Autor: Martin Kirsch
Dammbrüche, Akzeptanzbeschaffung und der aktuelle Corona-Einsatz
Die Corona-Pandemie hat den gesamten Staatsapparat und weite Teile der Gesellschaft in einen Ausnahmezustand versetzt. Zu Beginn der staatlichen Maßnahmen im Februar und März 2020 hielt sich die Bundeswehr, die den großen Auftritt bei Krisen und Naturkatastrophen sonst so liebt, eher im Hintergrund. Bevor die Bundeswehr großflächig im Inland aktiv werden konnte, wurden die eigenen Strukturen pandemiefest gemacht und die Durchführung der Auslandseinsätze gesichert. Schon Ende März hatte Generalinspekteur Zorn klargestellt, dass die Durchführung des militärischen Kernauftrags der Bundeswehr absolute Priorität vor allen Hilfsmaßnahmen im zivilen Bereich habe. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer verglich in diesem Kontext die staatliche Pandemiebekämpfung mit einem Marathon. Die Rolle der Bundeswehr in diesem Ausdauerrennen sei es, den Staffelstab erst dann zu übernehmen, wenn die zivilen Infrastrukturen überlastet seien.
Als Vorbereitung auf den bevorstehenden Marathon stellte die Bundeswehr zu April 2020 ein Einsatzkontingent mit 15.000 Soldat*innen für Hilfeleistungen im Inland auf. Mittlerweile sind 17.600 Soldat*innen im Inland aktiv.[1] Von der Aufstockung des Personals in den Gesundheitsämtern im Oktober über den Start der Impfkampagne Ende Dezember bis zur Ausweitung von Schnelltests in Alten- und Pflegeheimen im Januar 2021 ist die Bundeswehr seit Herbst 2020 bei allen von der Bundesregierung initiierten Kampagnen zur Eindämmung des Corona-Virus mit tausenden Soldat*innen beteiligt.
Katastropheneinsätze, Verfassungsfragen und Akzeptanzbeschaffung
Die Geschichte der Inlandseinsätze der Bundeswehr ist sowohl eine Geschichte der Rechtsbrüche und Rechtsbeugungen als auch eine Geschichte der Akzeptanzbeschaffung.
Das erste Mal rückte die Bundeswehr 1962 für einen Katastropheneinsatz im Inland aus. Durch eine Sturmflut kam es entlang der Nordseeküste und der Unterläufe von Weser und Elbe zu massiven Überschwemmungen. Entgegen der damaligen Verfassung, die Einsätze der Armee im Inland kategorisch ausschloss,[2] alarmierten die Behörden in Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen auch die Bundeswehr. Tausende Soldaten und hunderte Militärhubschrauber kamen zum Einsatz.
Trotz des aktiven Verfassungsbruchs wird dieser Katastropheneinsatz im Nachhinein als glorreicher Moment in der Bundeswehrgeschichte gefeiert. Anfang der 1960er wurde die junge Bundeswehr in größeren Teilen der Bevölkerung als neue Wehrmacht gesehen und deshalb äußerst skeptisch beäugt. Der Hilfseinsatz der Streitkräfte führte dazu, dass auch in relevanten Teilen der zuvor skeptischen Bevölkerung die Akzeptanz für die Bundeswehr deutlich stieg. Im klaren Bewusstsein um die Bedeutung dieses Einsatzes dürfen Fernsehaufnahmen von damals, in denen der Verfassungsbruch mit keiner Silbe erwähnt wird, die Soldaten und die Bundeswehr aber für ihren heldenhaften Einsatz von der Bevölkerung gelobt werden, in einem Propagandafilmchen zum 65. Geburtstag der Bundeswehr nicht fehlen.[3]
Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 wurde der Verfassungsbruch von 1962 für künftige Fälle legalisiert. Gegen massiven Widerstand wurden mit dem Verteidigungsfall, dem Inneren Notstand und dem Katastrophenfall drei Szenarien für einen Inlandseinsatz im Grundgesetz verankert. Seit dieser Legalisierung von Bundeswehreinsätzen bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen hat sich die Aktivierung von Soldat*innen bei starkem Hochwasser, schweren Waldbränden, Stürmen, extremen Schneefällen und Kälteeinbrüchen in den folgenden Jahrzehnten zum Normalfall entwickelt.
Ein weiterer Einsatz, der im Nachhinein als wegweisend für die Akzeptanzbeschaffung bewertet wird, ereignete sich 2002. Im Rahmen der sogenannten „Jahrhundertflut“ in Ostdeutschland wurden erneut zehntausende Soldat*innen mobilisiert, um Deiche zu sichern, Sandsäcke zu füllen und vom Wasser eingeschlossene Dörfer zu evakuieren. In diesem Fall war es die Bevölkerung der neuen Bundesländer, unter der eine Ablehnung der Bundeswehr als Armee des ehemaligen Feindes bis dahin verbreitet war. Auch hier führte die Sichtbarkeit der Bundeswehrsoldat*innen als praktische Hilfe in einer unmittelbaren Notsituation dazu, dass zuvor skeptische Bevölkerungsteile die Propagandafloskel von der “Armee der Einheit” für sich annahmen.
Seit Mitte der 2000er Jahre baut die Bundeswehr neue Strukturen der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit auf. Mit diesen neuen Strukturen der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit ging zudem eine Verschiebung der Rechtsgrundlage einher, mittels derer die Bundeswehr im Inland aktiviert wird.
Zuvor war es der Normalfall, dass ein*e Landrät*in oder ein*e Ministerpräsident*in bei entsprechenden Ereignissen öffentlichkeitswirksam den Katastrophenfall ausrief und dann die Bundeswehr alarmierte. Mittlerweile ist dieser Weg zur Ausnahme geworden. Noch unterhalb der Schwelle des Katastrophenfalls können mit Hilfe des Amtshilfeparagraphen im Grundgesetz (GG Art. 35 Abs. 1) alle staatlichen Institutionen zur gegenseitigen Hilfe aufgefordert werden – so auch (ohne Waffen und hoheitliche Befugnisse) die Bundeswehr. Über die gehäufte Nutzung dieses (Um)Weges sind die Anträge und die Einsätze der Bundeswehr im Inland kleinteiliger und häufiger geworden. Bestes Beispiel für diese Praxis ist die aktuelle Corona-Pandemie. Abgesehen von der temporären Ausrufung des Katastrophenfalls in Bayern ist dieses Mittel zur Aktivierung der Bundeswehr bisher ausgeblieben.
Corona-Einsatz der Bundeswehr
Der Corona-Einsatz der Bundeswehr hat bereits jetzt eine Dimension angenommen, die ihn für eine Erwähnung in der Reihe der historisch einschneidenden Inlands- und Katastropheneinsätze der Streitkräfte in der Bundesrepublik qualifiziert.
Dass die Bundeswehr auch die aktuelle Krise nutzen will, um sich im besten Licht zu präsentieren, wurde besonders im Frühjahr und Sommer 2020 deutlich. Die ersten Monate des Corona-Einsatzes wurden mit Hilfe einer Youtube-Serie propagandistisch aufbereitet.[4] Während die Bevölkerung weiterhin dazu aufgerufen war, zu Hause zu bleiben, Kontakte zu meiden und auf Reisen zu verzichten, wurden hohe Militärs nicht müde, den heldenhaften Einsatz der Bundeswehr gegen das Virus bei Presseterminen vor Ort zu präsentieren.
Mit Beschluss vom 03. Februar 2021 wurde das Einsatzkontingent erneut um 5.000 weitere Soldat*innen auf jetzt 25.000 aufgestockt.[5] Darin nicht enthalten sind Zivilangestellte der Bundeswehr, aktivierte Reservist*innen und alle aktiven Soldat*innen aus dem Bereich des Sanitätsdienstes. Bezieht man auch diese Bundeswehrangehörigen mit ein, steigt die Gesamtzahl je nach Rechnung auf bis zu 35.000.
Die Anzahl der mobilisierten Soldat*innen erreicht damit ein Level, das mit der „Jahrhundertflut“ von 2002 vergleichbar ist. Damals wurden über 46.000 Soldat*innen aktiviert.[6] Während es sich bei Inlandseinsätzen im Rahmen von Hochwasser, Waldbränden und extremen Schneefällen allerdings um räumlich klar begrenzte Ereignisse handelt, findet der aktuelle Corona-Einsatz bundesweit statt. So wurden Soldat*innen bis Ende Januar 2021 bereits in 331 der insgesamt 412 Landkreise in Deutschland für Amtshilfemaßnehmen in Bewegung gesetzt.[7]
Der bisher längste Inlandseinsatz der Bundeswehr zur Versorgung, Unterbringung und Verteilung von Geflüchteten und zur Unterstützung von Behörden zur Verarbeitung der anfallenden Daten und Anträge zog sich vom Sommer 2015 bis Sommer 2016 über ein knappes Jahr. Ausgehend von der offiziellen Aufstellung des Einsatzkontingentes Corona-Hilfe der Bundeswehr zum 01. April 2020 als Startpunkt wird dieser bisherige Höchstwert im Frühjahr 2021 höchstwahrscheinlich überschritten – zumal damit gerechnet werden kann, dass Soldat*innen mindestens bis Herbst 2021 in Gesundheitsämtern und Impfzentren aktiv bleiben werden.
Die im Jahr 2020 bei der Bundeswehr gestellten Anträge auf Amtshilfe haben mit deutlich über 2.500 bereits einen historischen Spitzenwert erreicht. Weit über 90% dieser Anträge wiesen einen direkten Corona-Bezug auf. Vergleicht man diese Zahl mit den 249 Amtshilfeanträgen im Laufe des eher durchschnittlichen Jahres 2019, handelt es sich um eine Verzehnfachung. Setzt man als Vergleichsgröße das Jahr 2015 mit 866 Amtshilfeanträgen an, zeigt sich eine Verdreifachung des bisherigen Spitzenwertes. Bis Anfang Februar 2021 ist die Zahl der an die Bundeswehr gestellten Amtshilfeanträge mit Corona-Bezug bereits auf über 3.900 angestiegen.[8]
Rund 10% der 2020 an die Bundeswehr gestellten Amtshilfeanträge wurden abgelehnt und weitere gut 5% von den Antragssteller*innen zurückgezogen. Neben vielen Ablehnungen aufgrund fehlender Kapazitäten oder fehlenden Materials befinden sich darunter auch solche Anfragen, die aus rechtlichen Gründen durch das Verteidigungsministerium ausgeschlagen wurden. In Thüringen und Baden-Württemberg hofften die dortigen Behörden auf Unterstützung der Bundeswehr, um in Geflüchtetenunterkünften, die unter Kollektivquarantäne standen, Soldat*innen als bewaffneten Sicherheitsdienst einsetzen zu können. Weitere Anträge, die über den Rahmen der Verfassung deutlich hinausgingen, kamen aus Polizeipräsidien und dem Innenministerium in Baden-Württemberg. Dort wurden hunderte Soldat*innen beantragt, um die angeblich unterbesetzte Polizei bei der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen im öffentlichen Raum zu unterstützen.[9]
Die Dreistigkeit des Landesinnenministers Strobl, solche Anfragen überhaupt zu stellen, zeigt den politischen Willen, jede Krise für einen Vorstoß zu nutzen, um den bewaffneten Inlandseinsatz der Bundeswehr zur Realität werden zu lassen. Eher unerwartet erwies sich die Bundeswehr selbst in der aktuellen Krise als bremsende Kraft, indem sie die entsprechenden Anfragen mit Verweis auf geltendes Recht ablehnte. Regelmäßige gemeinsame Übungen von Bundeswehr und Polizei für die Terrorabwehr im Inland weisen allerdings in eine andere Richtung.[10]
Bereits jetzt – noch bevor des Ende der Pandemie absehbar ist – lässt sich feststellen, dass die Bundeswehr in einer bisher nicht bekannten Dimension bis in die kleinsten Verästelungen des staatlichen Gesundheitssystems vorgedrungen ist. Dabei könnte es sich um einen Vorgeschmack darauf handeln, wie das Gesundheitssystem durch die Pandemie zu einem Austragungsort der Sicherheitspolitik und der Großmachtkonkurrenz mutiert. Die aktuell als Hilfskräfte in Krankenhäuser und Gesundheitsämter abkommandierten Soldat*innen werden beizeiten abziehen, um sich wieder ihrem eigentlichen Job zu widmen. Währenddessen ist die Produktion von Schutzkleidung, Medikamenten und vor allem von Impfstoffen längst zur strategischen Ressource geworden, um die bereits mit harten Bandagen gekämpft wird.
Grundlage dieses Artikels war ein Vortrag, der beim IMI-Kongress „Politik der Katastrophe“ im November 2020 gehalten wurde. Die Beiträge des Kongresses finden sich gesammelt in der März-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK.
Anmerkungen
[1] Bundesministerium der Verteidigung: Einsatzkontingent „Hilfeleistung gegen Corona“ auf 25.000 Soldaten erhöht, bmvg.de, 03.02.2021.
[2] NDR, Sturmflut 1962 – Die große Rettungsaktion, ndr.de, 09.01.2020.
[3] Bundeswehr: 65 Jahre Bundeswehr – Die Doku, Teil 1/3, youtube.com, 16.11.2020.
[4] Nina Ruprecht: Einsatz gegen Corona – Die neue Werbekampagne der Bundeswehr, IMI-Standpunkt 2020/020, imi-online.de, 03.06.2020.
[5] BMVg, 03.02.2021.
[6] BMVg: Hochwasserkatastrophe im August 2002, S. 34, September 2002.
[7] Bundesministerium der Verteidigung: Regelmäßige Unterrichtung der Obleute des Verteidigungsausschusses über die Unterstützungsleistungen der Bundeswehr in der CORONA-Pandemie, S. 5, 01.02.2021.
[8] BMVg, 03.02.2021.
[9] Martin Kirsch: Die Bundeswehr und das Virus – Teil II: Mitte März bis Mitte Mai – Amtshilfe und Eiserne Reserve, in: Audsruck, Juni 2020, S. 38, imi-online.de.
[10] Beispielhaft: Martin Kirsch: BWTEX: Anti-Terror-Übung “katastrophischen Ausmaßes”? – Normalisierung von Bundeswehreinsätzen im Inland, IMI-Analyse 2019/35, imi-online.de, 30.10.2019.
Veröffentlichung am 9.3.2021 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)