Rüstung in Zeiten der Pandemie

Ungeachtet der Corona-Krise schießen die Rüstungshaushalte in vielen europäischen Ländern durch die Decke

Schon zu Beginn der Pandemie wurden in nahezu allen europäischen Ländern leidenschaftliche Appelle platziert, die Rüstungsausgaben dürften jetzt bloß nicht als Kollateralschäden der Krise enden. Nahezu überall herumgereicht wurde beispielsweise ein in Deutschland in der FAZ unter dem Titel „Europas Verteidigung sollte nicht Opfer des Lockdowns sein“ erschienener Beitrag, der gleich von einer ganzen Reihe prominenter Militärpolitiker verfasst wurde:

„Mit einem Rückgang des BIP im Jahr 2020, der auf EU-Ebene zwei- bis dreimal so hoch sein könnte wie nach der Krise von 2008, besteht die Gefahr, dass die Verteidigung bei der wirtschaftlichen Erholung und der Haushaltskonsolidierung bei den europäischen Staats- und Regierungschefs nicht als Priorität wahrgenommen wird. […] Wir müssen die Lehren aus den Folgen der Krise im Euro-Währungsgebiet ziehen und dürfen unsere Fehler aus der Vergangenheit jetzt nicht wiederholen.“

Heute, ziemlich genau ein halbes Jahr später, können die besorgten Rüstungsfans aufatmen – nicht nur kamen die meisten europäischen Militärbudgets bislang weitgehend ungeschoren davon, in einer ganzen Reihe von Ländern schießen sie sogar ganz ungeachtet der aktuellen Krise regelrecht durch die Decke.

Rüstungsboom in Schweden und Italien

Ein besonders schillerndes aktuelles Beispiel ist Schweden, von dem man eigentlich meinen sollte, das Land habe derzeit andere Probleme als einen zu niedrigen Rüstungshaushalt. Befeuert durch eine an Paranoia grenzende Angst vor Russland hat sich das Land bereits seit einigen Jahren einem konsequenten Aufrüstungskurs verschrieben (siehe Telepolis, 15. Mai 2019). Schon zwischen 2009 (38,751 Mrd. Kronen) und 2019 (55,969 Mrd. Kronen) stieg der schwedische Haushalt rasant um etwa 45 Prozent an – einen ähnlichen Sprung soll das Budget nun noch einmal in einer deutlich kürzeren Zeitspanne machen. Am 14. März 2020 wurde das Gesetz “Totalförsvaret 2021–2025“ (Totale Verteidigung 2021-2025) vorgelegt. Es sieht eine Vergrößerung der Armee von aktuell 60.000 auf 90.000 SoldatInnen und einen happigen weiteren Anstieg des Militärhaushaltes vor. Das Budget soll bis 2025 um weitere 40 Prozent (27,5 Mrd. Kronen, 2,65 Mrd. Euro), was der sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist stolz mit den Worten kommentierte, es handele sich um die „größte prozentuale Erhöhung der Militärausgaben seit den 1950er Jahren.“

Ein weiterer Kandidat, dem nahegelegt werden sollte, sein Geld für sinnvollere Maßnahmen wie ein besseres Gesundheitssystem auszugeben, ist Italien. Doch auch dort werden schon seit einiger Zeit recht große Rüstungsbrötchen gebacken. Mit Großbritannien und Schweden entwickelt das Land derzeit ein hochmodernes Kampfflugzeug („Tempest“), das dem deutsch-französischen Großprojekt („Future Combat Air System“) Konkurrenz machen soll (siehe Telepolis vom 17. Oktober 2019). Mit Leonardo (früher: Finmeccanica) hat der zweitgrößte EU-Rüstungskonzern seinen Sitz in Italien (Umsatz 2019: 111 Mrd. Dollar) und auch dahinter verfügt das Land über einige Schwergewichte. So macht zum Beispiel „Navaris“, ein seit November 2019 existierendes Joint Venture, das zu gleichen Teilen der französischen Naval Group und der italienischen Fincantieri gehört, erfolgreich ThyssenKrupp Marine Systems die Geschäfte streitig.

So verwundert es auch nicht sonderlich, dass selbst während der in der ersten Welle in Italien besonders heftig wütenden Corona-Krise der Rüstungsindustrie weiter der rote Teppich ausgerollt wurde. Per Regierungsdekret wurde festgelegt, dass zur Eindämmung der Pandemie nur lebensnotwendige Güter produziert werden dürften – und dazu wurde auch die Rüstungsindustrie gezählt. Das brachte unter anderem die Bischöfe der Regionen Piemont und Aostatal auf die Palme, die die Entscheidung der Regierung scharf kritisierten:

„Wir sagen Nein zur Herstellung von Waffen, besonders in dieser Zeit, in der Werkzeuge und Ausrüstung für das Leben und nicht für den Tod benötigt werden. […] Wie viele Krankenhausbetten könnten mit den Kosten eines einzigen Kampfflugzeugs beschafft werden?“

Beeindruckt hat dies Ministerpräsident Giuseppe Conte augenscheinlich wenig: Ende Oktober wurde angekündigt, der Militärhaushalt werde 2020 um nahezu 10 Prozent steigen. Der Haushalt für dieses Jahr hätte ursprünglich im Frühjahr veröffentlicht werden sollen, wurde aber coronabedingt verschoben. Natürlich wird dies auch nicht zum Schaden der Rüstungsindustrie sein, der das Budget steigt auf 15,3 Mrd. Euro (2019: 14 Mrd.), wobei das Beschaffungsbudget mit einer Erhöhung um 26 Prozent den Löwenanteil abbekommt.

Deutschland: Rüstungsvorbild

Augenscheinlich konnte die Coronakrise den Rüstungshaushalten bislang zumindest noch nicht allzu viel anhaben – leider hinkt die Europäische Verteidigungsagentur mit ihren Daten chronisch der Zeit hinterher (die aktuellsten Zahlen liefert sie derzeit für 2018), aber die NATO hat kürzlich ihre Schätzungen für 2020 veröffentlicht: Demzufolge geht das Bündnis davon aus, dass die europäischen NATO-Staaten in diesem Jahr auf Militärausgaben in Höhe von 307 Mrd. Dollar kommen werden (zum Vergleich, 2015 waren es noch 255 Mrd. Dollar).

Noch im September 2020 warnten Sophia Becker und Torben Schütz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) aufgeregt im Tagesspiegel, die bisherige „positive Dynamik“ in Sachen Militärausgaben drohe „durch die Auswirkungen von Covid-19“ womöglich „zum Stillstand zu kommen oder sogar umgekehrt zu werden.“ Besonders schwierig könnte es in „südeuropäischen Ländern wie Italien und Spanien“ werden, dort könnten die „Verteidigungsbudgets stark unter Druck geraten“, so die DGAP-AutorInnen. Ihre Lösung: Deutschland solle als leuchtendes Rüstungsvorbild vorangehen und so ein Zeichen gegen sinkende Militärausgaben setzen:

„Deutsche Haushaltsentscheidungen haben also schon länger europäische Konsequenzen – auch im Verteidigungsbereich. Dass der deutsche Verteidigungshaushalt seit 2014 wächst, hat die Europäisierung erst möglich gemacht. […] Der Verteidigungshaushalt sollte gleich hoch bleiben oder wachsen. Deutschland hat jetzt die Chance, seinen eigenen Ansprüchen zu genügen und das zu tun, was seine europäischen Partner erwarten: Führen durch Vorbild.“

Die deutschen Haushaltsentscheidungen scheinen in diesem Sinne gewirkt zu haben – Italien erhöhte, wie beschrieben, seinen Haushalt in diesem Jahr und auch das spanische Budget stieg von 11,2 Mrd. Dollar im Jahr 2019 auf aktuell 12,9 Mrd. Dollar an – von Kürzungen im kommenden Jahr war bislang ebenfalls nichts zu vernehmen.

Jedenfalls kam Deutschland bislang den Erwartungen von Rüstungsindustrie und Militärstrategen in Sachen Haushalt vollumfänglich nach: das Budget stieg von 24,3 Mrd. Euro (2000) auf 43,2 Mrd. (2019) deutlich an. Für 2020 waren dann 45,1 Milliarden Euro eingestellt, allerdings hätte der Haushalt dann im kommenden Jahr sinken sollen – doch dann kam das Corona-Paket der Bundesregierung. Darin wird auch die Bundeswehr üppig bedacht, sie profitiert von 500 Mio. Euro, die für ein Bundeswehr-Cyberzentrum und von 3,73 Mrd., die für vorgezogene Investitionen ausgelobt wurden. Im Mitte Oktober erschienenen Finanzplan des Bundes sind die Auswirkungen auf den Militärhaushalt nachzulesen – von Kürzungen ist darin trotz Corona keine Rede mehr, ganz im Gegenteil: „Im Entwurf des Bundeshaushalts 2021 sind im Einzelplan des BMVg Ausgaben von über 45,6 Mrd. € veranschlagt, damit liegen die für das Jahr 2021 vorgesehenen Ausgaben rd. 1,6 Mrd. € über dem bislang geltenden Finanzplan. […] Hinzu kommen rd. 3,73 Mrd. € zusätzliche Mittel aus dem Konjunktur- und Zukunftspaket bis zum Jahr2024 (davon rd. 1,2 Mrd. € in 2021)“.

Die deutsche Rüstungsindustrie reibt sich die Hände: Ähnlich wie in Italien war sie kaum von der Krise betroffen, wie eine ausführliche Untersuchung der „Foundation pur la recherche strategique“ ergab. Weder seien im großen Stil Schließungen aufgrund umfassender Infizierungen noch wegen Nachfrageeinbrüchen erforderlich gewesen. Kein Wunder also, dass sich die Rüstungsindustrie – sogar als sich die Coronakrise bereits deutlich abzuzeichnen begann – vor „rosigen“ Zeiten wähnte. So hieß es noch Anfang März 2020 in der Welt: „Die Rüstungsindustrie boomt wie selten zuvor. Auch Deutschlands größter Militärausrüster Rheinmetall profitiert vom dringenden Nachholbedarf der nationalen Armeen. Sogar das Sorgenkind Bundeswehr verspricht lukrative Aufträge. […] Der seit 2013 amtierende Rheinmetall-Chef Armin Papperger hat dafür eine Erklärung. Der Konzern profitiere als international tätiger Systemanbieter ‚vom ‚Super-Zyklus‘ im wehrtechnischen Geschäft‘.“

Verantwortungslose Subventionen

In einer Krise derartigen Ausmaßes wie wir sie aktuell erleben, der Rüstungsindustrie den roten Teppich auszurollen, ist unverantwortlich. Friedenspolitisch hat das militärische Säbelrasseln der letzten Jahre lediglich die Konflikte mit Russland (und zunehmend mit China) weiter verschärft. Auch die „Erfolge“ der westlichen Militärinterventionen im Globalen Süden sollten nahelegen, von derlei Unterfangen künftig weit Abstand zu nehmen. Ein erfrischend kritischer Kommentar in der taz gab dazu kürzlich an:

„Wer heutzutage nach Argumenten gegen eine militärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder sucht, muss sich nicht mehr auf Pazifismus berufen. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte liefern allen Grund, Interventionen mit höchster Skepsis zu betrachten […]. Wären Fakten von Bedeutung, müsste es heute leichter sein, gegen Waffengänge zu plädieren. Dennoch ist das Nein geächtet.“

Doch auch wer andere Gründe für hohe Rüstungsausgaben heranzieht, befindet sich auf dem Holzweg. So sind die gerne auch von Teilen der Gewerkschaften immer wieder mal bemühten Bilder der „Jobmaschine Rüstungsindustrie“ ebenso falsch wie das Gerede von der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Branche. Das Costs-of-War-Project der Brown University errechnete beispielsweise, dass mit einer Milliarde Dollar Staatsausgaben in keinem gesellschaftlichen Bereich weniger Stellen geschaffen würden wie in der Rüstungsindustrie: Dort wären es 11.200, während im Bildungsbereich 26.700 oder etwa im Gesundheitswesen 17.200 Arbeitsplätze geschaffen würden. Und auch die volkswirtschaftliche Bedeutung der Branche ist überschaubar: Die gesamte europäische Rüstungsindustrie setzte nach Eigenangaben im Jahr 2019 gerade einmal 107 Mrd. Euro um – deutlich weniger als beispielsweise die Allianz (2019: 130 Mrd. Euro).

Wie man es dreht und wendet, Rüstungsausgaben sind unnötig wie ein Kropf – und in Zeiten einer globalen Pandemie sogar über die Maßen unverantwortlich. Die Internationalen Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges rechneten vor einiger Zeit vor, was allein mit den Geldern, die für die anvisierte Anschaffung von für Atomwaffen „geeigneten“ Kampfflugzeugen vorgesehenen sind, alles beschafft werden könnte:

„Würde man also diese angenommenen 7,46 Mrd. Euro ins deutsche Gesundheitssystem investieren, könnte man damit in einem Jahr 100.000 Intensivbetten, 30.000 Beatmungsgeräte sowie die Gehälter von 60.000 Krankenpfleger*innen und 25.000 Ärzt*innen finanzieren.“

Veröffentlichung am 2.11.2020 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)