Vision Reserve 2032+
Seit gut fünf Jahren befindet sich die Bundeswehr auf Aufrüstungskurs. Zudem wurden in den letzten Jahren die strategischen Prioritäten deutlich verschoben. Nach über einem Jahrzehnt der Fokussierung auf Auslandseinsätze wurde mit der Konzeption der Bundeswehr 2018 eine andere Richtung eingeschlagen. Die Landes- und Bündnisverteidigung, also die Fähigkeit einen Krieg gegen einen militärisch gleichwertigen Gegner an den Grenzen des NATO-Gebietes führen zu können, wurde zum strukturgebenden Merkmal der Reformpläne der Bundeswehr erklärt.
Nach einer Phase der Schrumpfung und der Anpassung an die Bedarfe der Auslandseinsätze rückt die Reserve mittlerweile wieder in den Fokus der Aufrüstungspläne und steht vor einer grundlegenden Reorganisierung. „Die Landes- und Bündnisverteidigung ist ohne eine starke Reserve nicht vorstellbar. Den Reservistinnen und Reservisten kommt also eine Schlüsselrolle zu“, lässt sich Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in einer Videobotschaft zur Jahrestagung der Reserve 2020 zitieren.[1] Um diesen Auftrag erfüllen zu können soll die Reserve personell deutlich aufgestockt werden, eine professionelle Ausbildung erhalten und flächendeckend mit eigenem Material ausgestattet werden. Zudem ist geplant, mit der Einführung einer sogenannten Grundbeorderung den Zugriff auf ehemalige Soldat*innen für den Einsatz in der Reserve deutlich zu erhöhen.
Zu Hochzeiten Mitte der 1980er Jahre konnte die Bundeswehr auf 495.000 aktive Soldat*innen (inkl. Grundwehrdienstleistende) und rund 800.000 Reservist*innen zurückgreifen. Während die aktiven Kampftruppen im Kriegsfall unter Führung der NATO unmittelbar an die Front gezogen wären, hätte das größtenteils aus Reservist*innen bestehende Territorialheer unter nationaler Führung einerseits die Kampftruppen mit Nachschub an Personal und Material unterstützt und andererseits die militärische Absicherung von Kasernen, verteidigungswichtiger ziviler Infrastruktur und Transportwegen im Hinter- bzw. Heimatland übernommen.
Mit Russland als neuem/altem Feind der deutschen Militärs orientieren sich die aktuellen Aufrüstungspläne, angepasst an die neue geopolitische Lage, an eben diesen Strukturen der Bundeswehr aus dem letzten Kalten Krieg.
Strategie der Reserve
Die Eckpunkte der geplanten Aufrüstung wurden im Oktober 2019 in der Strategie der Reserve mit dem Untertitel „Vision Reserve 2032+“ festgeschrieben[2] Die Umsetzungspläne der Strategie orientieren sich am Fähigkeitsprofil der Bundeswehr von 2018, das einen Aufrüstungsfahrplan bis zur Kriegsfähigkeit der Bundeswehr ab 2032 vorzeichnet. Darin heißt es: “Die Nationale Ambition 2032 ist nur unter Berücksichtigung einer im Umfang ambitionierten, einsatzbereiten und verfügbaren Reserve realisierbar.”[3]
Konkretisiert und in Arbeitsaufträge übersetzt werden die Vorgaben der Strategie der Reserve in einer im Oktober 2020 erlassenen „Weisung für die Reservistenarbeit in den Jahren 2020-2022“. Hier wird die Sprache noch deutlicher: Der Auftrag der Reserve im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung sei es, die „Aufwuchsfähigkeit“, Verstärkung der „Einsatzbereitschaft und Erhöhung der Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr“ sicherzustellen. Das „bedeutet im Kern, dass wir die Reserve in die Lage versetzen müssen, im Gefecht zu bestehen.“[4]
In der Weisung ist vorgesehen, bis Ende 2023 die Planung der künftigen Strukturen der Reserve „zur Sicherstellung des Aufwuchses und Gewährleistung der Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte“ und die Entwicklung der „Verfahren zum Aufwuchs in der Krise“ abgeschlossen zu haben. Zudem soll die Grundbeorderung von ausscheidenden Soldat*innen und die entsprechende Ausbildung, sowie die Aufstockung des Materials der Reserve begonnen haben.
In einem zweiten Schritt sollen bis Ende 2027 die geplanten Strukturen aktiviert und mit ausgebildetem Personal bestückt sein. Zudem sieht die Planung vor, dass die Personalverwaltung der Bundeswehr bis dahin in die Lage versetzt wurde, im Rahmen der Wehrerfassung auf die beorderten Reservist*innen und ihre Personaldaten zugreifen zu können, um damit die Grundlagen für die Alarmierung der Reservist*innen im Bedarfsfall zu schaffen.
Als Zielgröße für Ende 2031 wird angestrebt, auf das gesamte Personal der Reserve zugreifen zu können und durch Ausbildung in regelmäßigen Zyklen die Einsatzbereitschaft sicherstellen zu können. Ausgestattet mit eigenem Material und Infrastruktur soll der Aufwuchs der Truppe im Kriegsfall gewährleistet werden.
Grundstrukturen der Reserve der Bundeswehr
Reservist*innen sind in Deutschland grundsätzlich alle Bundesbürger*innen, die älter als 18 und jünger als 65 Jahre alt sind, mindestens einen Tag in der Bundeswehr gedient haben, ohne gravierende Vorfälle aus dem aktiven Dienst entlassen wurden und gesundheitlich weiterhin wehrdienstfähig sind.
Allgemeine Reserve: Die Allgemeine Reserve umfasst alle Reservist*innen, die keine besonderen Verpflichtungen gegenüber der Bundeswehr eingegangen sind. Schätzungen des Verteidigungsministeriums gehen von über 900.000 Bundesbürger*innen aus, auf die das zutrifft. Für die Bundeswehr dient die Allgemeine Reserve als Pool von Menschen, die im Spannungs- oder Verteidigungsfall für die mittel- und langfristige Aufstockung der Truppe einberufen werden können. Einige Reservist*innen aus der Allgemeinen Reserve nehmen in ihrer Freizeit an Aktivitäten des Reservistenverbandes teil, um sich militärisch fit zu halten. (Siehe Wagner; “Sprachrohr der Reserve?“)
Beorderung: Als Beorderung wird die Einplanung eine*r Reservist*in auf einen der aktuell rund 60.000 Reservedienstposten[1] innerhalb der Bundeswehr bezeichnet. Bisher müssen sich Reservist*innen dafür aktiv für einen Beorderungsdienstposten bewerben. Dann nehmen diese Reservist*innen, die ansonsten einem zivilen Job nachgehen, regelmäßig an Übungen und Fortbildungen der Bundeswehr teil, um sich für diesen Dienstposten fit zu halten. Die Beorderungsdienstposten werden in Personalreserve und Verstärkungsreserve unterteilt.
Personalreserve: Die Reservist*innen der Personalreserve dienen als Vertreter*innen von Führungskräften in der aktiven Truppe. Nach dem Prinzip des Spiegeldienstpostens wird eine Führungsposition sowohl mit eine*r aktiven Soldat*in, als auch mit eine*r gleichwertig ausgebildeten Reservist*in besetzt. Ist der/die aktive Soldat*in, z.B. wegen eines Auslandseinsatzes, nicht verfügbar, übernimmt der/die Reservist*in den Platz und führt die anfallenden Aufgaben in Deutschland fort.
Verstärkungsreserve: Die Verstärkungsreserve besteht neben Einzeldienstposten v.a. aus Reserveeinheiten, die in Friedenszeiten üben und im Spannungs- oder Verteidigungsfall alarmiert werden können. Diese Reserveeinheiten verstärken dann die aktiven Truppen und Strukturen und führen nach Einberufung im Kriegsfall zu einem schnellen Wachstum der Truppenstärke der Bundeswehr (Aufwuchs). Unterteilt werden die Reserveeinheiten der Verstärkungsreserve in die Truppenreserve und die Territoriale Reserve.
Truppenreserve: Die Truppenreserve setzt sich neben Einzeldienstposten zur Verstärkung aktiver Verbände (z.B. Schiffsbesatzungen) größtenteils aus Reservebataillonen und -kompanien zusammen, die wie Einheiten der aktiven (Kampf-)Truppen aufgebaut sind. Diese Reserveeinheiten unterstehen einer Brigade, oder einem Bataillon der aktiven Truppe, mit dem sie gemeinsam üben. Die dorthin beorderten Reservist*innen haben zuvor meist in dem Truppenteil gedient, in dem sie jetzt weiter einsatzbereit gehalten werden. Ein Großteil der aktuell über 40 Reserveeinheiten in der Bundeswehr ist im Bereich der Landstreitkräfte angesiedelt. Die Truppenreserve dient der kurz- und mittelfristigen Aufstockung der aktiven (Kampf-)Truppen.
Territoriale Reserve: Die Territoriale Reserve besteht ausschließlich aus Reserveeinheiten, die keine Entsprechungen in der aktiven Truppe haben. Sie unterstehen den Landeskommandos der Streitkräftebasis und sind für Verbindungs-, Wach-, Sicherungs- und Unterstützungsaufgaben innerhalb Deutschlands zuständig. Ein Teil ihres Aufgabenspektrums sind Einsätze bei Naturkatastrophen und Großunfällen in „Friedenszeiten“. Im Kriegsfall füllen sie die „Lücken“, die in Deutschland durch den Abzug der aktiven Truppen an die Front entstehen. Zum Schutz des „Rückwertigen Raumes“ bewachen sie Kasernen, Kritische Infrastruktur und Transportwege und sichern so auch den Aufmarsch weiterer NATO-Truppen auf ihrem Weg durch Deutschland militärisch ab.
[1] Kommando Heer: Die Reserve des Heeres, bundeswehr.de, April -2018.
Neue Aufgaben und Strukturen
Laut Strategie der Reserve erfordert die „Rückbesinnung auf die Landes-und Bündnisverteidigung […] eine Konzentration der Reserve auf ihren Kernzweck, den Aufwuchs und die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr zu gewährleisten.“[5] Kampfbereite Reserveeinheiten sollen künftig die aktive Truppe im Krisen- und Kriegsfall schnell aufstocken können und weitere Reservist*innen und (Zwangs-)Wehrdienstleistende zur Verfügung stehen, um einerseits die Heimatstandorte militärisch zu sichern und andererseits an der Front gefallene und verwundete Soldat*innen zeitnah zu ersetzen. Oder mit den Worten des Verteidigungsministeriums: „Im Verteidigungsfall müssen alle ran. […] Die meisten aktiven Soldatinnen und Soldaten werden an den Bündnisgrenzen eingesetzt sein und in Deutschland Lücken hinterlassen. Die Reserve ist daher wichtiger denn je und unverzichtbarer Bestandteil der Landes- und Bündnisverteidigung. Auf sie stützt sich im Kriegsfall ein Großteil der Aufgabenerfüllung im Inland.“[6]
Dementsprechend legt die Strategie der Reserve, im Gegensatz zur Ausrichtung der letzten 15 Jahre, in denen der Fokus auf der Personalreserve als Lückenfüller in der Heimat und dem Einsatz qualifizierter Reservist*innen in den Auslandskontingenten der Bundeswehr lag (siehe Rahmann; “Action, Urlaub, Job-Routine”), den klaren Fokus auf die Verstärkungsreserve. Für Auslandseinsätze quasi unbrauchbare eigenständige Reserveeinheiten der Truppenreserve wie Reservepanzerbataillone, Reserveeinheiten des Bodenpersonals der Luftwaffe oder der Bundeswehrkrankenhäuser werden für einen potenziellen Krieg in Europa wieder gebraucht.
Für das Heer, den größten Truppenteil der Bundeswehr, ist eine Aufstockung von aktuell 8.000 Soll-Dienststellen auf künftig 20.000 tatsächlich mit Personal bestückte Dienstposten in den Reserveeinheiten der Truppenreserve vorgesehen.[7] „Die Vorgaben des Fähigkeitsprofils“, bis 2032 drei voll einsatzbereite Heeredsdivisionen bereitstellen zu können, sind „nur mit einem Personalumfang von mindestens 60.000 aktiven Soldaten und 20.000 Verstärkungsdienstposten für die Truppenreserve realisierbar“, heißt es dazu aus dem Kommando Heer. Dafür sollen, neben weiteren Umstrukturierungen, die bestehenden Verbände der aktiven Truppe mit weiteren Reservebataillonen und -kompanien aufgestockt werden. Mit diesem Ausbau begonnen wurde beispielsweise bereits im Panzerbataillon 203 in Augustdorf, wo seit März 2020 eine neue Reservepanzerkompanie eingerichtet wird.[8] Wenn auch in geringerem Umfang, sind ähnliche Entwicklungen auch in der Streitkräftebasis, der Luftwaffe und der Marine, sowie im Sanitätsdienst zu beobachten. Einen eigenen Weg geht das Kommando Cyber- und Informationsraum, dass mit dem Konzept der Cyber-Reserve (Siehe Wagner; „ Die Cyber-Reserve der Bundeswehr“) qualifiziertes IT-Personal mit und ohne Bundeswehrerfahrung gewinnen will.
Ebenfalls für Auslandseinsätze weitestgehend irrelevant war die Option mit Reserveeinheiten den sogenannten „rückwertigen Raum“, also Kasernen und verteidigungswichtige Infrastruktur in Deutschland zu schützen. Eine Aufgabe, die im Kalten Krieg von den Heimatschutzverbänden der Territorialen Reserve übernommen wurde. Aktuell ist geplant eben diese Territoriale Reserve im Verantwortungsbereich der Streitkräftebasis, die 2007 auf einen historischen Tiefststand verkleinert wurde, wieder deutlich auszubauen. Bisher waren die eingeplanten knapp 9.000 Soll-Stellen der Territorialen Reserve zu weniger als der Hälfte tatsächlich mit Reservist*innen besetzt. Jetzt sollen die 437 Verbindungskommandos (Siehe Kirsch; „ Reservist*innen vor Ort“) wieder vollständig mit Personal bestückt werden. Zudem ist ein deutlicher Ausbau der Reserveeinheiten für Wach-, Sicherungs- und Unterstützungsaufgaben im Inland vorgesehen. Die Basis dieses Ausbaus bilden die 30 Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanien (RSUKp), die ab 2013 als Ersatz für die aufgelösten Heimatschutzbrigaden aufgestellt wurden.
Im Rahmen eines aktuell laufenden Pilotprojekts von Bundeswehr und Reservistenverband wurde 2019 ein Landesregiment Bayern aufgebaut.[9] Bis 2021 werden hier die drei fränkischen RSU-Kompanien mit einer Stabs- und Versorgungskompanie und einer Unterstützungskompanie aufgestockt. Das dann aus nur zehn aktiven Soldat*innen und fast 500 Reservist*innen bestehende Landesregiment soll nach 2007 erstmals wieder den eigenständigen Einsatz von Reserveeinheiten in Deutschland ermöglichen. Ausgerüstet mit eigenen Waffen, gepanzerten Fahrzeugen, LKW, Baggern und Radladern soll das Landesregiment künftig sowohl für Hilfseinsätze bei Naturkatastrophen in „Friedenszeiten“ als auch für die Bewachung von Kasernen und verteidigungswichtiger Infrastruktur in Krisen- und Kriegszeiten zur Verfügung stehen. Zudem könnte das Landesregiment im Rahmen des sogenannten Host Nation Support zur Absicherung und Unterstützung von NATO-Truppen anderer Staaten eingesetzt werden, die sich im Krisen- und Kriegsfall in Deutschland aufhalten, um von dort aus Richtung Osten an die Front zu ziehen.[10] Damit übernimmt das Landesregiment im Kern das Aufgabenspektrum der Heimatschutztruppe der Bundeswehr im Kalten Krieg. Nach Ablauf der Pilotphase 2021 soll entschieden werden, inwiefern das Konzept Landesregiment auch auf die anderen Bundesländer zu übertragen ist. Die bereits jetzt begonnene Aufstockung der RSU-Kompanien in Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern weist allerdings deutlich darauf hin, dass mit einer flächendeckenden Einführung von Landesregimentern zu rechnen ist. Der Reservistenverband träumte in den vergangenen Jahren bereits von 30.000 Reservedienstposten in den zu schaffenden Landesregimentern in allen 16 Bundeslänern.[11]
Mehr Personal und professionellere Ausbildung
Um die Masse dieser Reserveeinheiten auch tatsächlich mit Personal bestücken zu können, ist ein deutlicher Zuwachs an kurz- und mittelfristig aktivierbaren Reservist*innen geplant. Während im März 2019 noch 25.000 Beorderungsdienstposten[12] der Bundeswehr mit Reservist*innen besetzt waren, sind es mittlerweile 29.000.[13] Währenddessen wurde die Zahl der Soll-Dienstposten für die Reserve von 30.000 auf 60.000 verdoppelt. Aussagen über die Kapazitäten des zukünftig geplanten Personalmanagements für Reservist*innen lassen vermuten, dass in weiteren Schritten mit der Aufstockung auf bis zu 90.000 Reservedienstposten zu rechnen ist.[14] Andere Quellen sprechen sogar von geplanten Reservedienstposten im sechsstelligen Bereich.[15]
Einen Großteil dieser neuen Reservedienstposten will die Bundeswehr mit Hilfe der Einführung einer sogenannten Grundbeorderung füllen. Auf diesem Weg werden ab Oktober 2021, abgesehen von wenigen Ausnahmen, alle aus dem aktiven Dienst ausscheidenden Soldat*innen für einen Dienstposten in der Reserve eingeplant. Einen weiteren Weg v.a. neue Mannschaftsdienstgrade für die Reserve zu generieren hat die Verteidigungsministerin im Juli 2020 unter dem Projektnamen „Dein Jahr für Deutschland“ vorgestellt. Ab April 2021 soll der Freiwillige Wehrdienst im Heimatschutz beginnen. Besonders junge Erwachsene werden dann sieben Monate lang für den Job des Wach- und Sicherungssoldaten in der Territorialen Reserve ausgebildet. Daran anschließend verpflichten sie sich, aufgeteilt auf sechs Jahre insgesamt fünf weitere Monate Reservedienst zu leisten um sich militärisch fit zu halten.[16] In einer Art berufsbegleitendem Wehrdienst light sollen zudem bisher „Ungediente“ Berufstätige in Wochenendkursen zu künftigen Reservist*innen ausgebildet werden. Entsprechende Pilotprojekte laufen bereits in den meisten Bundesländern.[17] Bei dieser Form der Rekrutierung spielt der Bundeswehr in die Karten, dass sich die Territoriale Reserve, die explizit auch bei Naturkatastrophen in Deutschland eingesetzt werden kann, als eine Art Freiwillige Feuerwehr mit Schusswaffe und weniger als Aushilfssoldaten zur Bewachung von Kasernen und Verkehrswegen im Kriegsfall verkaufen lässt.
Um die Masse der Reservist*innen in den neuen Strukturen auch tatsächlich auf ein einsatzbereites Ausbildungsniveau zu bringen, ist vorgesehen, dass kein*e Soldat*in künftig die aktive Truppe verlässt, ohne in Reserveeinheiten der vorherigen Truppengattung, oder in der Territorialen Reserve einsetzbar zu sein. Hatte die Konzeption der Reserve von 2012 unter der Maßgabe „Reservisten bilden Reservisten aus“ noch versucht, die Ausbildungseinrichtungen der aktiven Truppe möglichst wenig mit Reserveübungen zu belasten, ist in der neuen Strategie der Reserve von einer „Professionalisierung“ der Reserveausbildung[18] die Rede – Zugriff auf Ausbilder*innen der aktiven Truppe inklusive. Ein flächendeckendes „System der Inübunghaltung“ soll dazu dienen, „Abholpunkte für die Krisenentwicklung“[19] sicherzustellen. Ziel ist es, alle Reservist*innen soweit fit zu halten, dass Reserveeinheiten spätestens nach einem halben Jahr Krisenübung in den Kampf geschickt werden können.[20]
Mehr Material und Infrastruktur
Bisher waren alle Reserveeinheiten an aktive Verbände angegliedert, von denen sie sich für Übungen und Einsätze Material leihen mussten. Die Strategie der Reserve gibt dazu eine neue Zielrichtung aus: „Truppenteile und Einzeldienstposten der Reserve benötigen – wie die aktiven Truppen auch – das für die Aufgabenerfüllung notwendige Material und eine passende Infrastruktur.“[21] Daher ist geplant, die Ergänzungstruppenteile und die Territoriale Reserve mit eigenem Großgerät (z.B. Panzern), Fahrzeugen und Waffen sowie persönlicher Ausrüstung, Munition und weiterem Verbrauchsmaterial auszustatten. Dafür muss der Materialbedarf der Reserve bei allen künftigen Rüstungsvorhaben der Bundeswehr eingeplant und die Menge der insgesamt zu beschaffenden Rüstungsgüter deutlich erhöht werden. Um die Reserve auch kurzfristig ausstatten zu können, soll übergangsweise auch auf „Substitute“ zurückgegriffen werden. So sieht die Weisung Reservistenarbeit beispielsweise vor, das Sturmgewehr G36, das in der aktiven Truppe in den nächsten Jahren ersetzt werden soll, als Übergangslösung zur Ausrüstung der Reserve einzuplanen.[22] Neben Material und Waffen mussten sich Reserveeinheiten bisher auch Kasernen, Unterkünfte und Übungsplätze der aktiven Truppe „ausleihen“. Auch in diesem Bereich wurde eine Kehrtwende beschlossen. Vor allem für die Ausbildung, aber auch in Form von angedachten Mobilisierungsstützpunkten ist vorgesehen, auch die Reserve mit eigener Infrastruktur auszustatten.[23]
Verschärfter Zugriff auf Reservist*innen
Um die beschriebenen Aufrüstungspläne für die Reserve umsetzen zu können, ist die Bundeswehr auf Zustimmung angewiesen. „Eine breite gesellschaftliche Akzeptanz bildet die Grundlage für eine starke Reserve”[24], wird in der Strategie der Reserve diesbezüglich angemerkt. Da es sich allerdings um Pläne handelt, die Bundeswehr in einem neuen Kalten Krieg wieder einsatzbereit und damit kriegsfähig zu machen, will sich die politische und die militärische Führung nicht allein auf Zustimmung und Freiwilligkeit verlassen. In den aktuellen Planungen für die Reserve werden weitestgehend in Vergessenheit geratene Regelungen des Soldatengesetzes, des Reservistengesetzes und des aktuell ausgesetzten Wehrpflichtgesetzes wieder aus der Mottenkiste gekramt. Zudem sollen Rechtsnormen und Dienstverordnungen in diesem Bereich an aktuelle Bedürfnisse der Truppe angepasst werden.
Zentrales Element des personellen Aufwuchses der Reserve ist daher die Einführung einer Grundbeorderung. Dazu heißt es in der Strategie der Reserve: Die Grundbeorderung „ist die grundsätzliche Einplanung […] aller wehrdienstfähig aus dem aktiven Dienst ausscheidenden Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in die Reserve für einen Zeitraum von sechs Jahren.“[25] Abgesehen von Ausnahmen wird damit der Zugriff auf rund 15.000 Soldat*innen, die jährlich die Bundeswehr verlassen, gesichert. Eingeplant auf sechs Jahre ergibt sich damit in Zukunft ein Potenzial von bis zu 90.000 Reservist*innen, mit denen die Bundeswehr, unabhängig von freiwilligen Reservedienstverhältnissen, rechnen kann. Für den Start der Grundbeorderung sieht die Weisung Reservistenarbeit den Oktober 2021 vor.[26] Eine im Personalumfang verdreifachte Reserve wäre damit bis Ende 2027 erreichbar. Diese 90.000 Reservist*innen könnten dann im Spannungs- oder Verteidigungsfall direkt auf bereits vorgeplante Dienstposten einberufen werden. In „Friedenszeiten“ bleibt der Reservedienst, also die Teilnahme an Übungen und Fortbildungen im Rahmen der Grundbeorderung, freiwillig.[27] Allerdings enthält die Strategie der Reserve auch den unmissverständlichen Hinweis, dass die grundbeorderten Reservist*innen nur durch aktive Teilnahme Einfluss darauf nehmen können, an welchem Ort und in welcher Funktion sie im Bereitschafts-, Spannungs- oder Verteidigungsfall dienstpflichtig wären.[28]
Auf den technisch-administrativen Aufwand für die Verwaltung der neuen Massen an Reservist*innen sind die dafür zuständigen Karrierecenter der Bundeswehr aktuell allerdings gar nicht ausgerichtet. Ihre Vorgängerorganisationen, die Kreiswehrersatzämter, waren noch in der Lage, sowohl die Wehrdienstverwaltung im Normalbetrieb als auch die Alarmierung von Reservist*innen im Spannungs- und Verteidigungsfall zu bewerkstelligen. Daher ist geplant, die Personalverwaltung der Bundeswehr in den kommenden Jahren deutlich aufzustocken und die entsprechende IT-Landschaft zu modernisieren. Zudem sollen die Karrierecenter nach Wünschen der Bundeswehr permanenten Zugriff auf die Meldedaten der grundbeorderten Reservist*innen aus den zivilen Meldebehörden erhalten, um deren Abrufbarkeit zu gewährleisten.[29] Als Ziel für die so ertüchtigten Personalverwaltungsstrukturen wird ausgegeben, dass sie nicht nur die neuen Anforderungen im Bereich der Reserve erfüllen können, sondern auch mit Planungen beginnen sollen, wie sie nach Wiedereinsetzung der Wehrpflicht im Spannungs-und Verteidigungsfall mit den Massen der dann Wehrpflichtigen umgehen würden.[30]
Weitere Planungen für den verschärften Zugriff auf Reservist*innen sind im Rahmen eines Bereitschaftsfalls in Krisensituationen vorgesehen. „Zur Gewährleistung der Reaktions- und Handlungsfähigkeit müssen bei Anbahnung einer Krise unbefristete Übungen von Reservistinnen und Reservisten aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Bereitschaftsdienst möglich sein“[31], lässt die Strategie der Reserve dazu verlauten. Grundlage dieser Planungen ist Artikel 6, Absatz 6 des Wehrpflichtgesetzes, der Reservist*innen zu dauerhaften Wehrübungen verpflichten kann.[32] Alle Reservist*innen würden dann in den geplanten Ausbildungs- und Mobilisierungsstützpunkten zusammengerufen, um sich – unter Androhung rechtlicher Zwangsmittel bei Verweigerung – für einen drohenden Krieg vorzubereiten.
Vielleicht noch deutlicher als Personalzahlen, materielle Rüstungspläne und neue Strukturen zeigen diese Zugriffsrechte auf aktive, ehemalige und künftige Soldat*innen sowie auf potenzielle Wehrpflichtige, dass der letzte Kalte Krieg sich momentan von einer überwunden geglaubten Erinnerung oder Erzählungen aus Geschichtsbüchern (dazu auch Seifert; „ Unbewusst Reserve“) zur modernisierten Blaupause für das kommende Jahrzehnt wandelt. Wie bereits vor 1989 sind auch die aktuellen Pläne der Bundeswehrführung, Kriegsbereitschaft bis 2032 zu erreichen, nur mit einer entsprechend einsatzbereiten Reserve möglich.
Anmerkungen
[1] Bundesministerium der Verteidigung, Ein Jahr Strategie der Reserve, 19.10.20, bmvg.de.
[2] Bundesministerium der Verteidigung, Broschüre: Strategie der Reserve 2019 – Vision Reserve 2032+, 18.10.19, bundeswehr.de.
[3] Strategie der Reserve 2019, S. 16.
[4] Bundesministerium der Verteidigung, Weisung für die Reservistenarbeitfür die Jahre 2020-2022, 09.10.2020, bundeswehr.de.
[5] Strategie der Reserve 2019, S. 13.
[6] Bundesministerium der Verteidigung, Broschüre: Auftrag Landes- und Bündnisverteidigung, Juni 2020, S. 19, bmvg.de.
[7] Bundeswehr, Benjamin Vorhölter, Welche Rolle spielt die Reserve im Plan Heer?, 23.10.2020, bundeswehr.de.
[8] Westfalen-Blatt, Das Panzerbataillon 203 in Augustdorf sucht für seine Kompanie weitere Soldaten – IHK-Chef führt Reservisten an, 04.03.2020, westfalen-blatt.de.
[9] IMI-Analyse 2019/07, Experiment Landesregiment Bayern – „Nationale Reserve“ als eigenständige Truppe für Inlandseinsätze?, Martin Kirsch, 8. Februar 2019, imi-online.de.
[10] Strategie der Reserve 2019, S. 7.
[11] IMI-Analyse 2019/07.
[12] Bundeswehr, Beauftragte für Reservistenangelegenheiten – Interview: „Unsere Reserve neu denken“, März 2019, bundeswehr.de.
[13] Bundeswehr, Auftrag der Reserve, o.d., bundeswehr.de.
[14] Weisung Reservistenarbeit (2020-22) – Anlage 1 – Maßnahmenübersicht zur Implementierung der SdR, S. 35.
[15] Luftwaffe: “Reingehört” in die Reserve, bundeswehr.de, 14.08.2020.
[16] Bundesministerium der Verteidigung, „Dein Jahr für Deutschland“: Freiwillig die Heimat schützen, 23.07.2020, bmvg.de.
[17] Ein Beispiel: Die Reserve, Pilotprojekt zur Ausbildung Ungedienter startet in Berlin, 12.04.2018, reservistenverband.de.
[18] Strategie der Reserve 2019, S. 10.
[19] Strategie der Reserve 2019, S. 14.
[20] Weisung Reservistenarbeit (2020-22) – Anlage 1 – Maßnahmenübersicht zur Implementierung der SdR, S. 42.
[21] Strategie der Reserve 2019, S. S.31.
[22] Weisung Reservistenarbeit (2020-22), S. 15.
[23] Weisung Reservistenarbeit (2020-22), S. 15.
[24] Strategie der Reserve 2019, S. 5.
[25] Strategie der Reserve 2019, S. 25.
[26] Weisung Reservistenarbeit (2020-22), S. 12.
[27] Strategie der Reserve 2019, S. 25 SDR, Grundbeorderungfreiwilligkeit.
[28] Strategie der Reserve 2019, S. 26.
[29] Weisung Reservistenarbeit (2020-22), S. 13.
[30] Weisung Reservistenarbeit (2020-22), S. 35.
[31] Strategie der Reserve 2019, S. 19.
[32] Wehrpflichtgesetz, Artikel 6, Absatz 6, gesetze-im-internet.de.
Veröffentlichung am 17.02.2021 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)