Botschafter in Bericht nach Washington: Staat schiebt Opfern von tödlichem Polizeieinsatz die Schuld zu und „stiehlt sich aus der Verantwortung“
Der damalige US-Botschafter in Mexiko, Earl Anthony Wayne, hat in einer nun veröffentlichen diplomatischen Depesche bereits im Dezember 2011 von exzessiver Gewalt der mexikanischen Polizei gegen Lehramtsstudenten aus dem südmexikanischen Ayotzinapa berichtet. Der Diplomat reagierte mit dem internen Rapport an das US-Außenamt auf einen blutigen Zwischenfall am 11. Dezember 2011, bei dem zwei Studenten und eine weitere Person ums Leben kamen. Der Bericht von Wayne wurde damit drei Jahre veröffentlicht, bevor Ende September vergangenen Jahres 43 Studenten der Landuniversität „Raúl Isidoro Burgos“ in Ayotzinapa verschleppt und wahrscheinlich ermordet wurden. Das mutmaßliche Massaker in der Ortschaft Iguala beschäftigt bis heute die mexikanische und internationale Öffentlichkeit und Politik.
Im Dezember 2011 war es schon einmal zu blutigen Zusammenstößen zwischen den linksgerichteten Studenten und der Polizei gekommen. US-Botschafter Wayne schreibt in dem Drahtbericht von „chaotischen Studentenprotesten“, bei denen beide Seiten – Studierende und Polizisten – zu Gewalt gegriffen hätten. Nachdem drei Menschen zu Tode kamen, hätten die Polizeibehörden „den Opfern die Schuld zugeschoben, um sich aus der Verantwortung zu stehlen“.
Der Bericht der US-Botschaft wurde von der Forschungsgruppe des National Security Archives an der George-Washington-Universität in der US-Hauptstadt veröffentlicht. Die Mitarbeiter dieser Institution haben sich darauf spezialisiert, Regierungsdokumente mit Hilfe des US-amerikanischen Informationsfreiheitsgesetzes aus den Archiven zu holen, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Der nun veröffentlichte Bericht des damaligen US-Botschafters stellt die offizielle Darstellung des mutmaßlichen Massakers von Ayotzinapa im September 2014 weiter in Frage. Vor wenigen Wochen erst hatten argentinische Forensiker die Darstellungen der Ereignisse seitens der Regierung in Mexiko in Zweifel gezogen. Das Expertenteam arbeitet mit den Eltern der verschwunden Lehramtsstudenten zusammen. Auch eine unabhängige interdisziplinäre Expertengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) hatte die Regierungsversion teilweise widerlegt.
In dem Bericht des US-Botschafters über den früheren Zwischenfall im Dezember 2011 wird zunächst beschrieben, wie rund 500 Studenten aus Ayotzinapa und weitere Aktivisten eine Autobahn blockierten, um Gespräche mit dem Gouverneur des Bundesstaates Guerrero, Ángel Aguirre Rivero, über den Zustand staatlicher Bildungseinrichtungen zu erzwingen. Dieser Protest sei von Bundes- und Landespolizisten attackiert worden. Nach den tödlichen Schüssen auf zwei Studenten und einen unbeteiligten Tankstellenmitarbeiter hätten sich beide Polizeieinheiten gegenseitig die Schuld zugewiesen. Aguirre Rivero sei vor allem darum bemüht, den politischen Schaden für seine Regionalregierung in Grenzen zu halten, schrieb der US-Botschafter weiter. Nach dem mutmaßlichen Massaker 2014 trat der Gouverneur schließlich zurück.
Die Nationale Menschenrechtskommission Mexikos (CNDH) kam in einem Bericht im Jahr 2012 zu dem Ergebnis, dass Polizeibeamte schon bei den Geschehnissen 2011 für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, unter anderem für willkürliche Verhaftungen, Folter und weitere körperliche Misshandlungen.
Zwei Polizisten des Bundesstaates Guerrero wurden später wegen der tödlichen Schüsse in Untersuchungshaft genommen, kamen nach 16 Monaten jedoch wieder frei, nachdem ein Richter die Beweise gegen sie für nicht ausreichend befand. Der damalige Generalstaatsanwalt von Guerrero, Alberto López Rosas, der von der CNDH bezichtigt wurde, die Ermittlungen behindert zu haben, wurde 2013 entlassen, um wieder unmittelbar für Aguirre Rivero zu arbeiten. Der damalige Präsident der Bundespolizei, Facundo Rosas Rosas, der ebenfalls mit den tödlichen Konfrontationen 2011 in Verbindung gebracht wurde, verlor seinen Posten später ebenfalls. Er wurde zunächst Minister für Öffentliche Sicherheit, bis er selbst ins Visier der Justiz geriet: Die Staatsanwaltschaft beschuldigte ihn, eine kriminelle Gruppe zu leiten, die systematisch Erdöl des Staatskonzerns Pemex gestohlen haben soll.
Die Enthüllungen in den USA könnten auch die deutsche Regierung unter Druck setzen. Bei einer Debatte zum Thema im November 2014 hatte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), ein Polizeiabkommen mit Mexiko noch verteidigt. Die Vereinbarung sei nötig, weil „die mexikanische Bundesregierung nicht Urheber der Menschenrechtsverletzungen“ in Guerrero sei, sagte Roth unter Bezugnahme auf den EU-Botschafter in Mexiko, Andrew Standley. Die nun veröffentlichten Drahtberichte aus den USA widerlegen diese These einmal mehr.
Erstveröffentlichung am 13. Oktober 2015 auf Portal amerika21.de