Fragen der Wahlmöglichkeit
Andrew J. Bacevich – Stephen Kinzer
Präsident Barack Obama verdankt seine Wahl im Jahr 2008 zum großen Teil der tiefen Sehnsucht unter den Bürgern nach einer neuen Außenpolitik in der Folge des katastrophalen Irakkriegs. Wenn er jedoch das Weiße Haus im kommenden Jahr verlässt, wird diese Politik wie bei seinem Einzug überwiegend mit dem bewaffneten Konflikt im Mittleren Osten befasst sein.
Das ist kein neuer Zustand. In seinen Tanner-Vorlesungen, die er vor kurzem am Bowen H. McCoy Family Center for Ethics in Society der Stanford University hielt, und in seinem neuen Buch America´s War for the Greater Middle East stellt der Armeeoberst im Ruhestand und Wissenschaftler für Internationale Beziehungen Andrew J. Bacevich die heutigen Engagements in den Zusammenhang eines Jahrzehnte langen Strebens nach Beherrschung der muslimischen und arabischen Welt durch die Vereinigten Staaten von Amerika.
Der Journalist Stephen Kinzer begleitete Bacevich bei seinem Exkurs in die Geschichte. Warum und wie wurden die Vereinigten Staaten von Amerika auf den Mittleren Osten fixiert? Warum war das Land bereit, dort soviel Blut – eigenes und fremdes – zu vergießen? Und haben wir etwas daraus gelernt?
—Die Herausgeber (des Boston Review)
Stephen Kinzer: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Vereinigten Staaten wiederholt an Interventionen im Mittleren Osten beteiligt. Sie sehen diese als Teil eines langen kontinuierlichen Prozesses. Warum glauben Sie, dass diese Sichtweise korrekt und aufschlussreich ist?
Andrew J. Bacevich: Wenn wir diese einzelnen Aktionen, Kampagnen und Operationen als Einzelereignisse betrachten, dann können wir nicht nur nicht bewerten, wie sie zueinander in Verbindung stehen, sondern auch das Ausmaß, in dem die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika in dem, was ich als Größeren Mittleren Osten bezeichne, ein episches Scheitern bewirkt hat.
SK: Was hat die Vereinigten Staaten von Amerika dazu gebracht, diesen Krieg nicht nur zu beginnen, sondern ihn auch so lange fortzusetzen?
AB: Die Geschichte, die ich erzähle, beginnt 1980 mit der Verkündung der Carter-Doktrin. Der ursprüngliche Zweck der Doktrin war klar: sicher zu stellen, dass keine feindliche Kraft den Persischen Golf kontrollieren kann. Dieses Ziel stand in direktem Zusammenhang mit Erdöl, der Krieg um den Größeren Mittleren Osten began also als ein Krieg um Erdöl. Nichtsdestoweniger stand aber viel mehr auf dem Spiel, zumindest soweit es die Amerikaner betraf. Die Amerikaner begriffen klar, dass unser Lebensstandard, die Privilegien und Voraussetzungen, die wir als Teil unseres angestammten Geburtsrechts betrachteten, Reserven von billiger Energie im Überfluss erforderten. Im Jahr 1980 sah es so aus, als ob unser Lebensstandard davon abhing, dass wir sicheren Zugang zu den Erdölreserven im Persischen Golf hatten. Nun, wenn die Carter-Doktrin bedeutete, dass die Kontrolle des Persischen Golfs anderen verwehrt bleiben sollte – vorbehaltlos hieß es dort – so stellte sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte ziemlich schnell heraus, dass die Vereinigten Staaten von Amerika selbst die Kontrolle in die Hand nehmen würden.
SK: Lag Carter falsch in dem Glauben, dass Kontrolle über die Ressourcen des Mittleren Ostens von wesentlicher Bedeutung für das Wohlergehen Amerikas war?
AB: Er lag richtig in der Annahme, dass die Amerikaner zu diesem Schluss gekommen waren. Am 15. Juli 1979 bot Carter eine Alternative in seiner berühmten „Krise des Vertrauens“-Rede an, in der er sagte, dass das Land insgesamt eine falsche Wendung genommen hatte. Die Amerikaner, so Carter, waren zu sehr gefangen in der Ansammlung materieller Güter und waren abgewichen von der Definition der Freiheit, die die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika beflügelt hatte. Er forderte seine Landsleute auf, auf den Pfad der Rechtschaffenheit zurückzukehren und betonte, dass die Mittel, um das zu tun, bereit zur Verfügung stünden. Indem er sich auf die anhaltende Energiekrise bezog, sagte Carter, dass wenn wir unsere Gürtel enger schnallen, wenn wir lernen, innerhalb unserer Gegebenheiten zu leben, wir nicht nur unsere Abhängigkeit vom Erdöl des Persischen Golfs –überhaupt von Erdöl aus dem Ausland – beenden, sondern auch die wahre Freiheit wieder entdecken würden. Aber die Rede erwies sich als Misserfolg. Im Januar 1980 hatte Carter selbst akzeptiert, dass die Amerikaner nicht willens waren, mit weniger auszukommen, um tugendhaft zu werden. Sie waren sehr zufrieden mit der herrschenden Vorstellung von Freiheit auf der Grundlage von Erwartungen von mehr.
Unser Militär hat die Kapazität, diesen Krieg endlos fortzusetzen. Unser Militär hat nicht die Kapazität, um ihn zu beenden.
SK: Gab es in dem Zeitraum zwischen der Carter-Administration und den Attacken von 9/11 jemals einen ernstzunehmenden Versuch eines Präsidenten, die Vereinigten Staaten von Amerika vom Pfad in Richtung Beherrschung des Größeren Mittleren Ostens abzubringen?
AB: Nein. Es gab drei Präsidentschaften in diesem Zeitraum: die zwei Amtszeiten Ronald Reagans, die eine Amtszeit von George H.W. Bush, und dann die zwei Amtszeiten Bill Clintons. Die wirklich wichtigen waren die Amtszeiten Reagans und Clintons. Wie sehr auch Parteianhänger Unterschiede zwischen einem vorgeblich konservativen Republikaner und einem vorgeblich liberalen Demokraten anführen möchten, ihre Ansichten über die Welt und den Platz Amerikas in dieser glichen einander viel mehr als dass sie sich unterschieden. Beide Präsidenten waren ausdrücklich der Prämisse verpflichtet, dass auf irgendeine Weise die Anwendung von amerikanischer Militärgewalt die Dinge im Größeren Mittleren Osten bereinigen würde. Allerdings hatte keiner von ihnen auch nur die mindeste klare strategische Vision, wie das vor sich gehen sollte.
Beide Präsidentschaften wiesen ein Muster des Interventionismus auf, das im Rückblick bizarr erscheint. Unter Reagan gab es etwa eine friedenserhaltende Mission im Libanon, die mit dem Debakel der Beiruter Bombenanschläge endete, geheime Unterstützung für Saddam Hussein im Iran-Irak-Krieg und letztlich offene militärische Aktion gegen den Iran während des so genannten Tanker-Kriegs, die Iran-Contra-Affäre und einen kurzen strafweisen Angriff gegen Libyen. Diese militärischen Bemühungen erreichten fast nichts, weil sie in keinerlei Zusammenhang standen mit einem kohärenten Konzept eines übergeordneten Ziels.
Viele derselben Vorwürfe treffen zu auf die Clinton-Administration. Wiederum jede Menge Aktivismus: eine von Bush begonnene Intervention in Somalia, vermasselt von Clinton, die in einer Niederlage endet, Interventionen in Bosnien und Kosovo, fortgesetztes Rangeln mit Saddam Hussein, das sich zu mehrfachen Bombardierungen auswuchs, und frühe Angriffe gegen al-Qaeda, wobei ich mich hier auf den Angriff mit Marschflugkörpern auf al-Qaeda-Ausbildungslager in Afghanistan beziehe. Und wieder, im Rückblick betrachtet, ein beträchtlicher Aufwand von Energie mit nicht viel, was im Gegenzug vorzuweisen ist.
Zwischendrin kam George H.W. Bush an die Gestaltung einer strategischen Vision näher heran als sowohl sein Vorgänger als auch sein Nachfolger. Als 1990 Saddam Hussein in Kuwait einmarschierte, organisierte Bush eine riesige Koalition, um den Irak aus Kuwait hinauszuwerfen. Sobald das gelungen war, gab Bush bekannt, dass jetzt eine neue Weltordnung gilt. Das stellte sich als voreilige Beurteilung heraus. Die Amerikaner erinnern sich an Operation Desert Storm als einen großen Sieg. In einem operativen Sinn erreichte sie beträchtlichen Erfolg, aber politisch grub sie uns tiefer in ein Loch hinein.
SK: Ging es bei den Interventionen dieser drei Präsidenten im Mittleren Osten noch immer hauptsächlich um Erdöl?
AB: Die Gründe wurden diffuser. Ja, Erdöl blieb ein Kerninteresse – nicht nur Öl, das für den Eigenkonsum bestimmt war, sondern auch Öl für den Rest der industrialisierten Welt, das heißt viele unserer Alliierten. Aber auf dieser Stufe gibt es noch etwas anderes: eine Anstrengung, wiewohl schlecht überlegt und noch unausgereift, Kapital aus dem Ende des Kalten Kriegs zu schlagen, den Anspruch auf die Position der einzigen Supermacht, mit der militärischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten von Amerika als ultimativer Manifestation dieses Status. Die 1980er und 1990er Jahre hindurch versuchten die Vereinigten Staaten von Amerika, die Hegemonie über einen großen Teil der islamischen Welt sicherzustellen. Aber wiederum – es gab kein strategisches Gesamtkonzept. Es war eine Zufallspartie. Es war arrogant. Es wurde in Angriff genommen ohne jegliche Einschätzung der damit verbundenen Schwierigkeiten oder der Anstrengungen, die eine Hegemonie tatsächlich erfordern würde.
SK: Wie hat die Allianz der Vereinigten Staaten von Amerika mit Israel unsere Präsenz im Mittleren Osten geformt?
AB: Zumindest hat sie die Dinge ungemein kompliziert. Ein Glaube an das Existenzrecht Israels – ein Glaube, den ich teile – hat die fehlgeleitete Überzeugung gefördert, dass die Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika und Israels in jeder Beziehung übereinstimmen. Republikaner wie Demokraten sind Anhänger dieser Sichtweise. Sie in Frage zu stellen bedeutet in diesem Land, sich auch nur für geringfügige politische Ämter unwählbar zu machen. Dennoch sind in wichtigen Bereichen unsere Interessen seit langem voneinander abgewichen. Ein offenkundiges Beispiel ist das Elend der Palästinenser, das für uns eine Angelegenheit von beträchtlicher Dringlichkeit darstellt. Warum? Weil Gegner der Vereinigten Staaten von Amerika in der islamischen Welt, in erster Linie islamische Radikale, die Palästinenser anführen, um ihre Gegnerschaft zum Westen zu rechtfertigen. Dieser Anspruch mag ernsthaft sein oder nicht, er könnte sehr wohl auch zynisch sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben jedenfalls ein grundlegendes Interesse daran, diese Behauptung in Frage zu stellen. Schaffen wir einen Palästinenserstaat, einen mit realer Souveränität, und schauen wir dann, welche Argumente für Antiamerikanismus übrig bleiben. Ich verstehe, dass aus einer israelischen Perspektive die Dinge anders aussehen könnten. Wäre ich ein israelischer Jude, dann wäre ich wahrscheinlich gegen eine Zwei-Staaten-Lösung, weil ich das Risiko für Israel als zu groß betrachtete. Es ist allerhöchste Zeit für die Amerikaner, zwischen dem, was gut ist für Israel, und dem, was gut ist für die Vereinigten Staaten von Amerika unterscheiden zu lernen.
SK: Wir hören oft, dass die Welt sich nach den Attacken des 11. September dramatisch geändert hat und dass diese Attacken Amerikas Rolle und Verpflichtungen in der Welt neu gestalteten. Waren es wirklich die Attacken des 11. September, die alles änderten, oder war es in Wirklichkeit unsere Reaktion auf diese?
AB: Die Ereignisse des 11. September haben nicht alles geändert. Sie öffneten jedenfalls eine Bresche für die Administration George W. Bush, das Streben nach amerikanischer Vorherrschaft in der islamischen Welt voranzutreiben. Unter Reagan, dem ersten Bush und Clinton war die Militärpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Region planlos, episodisch und selten sehr ernsthaft. Die Bush-Administration brachte Leute an die Macht, die voll davon überzeugt waren, dass zum Einsatz gebrachte amerikanische militärische Überlegenheit die Vereinigten Staaten von Amerika in die Lage versetzen könnte, das zu erreichen, was Bushs unmittelbare Vorgänger nicht erreichen konnten. Nach dem 11. September verloren Dick Cheney, Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz keine Zeit, eine Chance zu nützen, die Angst geschaffen hatte. Der weltweite Krieg gegen den Terror, wie sie ihn bezeichneten, war das hauptsächliche Ergebnis. Sie glaubten, dass ein Einmarsch in den Irak – der natürlich überhaupt nichts mit dem 11. September zu tun hatte – den Schlüssel zu noch größerem Erfolg anderswo bildete. Sie irrten sich, gelinde ausgedrückt.
SK: Präsident Obama erbte diese ganze Geschichte. Er scheint zwischen mehr und weniger interventionistischen Impulsen hin- und hergeschwankt zu haben. Wie beurteilen Sie seine Präsidentschaft, seinen Zugang zum Mittleren Osten und besonders seinen Umgang mit Krisen, die am Beginn seiner Amtszeit auftauchten?
AB: Sie müssen daran denken, dass Präsident Obama so gut wie nichts über die nationale Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika wusste, als er sein Amt antrat. Das ist keine Abwertung, man könnte dasselbe über George W. Bush, Bill Clinton und Ronald Reagan sagen. George H.W. Bush war der letzte Präsident, der einiges Verständnis von dem ins Amt mitbrachte, was dieses erforderte. Die anderen lernten grundsätzlich durch die Arbeit. Präsident Obamas Anfangszeit war gekennzeichnet durch außerordentliche Naivität: die Rede in Kairo, das Versprechen einer neuen Öffnung zu Russland, die neue Ausrichtung der Beziehungen der Vereinigten Staaten von Amerika mit China, das Angebot der geöffneten Hand statt der geschlossenen Faust an den Iran.
Der Präsident schien an seine eigenen Presseaussendungen zu glauben, vielleicht nicht ohne Grund. Erinnern Sie sich an die außergewöhnlichen Erwartungen – nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern in der ganzen Welt – die seinen Einzug in das Weiße Haus begleiteten. Allerdings lernte Obama bald, dass Reden und Willenserklärungen nur begrenzte Wirkung haben. Ich denke, dass er auch lernte, dass die Macht des sogenannten mächtigsten Mannes der Welt begrenzt ist, nicht nur außerhalb, sondern noch eindrucksvoller innerhalb unserer Grenzen, und besonders im Regierungsviertel in Washington.
Obama übernahm einen Krieg um den Größeren Mittleren Osten, der schon gut in seinem dritten Jahrzehnt stand. Obwohl ich vermute, dass seine starke persönliche Neigung dahin ging, uns gänzlich aus einem Schlamassel herauszuziehen, das er nicht verursacht hatte, kam ihm die Realität in die Quere. So haben wir das merkwürdige und traurige Phänomen eines Präsidenten erlebt, welcher sagt, dass er nicht an endlosen Krieg glaubt – dass es wichtigere Dinge gibt, die hier im Land gemacht werden müssen – und diesen praktisch bestärkt.
George W. Bush und die Militaristen seiner Administration glaubten echt, dass Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika im Irak einen großen Veränderungsprozess in Gang setzen würden. Als Obama Präsident wurde, war klar, dass das nicht passieren würde. Er verwarf die Auffassung, dass in Länder einzumarschieren und sie zu besetzen einen Weg darstellt, um sie zu verändern. Eher der Meinung, dass niedrigschwelligere militärische Vorgangsweisen irgendwie zu günstigeren Ergebnissen führen könnten, entschied er sich für andere Methoden: unbemannte Luftfahrzeuge als Mordinstrumente, Überfälle durch Sonderkommandos und Einsatz von Streitkräften der Vereinigten Staaten von Amerika für die Ausbildung und Ausstattung von lokalen Armeen. Die geänderte Vorgangsweise hat sich nicht bewährt. Der Krieg in Afghanistan, den Obama zu einem erfolgreichen Ende zu bringen versprochen hatte, und der Krieg im Irak, den er als dumm bezeichnet hatte, ziehen sich noch immer dahin. Obama wird fast sicher beide seinem Nachfolger hinterlassen.
Denken Sie daran: hier haben wir die zwei längsten Kriege in der amerikanischen Geschichte, und beide gehen gleich weiter. Das ergibt eine außergewöhnliche Anklage nicht nur gegen Obama, sondern insgesamt mehr gegen die Politik der Vereinigten Staaten.
SK: Ändert es etwas an der Dynamik des Kriegs um den Größeren Mittleren Osten, dass wir eine entscheidende Abkehr von der Abhängigkeit vom Erdöl der Region vollzogen haben?
AB: Bedauerlicherweise setzt sich ein Unternehmen, das begonnen wurde, weil das Erdöl des Persischen Golfs als lebenswichtig für die amerikanische Lebensweise erachtet wurde, ungeachtet der Tatsache fort, dass besagtes Erdöl offenkundig nicht lebenswichtig ist. Man würde annehmen, dass diese Tatsache eine große ernsthafte Debatte in Washington anregen würde. Wenn Energiesicherheit für uns wichtig ist – wenn Öl und Gas tatsächlich lebenswichtig bleiben für unseren Lebensstandard, ob es uns passt oder nicht – dann müsste wohl die Gewährleistung der Sicherheit von Venezuela und Kanada den Vorrang übernehmen gegenüber der Sicherheit von Plätzen wie Saudiarabien.
Ich bin ständig perplex, weil man im Regierungsviertel davon ausgeht, dass die Vereinigten Staaten von Amerika in diesen Angelegenheiten keine Wahlmöglichkeit haben: dass wir heute im Mittleren Osten sind, weil wir müssen. Immerhin sind wir das mächtigste Land der ganzen Welt. Wir sind vielleicht nicht die allmächtige Supermacht, für die Dick Cheney oder Donald Rumsfeld uns hielten, aber wir werden weiterhin von anderen beneidet. Es ist schwer zu verstehen, dass unser Status an der Spitze der globalen Ordnung uns keine Wahlmöglichkeit lässt. Ich denke, das sollte doch gehen. Und ich denke, dass das auch tatsächlich geht.
SK: Wie passt unser Zugang zum Größeren Mittleren Osten in den letzten Jahrzehnten mit unserem breiteren Herangehen an die Welt zusammen?
AB: Die augenscheinliche Militarisierung der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Region hat unsere Sichtweise der Welt insgesamt verzerrt. Viele Menschen, und ich bin einer von diesen, glauben, dass dieses Jahrhundert in gewissem Sinn das asiatische Jahrhundert sein wird: dass das zentrale Thema unserer Zeit sein wird, ob asiatische Spieler – wie China, Indien, Südkorea und Japan – und nichtasiatische Spieler (einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika) gemeinsam existieren können. Wettbewerb ist unvermeidlich. Die große Herausforderung wird sein zu gewährleisten, dass der Wettbewerb friedlich bleibt. Wir müssen einen katastrophalen Krieg in Asien vermeiden. Die Umleitung von amerikanischer Aufmerksamkeit und Ressoucen an Orte wie Afghanistan, wo unsere Interessen relativ gering sind, ist eine Ablenkung. Die Gewährleistung langfristiger Stabilität in Asien ist das Problem, das nachhaltige Aufmerksamkeit erfordert. Ich gehe nicht davon aus, dass die Antwort in weniger Stiefeln am Boden im Größeren Mittleren Osten und mehr Bombern und Flugzeugträgern in Asien besteht. Ich denke nicht eine Sekunde lang, dass amerikanische militärische Macht allein eine Antwort auf die asiatischen Herausforderungen geben kann. Amerikanische Militärmacht kann meiner Ansicht nach helfen, die Art von Ausbruch zu vermeiden, die zweimal im zwanzigsten Jahrhundert zu solchen Katastrophen geführt hat. Meine Auffassung ist, dass wir zwanghaft das falsche Spiel spielen, während ein anderes viel wichtigeres Spiel weniger Aufmerksamkeit bekommt, als es verdient.
SK: Sie schlagen vor, dass die Amerikaner die Grenzen der amerikanischen Macht anerkennen. Sind die Amerikaner psychologisch vorbereitet auf ein bescheideneres Herangehen an die Welt?
AB: Nein, das sind sie nicht. Die Menschen Amerikas sind schlecht informiert, und dieser Zirkus alle vier Jahre namens Präsidentenwahl macht die Sache noch schlimmer, da er sich zu einem Wettbewerb entwickelt, in dem sich die Kandidaten überbieten, ihre Treue zum amerikanischen Exzeptionalismus zu verkünden, während sie betonen, dass es zur amerikanischen globalen Führung keine sinnvolle Alternative geben kann. Sie alle versprechen, im Fall ihrer Wahl sicherzustellen, dass unser Militär nicht nur das beste, sondern das stärkste Militär der Welt bleibt, jetzt und für alle Zeit, als ob ein Mangel an militärischer Stärke irgendwie die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika beeinträchtigt hätte. Wir, das Volk, haben alle diese betrügerischen Auffassungen in uns aufgesaugt. Das Ergebnis ist eine politische Atmosphäre, in der Grenzen – die Vorteile von Zurückhaltung, eine Beurteilung, was militärische Macht nicht bewirken kann – keine Rolle spielen. Es gibt eine ehrenwerte amerikanische Tradition, die die Grenzen amerikanischer Macht miteinbezieht. Es ist allerdings so, dass es seit der Ära Ronald Reagan und dem Ende des Kalten Kriegs politisch unzulässig geworden ist, sich zu dieser Tradition zu bekennen.
SK: Geht der Krieg für den Größeren Mittleren Osten einem Ende entgegen? Verlieren wir?
AB: Wir gewinnen ihn sicher nicht. Ich kann mir schwer vorstellen, wie jemand argumentieren kann, dass er gut läuft und das Ende in Sicht ist. Vorherzusagen, wohin sich die Dinge entwickeln werden, ist dennoch sehr schwierig. Heute kämpfen wir nicht nur im Irak und in Afghanistan, sondern auch in Syrien. Unser militärischer Fußabdruck in Nord- und Westafrika weitet sich aus. Obamas Bemühungen, uns herauszuziehen, sind nicht nur gescheitert, sie wurden grundlegend eingestellt. Seine neuliche Ankündigung, dass Soldaten der Vereinigten Staaten von Amerika über die Inauguration seines Nachfolgers hinaus in Afghanistan bleiben werden, ist eine Kapitulationserklärung seinerseits. Der Krieg wird also in irgendeiner Form weitergehen.
Nichtsdestoweniger ist es ziemlich klar, dass die Amerikaner keinen besonderen Appetit darauf haben, große Zahlen von Soldaten der Vereinigten Staaten von Amerika auf dem Boden zu stationieren, was zwangsläufig zu bedeutenden amerikanischen Opferquoten führen würde. Da bleibt den Politikern das Ringen um taktische Alternativen, die den Effekt haben, die Dinge irgendwie am Köcheln zu halten. Nichts wird entschieden.
Wie das alles weitergehen wird, kann man unmöglich sagen. Wir sollten nicht die Möglichkeit des Unerwarteten ausschließen. Stellen Sie sich vor, was Gott verhüten möge, dass eine neue Attacke im Stil von 9/11 geschieht. Was wäre die amerikanische Reaktion darauf? Ich weiß es nicht. Stellen Sie sich vor, dass ISIS zu einem realen Staat und zu einem permanenten Magneten für Jihadismus wird. Welche Art von Reaktion würde das hervorrufen?
Egal, was die Zukunft bringen wird, ich sehe nicht, wie weitere militärische Anstrengungen der Vereinigten Staaten von Amerika erfolgreich sein werden, wo die in der Vergangenheit nichts gebracht haben. Unser Militär hat die Kapazität, diesen Krieg endlos fortzusetzen. Unser Militär hat nicht die Kapazität, um ihn zu beenden.
Orginalartikel „Matters of Choice“ vom 4. April 2016