Sean Gervasi – Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, Belgrad
Zur Expansion der NATO nach Osteuropa und in den Mittelmeerraum (Prag 13.–14. Januar 1996)
Einleitung
Die NATO hat kürzlich eine große Einsatztruppe nach Jugoslawien entsandt, unter dem Vorwand, das Dayton-Abkommen von Ende 1995 zur Beendigung des Kriegs in Bosnien durchzusetzen. Es heißt, dass diese Einsatztruppe rund 60.000 Mann umfasst, ausgestattet mit Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Artillerie. Unterstützt wird sie von beträchtlichen Luft- und Seestreitkräften. Wenn man alle involvierten Streitkräfte einschließlich der in angrenzenden Ländern stationierten mit einbezieht, ergibt sich eine Truppenstärke von mindestens 200.000 Mann. Diese Zahl wurde von US-Militärkreisen bestätigt. (1)
Die Entsendung einer großen westlichen Militärmacht nach Mittel- und Südosteuropa ist ein erstaunliches Unterfangen gerade in der Übergangssituation, die durch das angenommene Ende des Kalten Krieges entstanden ist. Der Einsatz dieser Truppen auf dem Balkan bildet nicht nur die erste größere militärische Operation der NATO, sondern auch die größte militärische Operation außerhalb der Grenzen, die ursprünglich für NATO-Militäraktionen vorgesehen waren.
Wie auch immer – die Entsendung von NATO-Truppen auf den Balkan ist auf den Druck zurückzuführen, der durch die NATO-Osterweiterung entstanden ist.
Wenn das Jugoslawien-Unternehmen der erste Schritt der NATO-Expansion ist, sind weitere in naher Zukunft geplant. Einige westliche Mächte wollen die Visegrad-Länder bis zum Ende des Jahrhunderts als Vollmitglieder in die NATO bringen. Gewisse westliche Länder waren einige Zeit gegen eine solche Ausweitung. Die Widerspenstigen wurden aber dazu gedrängt, die vorgebliche Notwendigkeit der NATO-Expansion zu akzeptieren.
Es stellt sich die Frage: warum drängen die Westmächte so auf die Expansion der NATO? Warum wird die NATO erneuert und ausgeweitet, nachdem die „sowjetische Drohung“ verschwunden ist? Hinter dem allen steckt klarerweise viel mehr, als wir bis jetzt erfahren haben. Die Durchsetzung eines unsicheren Friedens in Bosnien ist nur der unmittelbare Anlass für die Entsendung von NATO-Truppen auf den Balkan.
Es gibt tiefer liegende Gründe für die Entsendung von NATO-Einheiten auf den Balkan, und besonders für die NATO-Ausdehnung auf Polen, die tschechische Republik und Ungarn in nächster Zukunft. Diese drehen sich um die aufkommende Strategie zur Sicherung der Rohstoffe im Gebiet rund um das Kaspische Meer und der „Stabilisierung“ der Länder Osteuropas – jedenfalls aber der „Stabilisierung“ Russlands und der GUS-Staaten. Das ist, milde ausgedrückt, eine äußerst gewagte und potentiell in sich widersprüchliche Politik. Es ist wichtig, einige Fragen nach den Gründen für diese Politik zu stellen.
Die Absicht der “Stabilisierung” der Länder des früheren sozialistischen Ostblocks in Europa zielt nicht nur auf die politische Stabilität, die Absicherung der neuen Regierungen in diesen Ländern. Es muss auch gewährleistet sein, dass die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen unverändert bleiben. Und, nachdem der sogenannte Übergang zur Demokratie in den betroffenen Ländern in der Tat zu einer beginnenden Entindustrialisierung und einem Einbruch in den Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung geführt hat, erhebt sich die Frage, ob das wirklich erstrebenswert ist.
Diese Frage stellt sich umso eindringlicher, da “Stabilisierung” im westlichen Sprachgebrauch bedeutet, dass in den Ländern des ehemaligen sozialistischen Ostblocks wirtschaftliche und soziale Bedingungen eingeführt werden sollen, die den derzeit im Westen vorherrschenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen entsprechen. Die Wirtschaftssysteme der westlichen Industrienationen sind tatsächlich in einem Zustand des Verfalls, obwohl die Regierungen dieser Länder das niemals zugeben würden. Nichtsdestoweniger führt jede einigermaßen objektive Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Westens zu dieser Schlussfolgerung. Diese Schlussfolgerung wird untermauert durch offizielle Statistiken wie durch die meisten Analysen von Wirtschaftsfachleuten.
Es ist auch klar, dass der Versuch der “Stabilisierung” der ehemaligen Länder des sozialistischen Ostblocks zu beträchtlichen Spannungen mit Russland und möglicherweise auch anderen Ländern führt. Nicht wenige Kommentatoren sind zum Ergebnis gekommen, dass die Bestrebungen des Westens, die NATO-Einflusssphäre auszuweiten, sogar die Risiken eines nuklearen Konfliktes vergrößern. (2)
Es genügt, diese Fragen kurz anzureißen, um zu erkennen, dass die Ausdehnung der NATO, die de facto in Jugoslawien begonnen hat und auf andere Länder erweitert werden soll, in einem großen Ausmaß auf konfusen und irrationalen Überlegungen beruht. Man ist versucht zu sagen, dass sie aus der Angst und Willfährigkeit bestimmter herrschender Gruppierungen resultiert. Gerade heraus gesagt, warum sollte die Welt irgendeinen Vorteil in der gewaltsamen Übertragung des im Westen herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Chaos auf andere Länder erkennen, und warum sollte sie darin einen Vorteil sehen, wenn diese Entwicklung selbst die Risiken eines Atomkriegs vergrößert?
Ziel dieser Abhandlung ist es, die Gründe für die derzeitigen Bemühungen der Ausdehnung der NATO-Einflusssphäre aufzuzeigen und einige grundsätzliche Fragen zu stellen, ob diese Sinn macht, in der engeren wie tieferen Bedeutung des Wortes.
Die NATO in Jugoslawien
Der Nordatlantische Verteidigungspakt wurde 1949 zu dem Zweck gegründet, Westeuropa vor einer möglichen militärischen Aggression der Sowjetunion und deren Verbündeten zu schützen.
Mit der Auflösung der kommunistischen Regierungen im ehemaligen Ostblock 1990 und 1991 verschwand die Möglichkeit einer solchen Aggression, wenn sie überhaupt jemals bestanden hat. Dieser Wechsel in den ehemals kommunistischen Ländern machte die NATO überflüssig. Ihre Existenzberechtigung war verschwunden. Dennoch begannen bestimmte Gruppen innerhalb der NATO-Länder fast unmittelbar, auf eine „Erneuerung“ der NATO und sogar auf ihre Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa zu drängen. Sie fingen an, neue Grundlagen auszuarbeiten, die die Weiterführung des normalen Betriebs erlauben würden.
Die bedeutendste Rolle spielte die Idee, dass trotz der Änderungen, die sich aus dem Ende des Kalten Krieges ergaben, die Länder des Westens nichtsdestoweniger mit “Sicherheitsproblemen” von außerhalb des herkömmlichen NATO-Bereichs konfrontiert werden könnten, die die Weiterführung dieser Organisation für alle Zeiten rechtfertigten. Die Sprecher dieser Sichtweise argumentierten, die NATO müsse neue Einsatzbereiche finden, um ihre Existenz zu legitimieren.
Der tatsächliche Grund war, dass die NATO erhalten werden musste, um die Führung der USA in Europa wie auf der Welt zu gewährleisten. Das war sicher einer der Gründe hinter der groß angelegten Intervention des Westens – an der sich die NATO-Partner der USA in eher bescheidenem Ausmaß beteiligten – in Kuwait und Irak 1990 und 1991. Die Koalition gegen den Irak konnte nur unter großen Schwierigkeiten zusammengebracht werden. Aber diese wurde von der Regierung der USA für notwendig befunden, um die Glaubwürdigkeit der USA innerhalb der westlichen Allianz wie auch in der Welt aufrecht zu erhalten.
Das Motto der ersten Befürworter der NATO-Erweiterung war: “NATO: out of area or out of business” (“NATO: aus dem bisherigen Einsatzbereich heraus oder aus dem Geschäft“), was den Standpunkt, wenn auch nicht die Begründung, so einfach wie möglich erklärte. (3)
Auch Jugoslawien war ein Testfall, und offensichtlich einer von viel größerer Bedeutung. Die jugoslawische Krise explodierte im Randbereich Europas, und die westeuropäischen Länder mussten darauf reagieren. Während Deutschland und die USA den Eindruck erweckten, auf ein Ende der Bürgerkriege in Jugoslawien hinzuarbeiten, unternahmen sie in der Tat alles, um diese zu verlängern, besonders den Krieg in Bosnien. (4) Ihre Aktivitäten führten zur Fortsetzung und ständigen Verschärfung der jugoslawischen Krise.
Es ist wichtig zu erkennen, dass nahezu von Beginn der jugoslawischen Krise die NATO versuchte, sich selbst ins Spiel zu bringen. Diese Einmischung wurde 1993 offenkundig, als die NATO begann, UNPROFOR-Operationen in Jugoslawien zu unterstützen, besonders im Bereich der Blockade gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und der Durchsetzung eines Flugverbots im bosnischen Luftraum.
Diese Einmischung begann aber in viel kleinerem Ausmaß und es muss daran erinnert werden, dass die NATO als Organisation in den Krieg in Bosnien-Herzegowina in einem sehr frühen Stadium einbezogen wurde. Im Jahr 1992 sandte die NATO eine Gruppe von rund 100 Mann nach Bosnien-Herzegowina, wo sie ein militärisches Hauptquartier in Kiseliak in der Nähe von Sarajewo einrichteten, unter dem Vorwand, die UNO-Kräfte in Bosnien zu unterstützen.
Offensichtlich steckte dahinter ein anderer Zweck. Ein NATO-Diplomat beschrieb damals diese Operation dem INTELLIGENCE DIGEST gegenüber mit den folgenden Worten:
„Das ist ein sehr vorsichtiger erster Schritt, um den wir bestimmt nicht viel Lärm machen werden. Aber es könnte der Anfang von etwas größerem sein … Man könnte sagen, dass die NATO jetzt einen Fuß in der Tür hat. Es ist nicht sicher, dass wir die Tür öffnen können, aber wir haben damit angefangen.“ (4)
Es scheint klar zu sein, dass die NATO-Führer von der Annahme ausgegangen sind, dass Widerstand gegen den Druck von USA und Deutschland überwunden werden müsse und die Rolle der NATO in Jugoslawien schrittweise ausgeweitet würde.
Auf diese Weise arbeitete die NATO an der Entwicklung einer größeren “out of area”-Operation (d.i. Operation außerhalb des bisherigen Einsatzbereichs) fast von Beginn des Krieges in Bosnien-Herzegowina an. Die kürzliche Entsendung von zehntausenden Soldaten ist somit der Höhepunkt einer Entwicklung, die vor etwa vier Jahren begonnen hat. Diese war nicht Gegenstand von Vorschlägen und Konferenzen. Es ging darum, Operationen zu entwickeln, die mit der Rückendeckung von Schlüsselländern möglicherweise zum aktiven Engagement der NATO „out of area“ und somit zu ihrer Erneuerung führen konnten.
Die Osterweiterung der NATO
Die NATO hat nie eine offizielle Studie über die Erweiterung der Allianz durchgeführt, bis vor kurzem die Arbeitsgruppe über die Ausweitung der NATO ihren Bericht vorlegte. Ohne Zweifel hat es interne Untersuchungen gegeben, über deren Inhalt Außenstehenden natürlich nichts bekannt ist.
Trotz des Mangels an klaren Analysen begann die Maschinerie von 1991 an hart zu arbeiten. Am Jahresende schuf die NATO das North Atlantic Cooperation Council (NACC = Nordatlantischer Rat zur Zusammenarbeit). Die Mitgliedsstaaten der NATO luden damals 9 mittel- und osteuropäische Länder ein, dem NACC beizutreten, um eine Zusammenarbeit zwischen den NATO-Mächten und den ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts in die Wege zu leiten.
Das war ein erster Schritt, um den osteuropäischen Ländern entgegenzukommen, die der NATO selbst beitreten wollten. Der NACC entsprach jedenfalls nicht wirklich den Bedürfnissen dieser Länder, und mit Anfang 1994 begannen die USA mit der Idee der Partnerschaft für den Frieden PFP. Die PFP eröffnete Staaten, die der NATO beitreten wollten die Möglichkeit, an verschiedenen NATO-Aktivitäten teilzunehmen, einschließlich Manövern und friedenserhaltenden Maßnahmen. Über 20 Länder einschließlich Russland sind derzeit Mitglieder der PFP.
Viele dieser Länder wollen eventuell der NATO beitreten. Russland will nicht beitreten. Es glaubt, dass die NATO nicht nach Osten vordringen sollte. Nach Auffassung des Center for Defense Information (Zentrum für Verteidigungsinformation) in Washington, einem geachteten unabhängigen Forschungszentrum für militärische Angelegenheiten, beteiligt sich Russland an der Partnerschaft für den Frieden, „um zu vermeiden, gänzlich von der europäischen Sicherheitsstruktur ausgeschlossen zu sein.“ (5)
Dermaßen gewann die Bewegung in Richtung NATO-Erweiterung Schritt für Schritt an Gewicht. Die Einrichtung des NACC war mehr oder weniger Ausdruck von Sympathie und Entgegenkommen gegenüber denen, die auf die NATO-Mitgliedschaft hofften. Aber es brachte die Dinge nicht viel weiter. Die Einrichtung der Partnerschaft für den Frieden ging schon einen Schritt weiter. Sie bezog schon ehemalige Mitgliedsländer des Warschauer Pakts in die NATO selbst ein. Damit begann auch eine „zweigleisige“ Politik gegenüber Russland, dem eine mehr oder weniger bedeutungslose Beziehung mit der NATO gewährt wurde, um seine Bedenken gegenüber einer NATO-Expansion zu beschwichtigen.
Ungeachtet dieser kontinuierlichen Entwicklung beruhte die öffentliche Begründung für diese Expansion hauptsächlich auf ziemlich vagen Versprechungen. Und das führt uns zu der Frage, was hinter der Expansion der NATO während der vergangenen vier Jahre steckt. Diese Frage muss für zwei Bereiche gestellt werden: den Balkan und die Länder Mitteleuropas. Am Balkan findet ein wichtiger Kampf statt, im besonderen ein Kampf um die Beherrschung des südlichen Balkans. Es ist auch eine neue Bewegung in Richtung zurück zum Kalten Krieg auf Seiten gewisser westlicher Länder festzustellen. Und diese Bewegung bringt die NATO nach Mitteleuropa.
Der Kampf um die Vorherrschaft auf dem Balkan
Seit 1990 sind wir Zeugen einer anhaltenden zermürbenden Krise in Jugoslawien. Diese hat zehntausenden Menschen den Tod gebracht, vielleicht zwei Millionen aus ihren Häusern getrieben und die Balkanregion schwer erschüttert. Im Westen wird generell geglaubt, diese Krise, einschließlich der Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, sei durch interne jugoslawische Konflikte verursacht, besonders Konflikte zwischen Kroaten, Serben und bosnischen Muslimen. Das liegt fernab der Wirklichkeit.
Das Hauptproblem in Jugoslawien war von Anfang an die Einmischung von außen in die inneren Angelegenheit des Landes. Zwei westliche Mächte, die USA und Deutschland, haben bewusst darauf hingearbeitet, das Land zu destabilisieren und dann aufzusplittern. Dieser Prozess war in vollem Gang in den 1980er Jahren und wurde beschleunigt mit dem Beginn des gegenwärtigen Jahrzehnts. Diese Mächte planten sorgfältig, bereiteten vor und begleiteten die Trennungsbestrebungen, die Jugoslawien auseinanderbrachen. Und sie unternahmen nahezu alles in ihrer Macht stehende, um die Bürgerkriege auszuweiten und zu verlängern, die in Kroatien begannen und in Bosnien-Herzegowina fortgesetzt wurden. In jeder Phase der Krise waren sie hinter den Kulissen aktiv.
Die Intervention von außen war darauf ausgerichtet, genau die Konflikte zu schaffen, die die westlichen Mächte verlangten. Denn diese dienten als Rechtfertigung für eine offene Intervention, wenn die Bürgerkriege erst einmal entflammt waren.
Solche Auffassungen sind natürlich tabu in den westlichen Ländern. Der Grund dafür ist, dass die Öffentlichkeit im Westen durch Kriegspropaganda fehlinformiert worden ist. Sie akzeptierte nahezu von Anfang an die Version der Ereignisse, die von den Regierungen herausgegeben und von den Massenmedien verbreitet wurde. Nichtsdestoweniger ist die Wahrheit, dass Deutschland und die USA die Hauptbetreiber der Aufteilung Jugoslawiens und Verursacher des Chaos dort waren.
Das ist eine hässliche Tatsache in dem neuen Zeitalter der Realpolitik und der geopolitischen Kämpfe, die auf das System des Kalten Krieges gefolgt sind. In letzter Zeit haben Geheimdienstkreise in bemerkenswert offener Weise darauf hingewiesen. Im Sommer 1995 berichtete zum Beispiel INTELLIGENCE DIGEST, eine angesehene Zeitschrift, die in Großbritannien erscheint:
„Die ursprünglichen US-amerikanisch – deutschen Absichten hinsichtlich Jugoslawien gingen aus von einem unabhängigen von Muslimen und Kroaten beherrschten Bosnien-Herzegowina in Verbindung mit einem unabhängigen Kroatien und einem stark geschwächten Serbien.“ (6)
Jeder ranghöhere Regierungsvertreter in den meisten westlichen Ländern weiß, dass diese Beschreibung genau den Tatsachen entspricht. Und das bedeutet, dass die Standardbehauptungen betreffend eine „serbische Aggression“ als Wurzel des Übels, die Bezeichnung Kroatiens als „neue Demokratie“ etc. nicht nur unwahr sind, sondern aufgestellt werden, um zu betrügen.
Aber warum? Warum sollten die Medien versuchen, die westliche Öffentlichkeit zu betrügen? Es ging nicht einfach darum, diese unverschämte und groß angelegte Intervention in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Es ging auch darum, dass die Menschen fragen würden, warum Deutschland und die USA bewusst auf die Zerstörung der Balkanregion hinarbeiteten. Unweigerlich würden sie die Gründe für solches Handeln erfahren wollen. Und diese mussten als Zerstörungsaktionen großer Mächte viel sorgfältiger geheimgehalten werden.
Ursprünglich war das Problem, dass die Vereinigten Staaten von Amerika extrem begehrliche Absichten ganz Europa betreffend verfolgten. Neuerdings wird ganz offen gesagt, dass sich die USA selbst als „europäische Macht“ betrachten. In den 1980er Jahren hätten solche Äußerungen nicht so leicht gemacht werden können. Diese hätten zu viel Widerspruch unter den westlichen Alliierten hervorgerufen. Aber das Streben der USA nach der Vorherrschaft in Europa war eine Tatsache. Und die USA haben bereits geplant, worüber jetzt offen geredet wird.
Erst kürzlich machte Richard Holbrooke, Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, die offizielle Position klar. In einem vor kurzem im einflussreichen Journal FOREIGN AFFAIRS veröffentlichten Artikel bezeichnete er die USA nicht nur als „europäische Macht“, sondern ging auch auf die begehrlichen Pläne seiner Regierung betreffend ganz Europa ein. In Bezug auf das System kollektiver Sicherheit einschließlich NATO, das die USA und ihre Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet hatten, sagte Mr. Holbrooke:
„Dieses Mal müssen die USA die Führungsrolle übernehmen bei der Einrichtung einer Sicherheitsarchitektur, die ganz Europa umfasst und somit stabilisiert – den Westen, die ehemaligen sowjetischen Satelliten in Mitteleuropa und, besonders kritisch, Russland und die ehemaligen Republiken der Sowjetunion.“ (7)
Kurz gesagt, es ist neuerdings offizielle Politik, die Integration des gesamten Europas unter einem westlichen politischen und Wirtschaftssystem anzustreben und das unter „US-amerikanischer Führung.“ Das ist einfach eine höfliche, und irreführende Art, über die Einbeziehung der ehemals sozialistischen Länder in ein gewaltiges neues Reich zu reden. (8)
Es überrascht natürlich nicht, dass der Rest von Holbrookes Artikel die Notwendigkeit der NATO-Erweiterung behandelt, besonders nach Mitteleuropa, um die “Stabilität” Gesamteuropas zu gewährleisten. Mr. Holbrooke stellt fest, dass die „Erweiterung der NATO eine grundlegende Konsequenz des Wegfalls des Eisernen Vorhangs“ sei. (9)
Hinter den wiederholten Einmischungen in die Krisen Jugoslawiens stecken also langfristige strategische Pläne für das gesamte Europa.
Als Teil dieses vorgegebenen Entwicklungsschemas hatten Deutschland und die USA ursprünglich die Einführung einer neuen Ordnung in der Balkanregion vorgesehen, die auf der freien Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie beruhte. Sie wollten mit dem Sozialismus auf dem Balkan endgültig Schluss machen. (10) Angeblich wollten sie die „Entwicklung demokratischer Verhältnisse“ durch ermutigende Unabhängigkeitserklärungen herbeiführen, wie in Kroatien. In Wirklichkeit war das nur ein Unterfangen, das in Richtung Aufsplitterung des Balkans in kleine und verletzliche Länder ging. Unter dem Deckmantel „Entwicklung demokratischer Verhältnisse“ wurde der Weg in Richtung Rekolonialisierung des Balkans eingeschlagen.
1990 hatten die meisten Länder Osteuropas dem Druck des Westens nachgegeben, das durchzuführen, was unter dem irreführenden Begriff „Reformen“ läuft. Einige hatten alle Bedingungen des Westens betreffend Hilfsmaßnahmen und Handel akzeptiert. Einige, besonders Bulgarien und Rumänien, hatten diese nur teilweise akzeptiert.
In Jugoslawien gab es allerdings Widerstand. Nach den Wahlen 1990 in Serbien und Montenegro blieb eine sozialistische oder sozialdemokratische Partei an der Macht. Die Bundesregierung blieb somit in den Händen von Politikern, die, wenn sie auch gelegentlich dem Druck nach „Reformen“ nachgaben, sich dennoch der Rekolonialisierung des Balkans widersetzten. Und viele von ihnen waren gegen die Aufteilung Jugoslawiens.
Nachdem das Jugoslawien des Frühjahres 1992 eine industrielle Basis und eine große Armee besaß, musste dieses Land zerstört werden.
Vom deutschen Standpunkt aus war das nichts anderes als die Fortsetzung einer Politik, die vom Kaiser und von den Nazis verfolgt worden war.
Wenn erst einmal Jugoslawien aufgesplittert und im Chaos versunken war, war es möglich, mit der Neuorganisation dieses zentralen Teils des Balkans zu beginnen. Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina sollten in die deutsche Einflusssphäre gelangen. Deutschland wollte Zugang zur Adria, und wenn möglich, falls die Serben überwältigt werden konnten, zum neuen Rhein-Donau-Kanal, auf dem jetzt Schiffe bis zu 3.000 Tonnen von der Nordsee in Schwarze Meer fahren können. Die südlichen Zonen Jugoslawiens sollten in die US-amerikanische Interessenssphäre kommen. Mazedonien, das die einzigen Ost-West- und Nord-Süd-Passagen des Balkangebirges beherrscht, sollte Mittelpunkt einer US-amerikanischen Region werden. Aber die US-amerikanische Sphäre sollte auch Albanien und, falls diese Gebiete von Serbien losgetrennt werden könnten, Sanjak und Kosovo umfassen. Einige US-amerikanische Planer denken bereits an das Entstehen eines Großalbaniens unter US- und türkischer Patronanz, das eine Kette kleiner muslimischer Staaten umfassen würde, möglicherweise Bosnien-Herzegowina, mit Zugang zur Adria.
Es überrascht nicht, dass Deutschland und die USA, obwohl sie bei der Aufsplitterung Jugoslawiens zusammengearbeitet haben, nun um die Kontrolle über verschiedene Teile dieses Landes streiten, besonders Bosnien-Herzegowina. In der Tat gibt es ein beträchtliches Hickhack um Einfluss und wirtschaftliche Vorteile in der gesamten Balkanregion. (11) Die meisten Zwistigkeiten gibt es zwischen Deutschland und den USA, den Partnern, die Jugoslawien auseinandergerissen haben. Aber wichtige Gesellschaften und Banken anderer europäischer Länder wollen auch ihren Teil vom Kuchen. Die Situation ähnelt der in der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen 1938 entstandenen. Einigkeit wurde erzielt über die Verwertung der Restbestände, um Zusammenstöße zu vermeiden, die unmittelbar zum Krieg geführt hätten.
Das Neue “Große Spiel” am Kaspischen Meer
Jugoslawien ist bedeutsam nicht nur wegen seiner eigenen Position auf der Landkarte, sondern auch in Hinblick auf Gebiete, zu denen es Zutritt gewährt. Und einflussreiche US-amerikanische Analytiker glauben, dass es nahe an einer Zone vitaler US-Interessen liegt – der Schwarzes Meer / Kaspisches Meer – Region.
Darin wird wohl die wirkliche Bedeutung der NATO-Einsatztruppen in Jugoslawien liegen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika versuchen jetzt, einen neuen Block aus europäischen und Ländern des Mittleren Ostens zusammenzubekommen. Sie präsentieren sich selbst als Führer einer informellen Gruppe von islamischen Ländern, die sich vom Persischen Golf bis zum Balkan erstrecken. Diese Gruppe schließt die Türkei ein, die von entscheidender Bedeutung in diesem neu entstehenden Block ist. Die Türkei ist nicht nur Teil des südlichen Balkans und eine Macht in der Ägäis. Sie grenzt auch an Irak, Iran und Syrien. Sie verbindet somit Südeuropa mit dem Mittleren Osten, wo die USA lebenswichtige Interessen zu haben glauben.
Die USA versuchen, diese informelle Allianz von islamischen Ländern im Mittleren Osten und Südeuropa auszuweiten, um einige der neuen Länder am südlichen Gürtel der ehemaligen Sowjetunion mit einzubeziehen.
Die Gründe dafür müssen nicht lange gesucht werden. Die USA sehen sich jetzt selbst in ein neues Rennen um Ressourcen auf der Welt involviert. Öl spielt eine besonders große Rolle in diesem Spiel. Mit dem Krieg gegen Irak haben sich die USA im Mittleren Osten sicherer als je zuvor festgesetzt. Der fast gleichzeitig stattfindende Zusammenbruch der Sowjetunion eröffnete die Möglichkeit der Ausbeutung der Ölvorkommen in der Region des Kaspischen Meeres durch den Westen.
Diese Region ist extrem reich an Öl- und Gasvorkommen. Einige westliche Analytiker gehen davon aus, dass sie für den Westen so wichtig werden wird wie der Persische Golf.
Länder wie Kasachstan verfügen über enorme Ölreserven, wahrscheinlich mehr als neun Milliarden Barrels. Kasachstan könnte wahrscheinlich 700.000 Barrels pro Tag fördern. Das Problem dort wie in anderen Ländern der Region ist – zumindest aus der Sicht der westlichen Länder – der Transport von Öl und Gas aus der Region auf sicheren Routen in den Westen. Die Beförderung von Öl und Gas ist nicht einfach ein technisches Problem. Es ist auch ein politisches.
Es ist heute von entscheidender Bedeutung für die Vereinigten Staaten von Amerika und andere Länder des Westens, freundschaftliche Beziehungen zu Ländern wie Kasachstan zu unterhalten. Noch wichtiger ist es zu wissen, dass alle erworbenen Rechte betreffend die Förderung von Öl oder den Bau von Pipelines für dessen Transport absolut respektiert werden, da die Beträge, die für Investitionen in diese Region erforderlich sind, sehr hoch sind.
Das heißt, dass westliche Produzenten, Banken, Pipelinegesellschaften etc. sich sicher sein wollen, dass die Region „politisch stabil“ ist. Sie wollen sich sicher sein, dass ihre neuen und mögliche weitere Interessen nicht durch politische Änderungen gefährdet werden.
In einem wichtigen Artikel in der NEW YORK TIMES wurde kürzlich beschrieben, was als “Großes Spiel” in der Region bezeichnet worden ist, indem eine Analogie zum Kampf zwischen Russland und Großbritannien im nordwestlichen Grenzbereich des indischen Subkontinents im 19. Jahrhundert hergestellt wurde. Die Verfasser des Artikels schrieben, dass
„… jetzt, in den Jahren nach dem Kalten Krieg, die Vereinigten Staaten von Amerika wieder die Vorherrschaft über das Gebiet eines ehemaligen Feindes errichten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat dazu geführt, dass die USA ihren militärischen Einflussbereich auf Osteuropa (durch die NATO) und das ehemals blockfreie Jugoslawien ausweiten konnten. Und – am wichtigsten von allem – das Ende des Kalten Krieges hat es den USA ermöglicht, seinen Einfluss auf den Mittleren Osten zu vertiefen.“ (12)
Offensichtlich haben verschiedene Gründe die westlichen Führer veranlasst, die Expansion der NATO zu betreiben. Einer davon, ein sehr wichtiger, war ganz klar ein wirtschaftlicher. Das wird umso offensichtlicher, wenn man genauer die parallele Entwicklung der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region am Kaspischen Meer und das Vordringen der NATO auf den Balkan betrachtet.
Am 22. Mai 1992 veröffentlichte die NATO eine bemerkenswerte Stellungnahme zu den damaligen Kämpfen in Transkaukasien. Ein Ausschnitt davon:
„Die Alliierten sind zutiefst besorgt über den fortschreitenden Konflikt und den Verlust von Menschenleben. Es kann keine gewaltsame Lösung für das Problem Nagorno-Karabakh oder die Differenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan geben, die es verursacht haben. Jede Maßnahme gegen Aserbaidschan oder jedes anderen Staates territoriale Integrität oder die Durchsetzung von politischen Zielen mit Gewalt wäre eine flagrante und unakzeptable Verletzung der Grundsätze des internationalen Rechts. Insbesondere könnten wir (die NATO) nicht hinnehmen, dass der anerkannte Status von Nagorno-Karabakh oder Nakhichevan einseitig durch die Anwendung von Gewalt geändert wird.“ (13)
Das war jedenfalls eine bemerkenswerte Stellungnahme. Die NATO gab in der Tat eine versteckte Warnung heraus, sie müsste „Schritte“ unternehmen, um Aktionen von Regierungen in der Region des Kaspischen Meeres vorzubeugen, die sie als Bedrohung lebenswichtiger Interessen des Westens betrachtete.
Zwei Tage, bevor die NATO diese unübliche Stellungnahme betreffend ihre Interessen an transkaukasischen Affären vorlegte, hatte die US-amerikanische Ölgesellschaft Chevron mit der kasachstanischen Regierung einen Vertrag über die Entwicklung der Ölfelder in Tengiz und Korolev im westlichen Teil des Landes abgeschlossen. Der Vertragsunterzeichnung waren zwei Jahre Verhandlungen vorangegangen. Aus zuverlässigen Quellen war zu erfahren, dass damals die Gefahr eines Abbruchs der Verhandlungen bestand, da Chevron Befürchtungen hinsichtlich der politischen Stabilität in der Region hatte. (14)
Zu dem Zeitpunkt, da die NATO ihre Stellungnahme abgab, hätte sie natürlich nur wenig Möglichkeiten gehabt, dieser Warnung Nachdruck zu verleihen. Fürs erste gab es noch keinen Präzedenzfall für eine große „out of area“ – Operation der NATO. Darüber hinaus waren die NATO—Einsatzkräfte weit entfernt von Transkaukasien. Ein kurzer Blick auf die Landkarte von Balkan, Schwarzem und Kaspischem Meer genügt, um festzustellen, dass sich die Situation ändert.
Nächste Phase: “Stabilisierung” des Ostens
Der derzeitige Druck in Richtung Erweiterung der NATO nach Mittel- und Osteuropa ist Teil der Bemühungen, das zu schaffen, was fälschlicherweise als “die neue Weltordnung” bezeichnet wird. Es ist die politisch-militärische Ergänzung der von den größeren Westmächten initiierten Wirtschaftspolitik und darauf gerichtet, die mittel- und osteuropäische Gesellschaft zu verändern.
USA, Deutschland und einige ihrer Verbündeten versuchen, eine wahrhaft globale Ordnung rund um die Wirtschaft des nordatlantischen Bereichs zu errichten. An sich ist an dieser Ordnung nichts besonders neues zu finden. Sie soll auf kapitalistischen Institutionen begründet sein. Das Neue daran ist, dass sie versuchen, ihre „alte Ordnung“ in die riesigen Gebiete auszudehnen, die durch den Zusammenbruch des Kommunismus ins Chaos gestürzt worden sind. Sie versuchen auch, in diese „Ordnung“ Länder einzubeziehen, die ehedem nicht voll integriert waren.
Kurz gesagt, sie versuchen, ein funktionierendes kapitalistisches System in Ländern zu errichten, die jahrzehntelang unter dem Sozialismus gelebt haben, oder in Ländern wie etwa Angola, die versucht haben, sich vom kapitalistischen System zu befreien.
Während sie versuchen, die “neue Weltordnung” aufzubauen, müssen die größeren westlichen Mächte sich auch damit beschäftigen, wie sie diese aufrecht erhalten können. So müssen sie letztlich zum Schluss kommen, ihre Militärmacht auf die neuen Bereiche Europas auszudehnen, die sie dem nordatlantischen Raum einverleiben wollen. Daher die vorgeschlagene Rolle der NATO in der neuen europäischen Ordnung.
Die zwei vorrangigen Architekten dessen, was ein neues, integriertes und kapitalistisches Europa abgeben soll, sind die USA und Deutschland. Die beiden arbeiten besonders eng zusammen in Osteuropa betreffenden Fragen. Sie haben eine enge Allianz gebildet, in der die USA von Deutschland nicht nur Hilfe bei der Bewältigung westeuropäischer, sondern auch osteuropäischer Angelegenheiten erwarten. Deutschland wurde, wie George Bush 1989 in Mainz sagte, ein „partner in leadership“ („Partner in der Führung“).
Diese enge Beziehung verbinden die Vereinigten Staaten von Amerika mit Deutschlands Vision dessen, was deutsche und US-amerikanische Analytiker jetzt als Mitteleuropa bezeichnen. Das ist eine Vision, die 1.) die Expansion der Europäischen Union in den Osten; 2.) die deutsche Führung in Europa; und 3.) eine Neuaufteilung der Arbeit in Europa vorsieht.
Die Idee einer Neuaufteilung der Arbeit ist besonders interessant. Aus deutscher Sicht wird Europa in der Zukunft in konzentrischen Kreisen um ein Zentrum organisiert sein, das Deutschland sein wird. Das Zentrum wird die in jeder Beziehung am höchsten entwickelte Region sein. Es wird das technisch am höchsten entwickelte und das reichste Gebiet sein. Es wird die höchsten Löhne, Gehälter und pro Kopf-Einkommen aufweisen. Und es wird nur die profitabelsten wirtschaftlichen Aktivitäten betreiben – die an den Schaltstellen des Systems. Auf diese Weise wird Deutschland die Leitung der industriellen Planung und Konzeption, der technologischen Entwicklung etc. übernehmen, also aller Aufgaben, die die Aktivitäten der anderen Regionen bestimmen und koordinieren.
Wenn man sich vom Zentrum wegbewegt, wird jeder konzentrische Ring tiefere Stufen von Entwicklung, Reichtum und Einkommen aufweisen. Der unmittelbar um Deutschland liegende Ring wird einen großen Anteil profitabler Industrie und Dienstleistung aufweisen. Er soll Teile von Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Norditalien umfassen. Die durchschnittlichen Einkommen werden hoch, aber niedriger als in Deutschland sein. Der nächste Ring soll die ärmeren Teile von Westeuropa und Teile von Osteuropa umfassen, mit einiger Industrie, Verarbeitung und Lebensmittelproduktion. Die Einkommen würden signifikant niedriger als im Zentrum sein.
Es muss nicht eigens gesagt werden, dass die meisten Gebiete Osteuropas im äußeren Ring liegen werden. Osteuropa wird dem Zentrum tributpflichtig sein. Es wird einige Industriegüter produzieren, aber vorrangig nicht für den eigenen Bedarf. Ein großer Teil seiner Produktion, zusammen mit Rohstoffen und sogar Nahrungsmitteln wird abtransportiert werden. Löhne und Einkommen werden entsprechend niedrig sein. Die durchschnittlichen Einkommen und Löhne werden niedriger sein als in der Vergangenheit.
Kurz gesagt, der größte Teil von Osteuropa wird im neuen integrierten System ärmer sein, als wenn die osteuropäischen Länder ihre eigenen wirtschaftlichen Entscheidungen entsprechend der angestrebten Entwicklung treffen könnten. Die einzig mögliche Entwicklung in Gesellschaften, die der Durchdringung durch mächtiges fremdes Kapital ausgesetzt und durch die Regeln des Internationalen Währungsfonds eingeschränkt sind, ist abhängige Entwicklung.
Das wird auch zutreffen auf Russland und die anderen GUS-Länder. Auch sie werden dem Zentrum tributpflichtig werden, und es wird keine Frage sein, dass Russland einen eigenen Weg der Entwicklung einschlagen wird. Es wird einige Industrie in Russland geben, aber keine Möglichkeit einer ausgeglichenen industriellen Entwicklung. Die Prioritäten der Entwicklung werden in zunehmendem Ausmaß von Außenstehenden vorgegeben. Westliche Unternehmen sind an der Förderung industrieller Entwicklung in Russland nicht interessiert, wie die Zahlen über ausländische Investitionen zeigen.
Das Hauptinteresse des Westens an der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) liegt in der Ausbeutung von deren Ressourcen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war somit ein entscheidender Schritt in der Eröffnung von Möglichkeiten der Ausbeutung. Die ehemaligen Republiken der UdSSR wurden viel verwundbarer, nachdem sie unabhängig waren. Des weiteren sind die westlichen Unternehmen nicht daran interessiert, die Ressourcen der GUS für den internen Bedarf zu entwickeln. Sie sind daran interessiert, diese in den Westen zu exportieren. Das trifft besonders zu auf Öl und Gas. Der Großteil der Erträge aus den Exporten würde somit fremden Ländern zukommen. Große Teile der ehemaligen Sowjetunion werden sich über kurz oder lang in einer Situation ähnlich der in den Ländern der Dritten Welt finden.
Was Deutschland dann mit der Unterstützung der USA anstreben wird, ist die kapitalistische Rationalisierung der gesamten europäischen Wirtschaft rund um das mächtige deutsche Zentrum. Wachstum und hohe Einkommen im Zentrum müssen durch untergeordnete Tätigkeiten an der Peripherie aufrecht erhalten werden. Aufgabe der Peripherie ist die Produktion von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sowie die Herstellung von Produkten für den Export in das Zentrum und Märkte in Übersee. Verglichen mit dem (West- und Ost-)Europa der 1980er Jahre soll das zukünftige Europa gänzlich umgestaltet werden, mit immer niedrigeren Entwicklungsstufen, je weiter man sich vom deutschen Zentrum wegbewegt.
So sind viele Teile Osteuropas wie auch ein großer Teil der ehemaligen Sowjetunion dazu bestimmt, für immer unterentwickelte oder relativ unterentwickelte Gebiete zu bleiben. Die Einführung der Neuaufteilung der Arbeit in Europa bedeutet, dass sie in wirtschaftlicher Rückständigkeit gehalten werden müssen.
Somit wird für Osteuropa und die Länder der GUS die Schaffung eines “integrierten” Europa in einem kapitalistischen Rahmen eine ungeheure Umstrukturierung erfordern. Diese Umstrukturierung könnte sehr profitabel für Deutschland und die USA sein. Sie wird große Rückschritte für die Länder bringen, die an den Westen angeschlossen werden.
Die Natur der laufenden Veränderungen lässt sich bereits erkennen an den Auswirkungen der Russland seit Anfang der 1990er Jahre auferlegten “Reformen“. Es wurde natürlich behauptet, diese „Reformen“ brächten wirtschaftlichen Erfolg. Das war von Beginn an eine hohle Phrase, da die auf Drängen des Westens eingeführten „Reformen“ nichts anderes waren als die üblichen Strukturänderungsmaßnahmen, die Weltbank und Internationaler Währungsfonds den Ländern der Dritten Welt auferlegen. Und sie hatten dieselben Auswirkungen.
Am meisten ins Auge springt der rapide Abfall der Lebensbedingungen. Ein Drittel der russischen Bevölkerung bemüht sich jetzt um das Überleben mit Einkommen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Die Produktion seit 1991 ist um mehr als die Hälfte abgesunken. Die Inflationsrate bewegt sich um jährlich 200 Prozent. Die Lebenserwartung eines russischen Mannes sank von 64,9 Jahren 1987 auf 57,3 Jahre 1994. (15) Diese Zahlen gleichen denen von Ägypten und Bangladesch. Und, unter den gegebenen Umständen besteht keinerlei Möglichkeit der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Zustände in Russland. Wie es aussieht, werden die Lebensbedingungen weiter absinken.
Es ist klar, dass in Russland und anderen Ländern weitverbreitet berechtigter Unmut über den Zusammenbruch des Lebensstandards herrscht, der in Folge der frühen Phasen der Umstrukturierungen aufgetreten ist. Das hat beigetragen zu einem wachsenden politischen Rückschritt in Russland und anderen Ländern. Das offensichtlichste Beispiel in jüngster Vergangenheit lässt sich am Ausgang der Parlamentswahlen im Dezember in Russland finden. Es ist ebenfalls klar, dass das weitere Absinken der Lebensbedingungen in der Zukunft zu weiteren Unmutsreaktionen führen wird.
Somit ist die Ausdehnung der alten Weltordnung nach Osteuropa und in die GUS ein unsicheres Unterfangen, voller Ungewissheit und Risiken. Die größeren westlichen Mächte sind außerordentlich besorgt, dass es gelingen möge, zumindest in einem gewissen Ausmaß, da sie den Erfolg, der an den Bedingungen der effizienten Ausbeutung dieser neuen Regionen zu messen sein werde, als teilweise Lösung ihrer eigenen schwerwiegenden wirtschaftlichen Probleme sehen. Es gibt eine immer stärker werdende Tendenz in den westlichen Ländern, ihre eigenen Probleme zu verdrängen, dafür die gegenwärtige internationale Konkurrenz um die Ausbeutung neuer Gebiete als mögliche Lösung für die weltweite wirtschaftliche Stagnation zu sehen.
Westliche Analytiker nehmen richtigerweise an, dass es in Zukunft politische Instabilität geben wird. So sagte Senator Bradley vor kurzem: „die Frage bezüglich Russland ist, ob die Reform rückgängig gemacht werden kann“. (16) Militäranalytiker zogen die einleuchtende Schlussfolgerung: je größer die Militärmacht, die gegen Russland zum Einsatz gebracht werden kann, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit, dass die „Reformen“ rückgängig gemacht werden. Das ist die Bedeutung des folgenden außergewöhnlichen Statements der Arbeitsgruppe für die NATO-Erweiterung:
„Die Sicherungsaufgabe der NATO ist nicht länger beschränkt auf die Aufrechterhaltung einer defensiven militärischen Haltung gegenüber einer angreifenden Macht. Es gibt keine unmittelbare militärische Bedrohung Westeuropas. Politische Instabilität und Unsicherheit in Mittel- und Osteuropa beeinträchtigen jedoch wesentlich die Sicherheit des NATO-Bereiches. Die NATO sollte helfen, die mittel- und osteuropäischen Wünsche nach Sicherheit und Integration in westliche Strukturen zu befriedigen, und damit den Stabilitätsinteressen ihrer Mitglieder zu dienen.“ (17)
Das stellt eine völlig neue Position der NATO dar. Es ist eine Position, die einige NATO-Länder bis vor nicht langer Zeit für unklug erachteten. Und sie ist alarmierend, da sie nicht auf die wirklichen Gründe für den gegenwärtigen Druck in Richtung NATO-Erweiterung eingeht. Wie schwer fassbar und sophistisch die Überlegungen der Arbeitsgruppe auch sein mögen, es scheint, dass die Debatte in vielen Ländern jetzt beendet ist. Es wäre natürlich viel besser, wenn die wirklichen Anliegen öffentlich diskutiert werden könnten. Aber zur Zeit können sie das nicht, und der Druck für die NATO-Erweiterung wird weitergehen.
Die Gefahren einer Erweiterung der NATO
Der vorliegende Vorschlag, die NATO nach Osten zu erweitern, schafft viele Gefahren.
Es soll festgehalten werden, dass viele führende Persönlichkeiten in den westlichen Ländern gegen die Erweiterung der NATO sind und auch wiederholt auf die Gefahren eines solchen Schrittes hingewiesen haben. Es ist wichtig zu erkennen, dass es ungeachtet der offiziellen Position der NATO und dem vor kurzem vorgelegten Bericht der Arbeitsgruppe eine starke Opposition gegen die NATO-Osterweiterung gibt. Zur Zeit sitzen allerdings die Befürworter der NATO-Erweiterung am längeren Ast.
Vier Gefahren einer NATO-Erweiterung sollen hier insbesondere diskutiert werden.
Die erste ist, dass die Erweiterung der NATO neue Mitglieder unter den Schirm der NATO bringen wird. Das bedeutet, das etwa die USA und die anderen westlichen Mitglieder verpflichtet sind, sagen wir die Slowakische Republik gegen einen Angriff zu verteidigen. Woher wird ein Angriff kommen? Ist die NATO wirklich darauf vorbereitet, die Slowakische Republik im Fall eines Konflikts mit einem anderen osteuropäischen Land zu verteidigen?
In einem Land wie den USA wäre das sehr unpopulär. Senator Kassebaum sagte im Oktober letzten Jahres:
„Ist das amerikanische Volk darauf vorbereitet zu gewährleisten, wie es das nordatlantische Bündnis vorsieht, dass ein bewaffneter Angriff gegen ein oder mehrere dieser potentiellen neuen Mitglieder als Angriff gegen alle betrachtet werden wird? (18)
Das Thema der Ausweitung des Schirms ist ein entscheidendes, da die NATO-Mächte Nuklearmächte sind. Die Arbeitsgruppe stellte fest, dass unter entsprechenden Umständen die Kräfte der NATO-Verbündeten auf dem Gebiet der neuen Mitglieder stationiert werden könnten. Und die Arbeitsgruppe schloss nicht aus – wie sie eigentlich hätte sollen – die Stationierung von Atomwaffen auf dem Territorium der neuen Mitglieder. Das Versäumnis, diese Möglichkeit auszuschließen bedeutet, dass sich die NATO auf einen gefährlichen Weg begibt, einen Weg, der die Risiken eines Nuklearkrieges vergrößert.
Das Schweigen der Arbeitsgruppe zu diesem Thema wird zweifelsohne von denen als Drohung aufgefasst werden, die der NATO nicht beitreten. Und, klarer Fall, der wichtigste von diesen ist Russland, das selbst Atomwaffen besitzt – wie auch Ukraine und Kasachstan.
Die zweite Gefahr besteht darin, dass diese Ausweitung die Beziehungen zwischen den USA und Russland in Frage stellen oder sogar zu einem neuerlichen Kalten Krieg führen wird. Während die NATO-Länder die Organisation als Verteidigungsallianz präsentieren, sieht Russland die Dinge ganz anders. Über vierzig Jahre betrachtete die Sowjetunion die NATO als offensive Allianz gerichtet gegen alle Mitglieder des Warschauer Pakts. In Russland herrscht allgemein die Auffassung, die NATO sei nach wie vor ein offensives Bündnis. Der frühere Außenminister Kozyrev machte das den NATO-Mitgliedern eindeutig klar. Wie sollte Russland die Dinge in Zukunft anders sehen?
Die Ausdehnung der NATO wird von Russland unweigerlich als Einkreisung betrachtet. Es entsteht der Eindruck, als würde davon ausgegangen, dass Russland unweigerlich wieder ein aggressiver Staat würde. Das könnte Russland viel eher in eine kriegerische Haltung treiben als sonst irgendetwas. Sie wird sicher nicht die Befürchtungen bezüglich der Absichten der NATO bei ihrer Osterweiterung beruhigen. Zur kürzlich gefallenen Entscheidung über die NATO-Expansion sagte der Direktor des Instituts für USA und Kanada der russischen Akademie der Wissenschaft vor kurzem:
„Russland ist noch immer eine Supermacht mit einem großen Gebiet und einer großen Bevölkerung. Es ist ein Land mit enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten, das über außergewöhnliche Potentiale im Guten wie im Schlechten verfügt. Aber jetzt ist es ein gedemütigtes Land auf der Suche nach Identität und Richtung. Zu einem gewissen Ausmaß werden der Westen und seine Position hinsichtlich der NATO-Erweiterung bestimmen, welche Richtung Russland einschlagen wird. Die Zukunft der europäischen Sicherheit hängt von dieser Entscheidung ab.“ (19)
Die dritte Gefahr bei der NATO-Erweiterung ist, dass diese die Umsetzung des START I – Abkommens und die Ratifizierung des START II – Abkommens untergraben wird, genauso wie auch andere Waffenkontroll- und –beschränkungsabkommen, die die Sicherheit in Europa verbessern sollten. Die Russen haben zum Beispiel klar gemacht, sie würden mit der Umsetzung des CFE-Abkommens (Abkommen über konventionell bewaffnete Kräfte) fortfahren, „wenn die Situation in Europa stabil ist“. Die Expansion der NATO nach Osteuropa ändert jedenfalls das bestehende Gleichgewicht in Europa signifikant. So setzen die NATO-Staaten viele Errungenschaften der letzten 25 Jahre im Bereich der Abrüstung aufs Spiel. Einige weisen auch überzeugend nach, dass die NATO-Expansion auch den Atomwaffensperrvertrag unterminieren wird.
Solche Konsequenzen werden Europa oder die Welt in der Zukunft kaum sicherer machen.
Die vierte vordringliche Gefahr bei der NATO-Expansion besteht darin, dass sie die Situation in Osteuropa durcheinander bringen wird. Die NATO behauptet, ihre Expansion würde helfen, Stabilität zu gewährleisten. Aber Osteuropa ist bereits, besonders nach den Veränderungen in den letzten fünf Jahren, ein unsicherer Platz. Die schrittweise Expansion der NATO nach Osteuropa wird die Spannungen zwischen den neuen Mitliedern und denen, die nicht aufgenommen worden sind, verschärfen. Das geht gar nicht anders. Diejenigen außerhalb der NATO müssen sich unsicherer fühlen, wenn die NATO im Nachbarland sitzt. Sie geraten dadurch nämlich in eine Pufferzone zwischen einer expandierenden NATO und Russland. Sie müssen darauf in einer angsterfüllten, ja sogar feindlichen Weise reagieren. Die schrittweise NATO-Expansion könnte sogar einen Rüstungswettlauf in Osteuropa provozieren.
Die Schwäche der Position des Westens
Näher betrachtet ist der Vorschlag, die NATO nach Osten auszudehnen, nicht nur gefährlich. Er hat auch etwas von einem Verzweiflungsakt an sich. Er ist offensichtlich irrational und kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Er kann zu einem zweiten Kalten Krieg zwischen den NATO-Mächten und Russland und möglicherweise zu einem Atomkrieg führen. Es muss davon ausgegangen werden, dass niemand das wirklich will.
Warum sollten dann die NATO-Staaten diesen Weg vorschlagen? Sollten sie nicht imstande sein, die mit ihrer Entscheidung zusammenhängenden Gefahren objektiv einzuschätzen?
Teil der Antwort mag sein, dass diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, an diese mit Scheuklappen herangegangen sind, ohne die größeren Zusammenhänge zu sehen, in denen sich die NATO-Erweiterung bewegen würde. Wenn man diese Entscheidung in größerem Zusammenhang betrachtet, ist der Vorschlag der NATO-Expansion offensichtlich irrational.
Bedenken Sie den größeren Zusammenhang. Die NATO schlägt vor, bestimmte Länder Mitteleuropas in naher Zukunft als volle Mitglieder aufzunehmen. Andere osteuropäische Länder sollen später dazukommen. Diese Erweiterung verfolgt zwei Zwecke. Der erste ist, „dem Versagen der russischen Demokratie“ vorzubeugen, d.h. das weitere Bestehen des gegenwärtigen Regimes oder eines ähnlichen in Russland zu gewährleisten. Der zweite ist, der NATO eine günstige Ausgangsposition für den Fall zu schaffen, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und dem Westen kommt.
In einem Zeitalter der Nuklearwaffen ergeben sich aus der Verfolgung des letzteren Zweckes vielleicht mehr Gefahren als während der Zeit des Kalten Krieges, da es jetzt mehrere Länder mit Atomwaffen gibt, die potentiell gegen die NATO gerichtet sein könnten. Das Argument, die NATO solle nach Osten expandieren, um dem Westen für den Fall eines nuklearen Krieges einen Vorteil zu verschaffen, ist nicht sehr überzeugend. Für die mitteleuropäischen Länder wäre es sicher erst recht nicht überzeugend, wenn offen darüber gesprochen würde. Diese Länder wären in den ersten Phasen eines solchen Krieges wahrscheinlich den schwersten Folgen ausgesetzt. Ihre Situation wäre ähnlich der Deutschlands im Kalten Krieg, wie die Antikriegsbewegung in den 1980ern zu begreifen begann.
Der Hauptzweck der NATO-Osterweiterung ist es, wie schon fast allgemein anerkannt wird, eine Umkehr der Entwicklung in Russland während der vergangenen fünf Jahre auszuschließen. Eine solche wäre das Ende des Traums eines dreigeteilten Europa, vereinigt unter der Fahne des Kapitalismus und in der Nachbarschaft eines riesigen Tummelplatzes für die Operationen des westlichen Kapitals gelegen. Die NATO-Präsenz in Mittel- und Osteuropa dient einfach dazu, zusätzlichen Druck auf jene auszuüben, die eine Änderung der derzeitigen Situation in Russland herbeiführen wollen.
Wie sich aber herausgestellt hat, bedeutet das auch, dass Russland und andere GUS-Länder in einen Zustand von Unterentwicklung und anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen einbetoniert werden sollen, unter dem Millionen Menschen furchtbar leiden werden, und aus dem kein Weg für die Gesellschaft führt, ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung nach Kriterien zu gestalten, in denen die Bedürfnisse der Menschen Vorrang haben.
Die schreckliche Ironie dieser Situation besteht darin, dass die westlichen Länder ihr Modell der wirtschaftlichen Organisation als Lösung für Russlands Probleme anbieten. Die realistischen Analytiker wissen natürlich genau, dass das nicht funktionieren kann. Sie sind ausschließlich an der Ausweitung westlicher Vorherrschaft in Richtung Osten interessiert. Und sie bieten dieses Modell für andere nur an, um zu betrügen. Aber „der Übergang zur Demokratie“, wie die Einführung der Regeln des Marktes oft genannt wird, spielt eine große Rolle im weltweiten Kampf um die öffentliche Meinung. Dieser Trick hat geholfen, die Politik des Westens gegenüber den Ländern der GUS zu rechtfertigen und weiterzuführen.
Die westlichen Länder selbst stecken in einer ausweglosen wirtschaftlichen Krise. Seit den frühen 1970er Jahren sanken die Profite, stagnierte die Produktion, begannen die Zahlen der Langzeitarbeitslosen zu steigen und der Lebensstandard zu sinken. Es gab natürlich die Konjunkturschwankungen. Aber was zählte, war der Trend. Der Trend des Wachstums der Bruttosozialprodukte in den größeren westlichen Ländern sinkt anhaltend seit der Rezession 1973 – 1975. In den USA zum Beispiel sank die Wachstumsrate von jährlich 4% in den 1950er und 1960er-Jahren auf 2,9% in den 1970er-Jahren und auf ca. 2,4% in den 1980ern. Derzeitige Wachstumsprognosen sagen ein weiteres Absinken voraus.
Die Situation in anderen westlichen Ländern unterschied sich nicht wesentlich. Das Wachstum verlief etwas langsamer, dafür stieg die Arbeitslosigkeit umso höher an. Die derzeitigen Arbeitslosenquoten im Westen bewegen sich im Durchschnitt um 11%, allerdings verbirgt sich mehr Arbeitslosigkeit hinter den Statistiken als Ergebnis der verschiedenen Pseudobeschäftigungspläne der Regierungen.
Westeuropa wie Nordamerika stecken seit einer langen Zeit in einer wirtschaftlichen Stagnation. Kapitalistische Wirtschaftssysteme können nicht Beschäftigung und Lebensbedingungen ohne relativ hohes Wachstum aufrechterhalten. In den 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den meisten westlichen Ländern hohe Wachstumsraten um 4 bis 5% jährlich. Dieses Wachstum ermöglichte hohe Beschäftigungsraten, Lohnerhöhungen und die Steigerung des Lebensstandards. Und es besteht kein Zweifel, dass die westlichen Länder große Fortschritte machten. Große Teile der werktätigen Klasse konnten annehmbare Lebensstandards erreichen. Die Mittel- und obere Klasse prosperierten, und in der Tat konnten viele ihrer Mitglieder einen Standard erreichen, der nur als luxuriös bezeichnet werden kann.
Die glorreiche Nachkriegszeit ist jedenfalls vorbei. Die von den Rockefellers gepriesene große „kapitalistische Revolution“ ist vorbei. „Humaner Kapitalismus“ ist vorbei. Das sinkende Wachstum hat uns zurückgeführt in das Zeitalter des „le capitalisme sauvage“. Es hat zu wirtschaftlichen und sozialen Krisen in jedem westlichen Land geführt. Es untergräbt die wichtigsten Errungenschaften der Nachkriegsperiode. In Europa wird der Wohlfahrtsstaat seit 15 Jahren von jenen attackiert, die die Lasten der Krise den weniger Begünstigten aufbürden wollen. In den USA wird das bescheidene „soziale Netz“ zum Schutz der Armen von den aggressiven und ignoranten Verteidigern der Unternehmerinteressen zerfetzt, die gleichfalls sicherstellen wollen, dass die Hauptlast der Stagnationskrise des Systems von jenen getragen wird, die es sich am wenigsten leisten können.
Der Westen steckt also selbst in einer Krise. Es ist keine vorübergehende Krise oder eine „länger anhaltende zyklische Schwankung“, wie akademische Apologeten es gerne hätten. Es ist eine Systemkrise. Das Marktsystem kann keine Prosperität mehr hervorbringen. Die Märkte, die die kapitalistische Wirtschaft in der Nachkriegsperiode in Schwung hielten, Autos, Konsumgüter, Bauprojekte etc. sind alle gesättigt, wie die statistischen Tabellen in jedem Land belegen. Das System hat keine neuen Märkte gefunden, die einen ähnlichen Aufschwung bewirken könnten. Darüber hinaus hat der technische Fortschritt in den letzten Jahren zu einer Vernichtung von Arbeitsplätzen in einem unvorstellbaren Ausmaß geführt. Es besteht keinerlei Möglichkeit, die Auswirkungen dieser Entwicklung zu kompensieren, neue Arbeitsplätze in genügender Anzahl und zu annehmbaren Bedingungen zu schaffen.
Regierungs- und Industrieführer in Westen sind sich dieser Situation in einem Punkt voll bewusst. Sie kennen die Statistiken. Sie kennen die Probleme. Sie können aber nicht erkennen, dass die Wurzel des Übels in der Tatsache liegt, dass das derzeitige kapitalistische System in einer Sackgasse steckt, nachdem es eine hohe Stufe von Produktion, Einkommen und Reichtum erreicht hat. Halbherzige Lösungen könnten gefunden werden, aber die westlichen Führer wollen nicht die politischen Zugeständnisse machen, die diese erfordern würden. Insbesondere werden die immensen Kapitalkonzentrationen in den westlichen Ländern von Leuten geführt, die aus ihrer Situation heraus nicht in der Lage sind zu erkennen, dass der Fehler im System liegt. Das würde von ihnen verlangen, der Beschneidung ihrer Macht zuzustimmen.
Aus diesen Gründen setzen die Regierungs- und Industrieführer blind ihre Politik fort und wollen nicht sehen und sind nicht bereit, politische Änderungen zu akzeptieren, die in Richtung einer vernünftigeren und humaneren Art, das Wirtschaftsleben zu organisieren, gehen könnten. Es ist diese Blindheit, begründet in Verwirrung und Angst, die die Denkfähigkeit der westlichen Führer hinsichtlich der Risiken einer Osterweiterung der NATO vernebelt hat. Das westliche System steckt in einer ausgeprägten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise. Und die Führer des Westens sehen offensichtlich in dem Riesenprojekt der Ausbeutung des Ostens die einzige verfügbare Möglichkeit, das wirtschaftliche Wachstum besonders in Westeuropa wieder in Schwung zu bringen.
Deswegen sind sie bereit, ein großes Risiko dafür einzugehen. Die Frage ist: wird die Welt die Risiken eines Ost-West-Konflikts und eines nuklearen Krieges akzeptieren, um einer Region wirtschaftliche Bedingungen aufzuzwingen, die überall sonst schon zusammenbrechen?
(Sean Gervasi ist 1996 gestorben).
ANMERKUNGEN
1. DEFENSE NEWS, 25 November 1995; see also Gary Wilson, „Anti-War Activists Demand: No More US Troops to the Balkans“, Workers World News Service, December 7, 1995.
2. See for instance: „NATO Expansion: Flirting with Disaster“, THE DEFENSE MONITOR, November/December 1995, Center for Defense Information, Washington, D.C.
3. Senator Richard Lugar, „NATO: Out of Area or Out of Business“, Remarks Delivered to the Open Forum of the US State Department, August 2, 1993, Washington, D.C.
4. „Changing Nature of NATO“, INTELLIGENCE DIGEST, 16 October 1992.
5. THE DEFENSE MONITOR, loc. cit., page 2.
6. „Bonn‘s Balkans-to-Teheran Policy“, INTELLIGENCE DIGEST, 11 – 25 August 1995.
7. Richard Holbrooke, „America, A European Power“, FOREIGN AFFAIRS, March/April l995, page 39.
8. The crucial point is that Eastern Europe and the countries of the former USSR are to adopt the institutions prevailing in Western Europe, i.e., capitalism and parliamentary democracy.
9.Holbrooke, loc. cit., page 43.
10. See National Security Decision Directive, „United States Policy toward Yugoslavia“, Secret Sensitive, (declassified), The White House, Washington D.C., March 14, 1984.
11 Joan Hoey,“The U.S.‘Great Game‘ in Bosnia“, THENATION, January 30, 1995.
12.Jacob Heilbrunn e Michael Lind, „The Third American Empire“, THE NEW YORK TIMES, January 2, 1996.
13. „The Commercial Factor Behind NATO‘s Extended Remit“, INTELLIGENCE DIGEST, May 29, 1992.
14. Idem.
15 Senator Bill Bradley, „Eurasia Letter: A Misguided Russia Policy“, FOREIGN POLICY, Winter 1995-1996, page 89.
16. Ibid. page 93.
17 Draft Special Report of the Working Group on NATO Enlargement, May 1995.
18. Quoted in THE DEFENSE MONITOR, loc. cit., page 5.
19. Dr. Sergei Rogov, Director of the Russian Academy of Sciences‘ Institute of USA and Canada Studies, quoted in DEFENSE MONITOR, loc. cit. page 4
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Orginalartikel Why Is NATO In Yugoslavia? vom 29. August 2001 auf GlobalResearch
Sean Gervasi war ein amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, politischer Analyst und Aktivist. Er lehrte in Cambridge, Oxford, an der London School of Economics, an der Pariser Universität und am Brooklyn College. Er half mit, die britische Bewegung gegen den Krieg in Vietnam ins Leben zu rufen.
Er arbeitete für eine Reihe von Komitees der UNO, darunter das Büro des Kommissars für Namibia (Friedensnobelpreisträger Sean McBride), das Komitee für Entkolonialisierung und das Zentrum gegen Apartheid, wo er supergeheime Handelsbeziehungen von Waffenhändlern der Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Apartheidregime in Südafrika aufdeckte. Er arbeitete in Zimbabwe, Mozambique und Sambia und mit den Befreiungsbewegungen in Angola und Südafrika.
Nachdem er in der Ära Reagan zwangsweise aus der UNO entfernt worden war, begann er die Destabilisierung Osteuropas und der Sowjetunion zu untersuchen. Ab 1992 leitete er das Forschungsinstitut für Internationale Politik und Wirtschaft in Belgrad, Jugoslawien, wo er 1996 starb, während er daran arbeitete, die Pläne der Vereinigten Staaten von Amerika/Deutschlands/der NATO aufzudecken, die Region zu rekolonialisieren.