Die Welt hat geschwiegen: Ein Besuch in Cizre

Auf unserem Weg in die Kleinstadt Cizre nahe der türkisch-irakischen Grenze erklärt uns an einer Straßensperre ein schwer bewaffneter Polizist, Cizre sei jetzt gesäubert.

Die HDP-Bürgermeisterin der 135.000 Einwohner zählenden Stadt, Leyla Imret, berichtet uns von der dortigen Ausgangssperre. Leyla Imret wurde 2014 mit 84 Prozent der Stimmen gewählt, im September 2015 aber von der Regierung ihres Amtes enthoben, nachdem sie ihre Sorge vor einer Gewalteskalation in einer Rede geäußert hatte und ihr dies als Terror-Propaganda ausgelegt wurde. Gegen sie laufen drei Klagen. Sie darf die Türkei nicht verlassen. Dennoch arbeitet sie als Bürgermeisterin mit ihrer Stadtverwaltung weiter – auch unter schwierigsten Bedingungen.

Die erste von drei Ausgangssperren in Cizre dauerte neun Tage, vom 4.-12. September 2015. Sie traf die Bevölkerung völlig unvorbereitet. In ihrer Folge sind 60 Menschen gestorben. Eine Ausgangssperre hatte es in Cizre zuletzt 1991 für 12 Stunden gegeben. Wirklich niemand habe am 9. September 2015 damit gerechnet, dass sofort Wasser, Strom, Lebensmittelnachschub, Telefon und Internet abgestellt würden. Danach seien 25.000 Einsatzkräfte mit Panzern und Vorratslagern stationiert worden.

Unmittelbar vor der dritten, großen Ausgangssperre vom 14. Dezember 2015 bis zum 2. März 2016 wurden alle Staatsbediensteten (LehrerInnen, Beamte) für ein Seminar – das es nicht gab – abgeordert und verließen überstürzt die Stadt. Jugendliche aus den Vierteln und Militante bauten erste Barrikaden. Danach stand Cizre 84 Tage ununterbrochen unter Belagerung. Während der Vorankündigungfrist von 12 Stunden verließen ca. 30% der Bevölkerung die Stadt. Viele blieben, in der Hoffnung, ihre Häuser zu retten. Alle Lebensadern wurden gekappt.

Dreihundert Menschen starben in den ersten 35 Tagen der Ausgangssperre. Einzelne oder Familien verließen mit weißen Fahnen ihre Häuser in dem am stärksten betroffenen Gebiet. Manche wurden trotzdem beschossen. Verletzte oder Schwangere wurden von der Klinik abgewiesen, die jetzt dem Militär diente. Nach vierzig Tagen waren die abgeriegelten Viertel leer bis auf jugendliche Militante und wenige Bewohner, die nicht gehen wollten oder konnten. Die Leiche einer PKK-Kämpferin hat das Militär auf der Straße zur Schau gestellt.

Ein städtischer Angestellter zeigt uns bei einem anschließenden Rundgang durch die Ruinenlandschaft der am stärksten betroffenen Viertel die Bergstraße, von der aus der Artilleriebeschuss anfangs erfolgte. Erst später seien Panzer und Militäreinheiten eingerückt und hätten einen inneren Belagerungsring um vier Straßenzüge gezogen. Haus für Haus seien sie in die Wohnungen eingedrungen und hätten alles zerstört, was sie noch vorfanden. An den Wänden hinterließen sie Parolen wie „Ihr habt die Kraft der Türken zu spüren bekommen“ oder „Ihr seid alle Huren“.

Es herrscht beklemmende Stille, die Gesichter der Menschen sind leer. Auch wir, die wir Fotos der zerstörten Gebiete in Cizre schon in Deutschland gesehen haben, sind angesichts dieser offenen Brutalität sprachlos.

Unser Begleiter zeigt uns, wo ein sechsstöckiges Haus von Soldaten gesprengt wurde und 70 Menschen starben. In ein anderes Haus wurde Benzin eingeleitet, um die im Keller versteckten Menschen zu verbrennen. Viele Leichen sind bis heute nicht zu identifizieren. Unter ihnen sind auch Studenten aus der Westtürkei, die den Eingeschlossenen zu Hilfe kommen wollten. Von diesen AktivistInnen gab es Namenslisten; ihre Eltern reisten an. Mütter versuchten ihre Kinder zu retten, die aus den Kellern schrien. Die Mütter wurden festgenommen und mit Geldstrafen belegt. Abgeordnete traten in Hungerstreik, Ambulanzen wurden beschossen, Sanitäter bedroht, ein Journalist bei seiner Arbeit angeschossen. 30 Abgeordnete versuchten erfolglos, in die Häuser zu gelangen. Alle Vermittlungsversuche scheiterten.

Leyla Imret sagt, dass die Stadtverwaltung an den Planungen für den Wiederaufbau nicht beteiligt werde. Sie befürchtet massive Enteignungen und Umsiedlungen. Trotzdem versucht die Verwaltung alles zu tun, um betroffenen Menschen zu helfen. Für besonders notleidende Familien suchen sie Patenschaften, das heißt Menschen, die sich bereit erklären, je eine Familie mit einem monatlichen Betrag zu unterstützen.

Erstveröffentlichung am 20. März 2016