S. 83-98, S. 94., baltdefcol.org.
[15] Joint Statement Prime Ministers’ Council of the Baltic Council of Ministers, Riga, mk.gov.lv, 6.12.2018.
[16] The aim of the Baltic States is rapid and coordinated implementation of the “Rail Baltica” project, Lithuania Ministry of Transport and Communications, 6.12.2019.
[17] NATO JFC commander: Rail Baltica will improve military mobility, baltic-course.com, 25.6.2020.
[18] Nikers 2016.
[19] Rail Baltica: Lettland will Anschluss einer Militärbasis, eurailpress.de, 2.7.2020.
[20] Identifying future scenarios of transport development along Tallinn –Riga –Kaunas corridor, März 2019, uudenmaanliitto.fi.
[21] Nikers, Olev: Rail Baltica Moves Ahead but Suffers From Major Construction Delays, Eurasia Daily Monitor, Volume 17 Issue 97, 6.7.2020.
Veröffentlicht am 15. September 2020 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)
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