Die Mitte hält nicht stand

„Den Besten fehlt jede Überzeugung, während die Schlechtesten voller leidenschaftlicher Besessenheit sind.“

Gibt es eine bessere Beschreibung dessen, was jetzt in Israel geschieht?

Und doch schrieb der irische Dichter W. B. Yeats diese Worte schon vor fast hundert Jahren.

YEATS SCHRIEB das Gedicht kurz nach dem furchtbaren Schlachten im Ersten Weltkrieg und nach der Zerstörung, die er angerichtet hatte. Der Dichter glaubte, die Welt sei an ihr Ende gekommen, und erwartete die Wiederkunft Christi.

Zu diesem Chaos gehört auch, so sieht er im selben Gedicht voraus: „die Mitte hält nicht stand“. Ich denke, dass er diese Metapher den Schlachten früherer Zeiten entnommen hat, als die miteinander kämpfenden Armeen einander in zwei Linien gegenüberstanden. Die Hauptkraft war in der Mitte und die beiden Flanken beschützten sie.

In der klassischen Schlacht versuchte jede Seite eine der Flanken des Feindes zu vernichten, um dann die Mitte zu umzingeln und anzugreifen. Solange die Mitte standhielt, war die Schlacht nicht entschieden.

In Israel setzt sich wie in den meisten modernen Demokratien die Mitte aus zwei oder mehr etablierten Parteien zusammen: Eine ist ein wenig links und die andere ein wenig rechts. Die Linken bilden in Israel die klassische Arbeitspartei und verstecken sich jetzt hinter dem Namen „Zionistisches Lager“. (Allein ihr Name schließt automatisch die arabische Minderheit von etwa 20% der Wählerschaft aus.) Die Rechten bilden den Likud, die gegenwärtige Inkarnation der alten „revisionistischen“ Partei, die vor fast hundert Jahren von dem liberalen Nationalisten Wladimir Jabotinsky nach dem Muster des italienischen Risorgimento, der italienischen Wiedergeburt, gegründet wurde.

Das war die israelische Mitte. Sie wurde durch einige im Zusammentreffen einiger Umstände entstandene Parteien unterstützt.

Seit dem Tag ihrer Gründung regierte sie Israel. Eine Partei bildete die Regierung, die andere agierte als loyale Opposition und sie tauschten alle paar Jahre ihre Rollen, wie sich das in einer anständigen Demokratie gehört.

An den „Flanken“ waren arabische Parteien (die jetzt erzwungenermaßen vereinigt sind), dazu die kleine, aber mit Prinzipien versehene Meretz auf der linken und einige religiöse und protofaschistische Parteien auf der rechten Flanke.

Es war ein „normales“ System, eines, wie es das in vielen anderen demokratischen Ländern gibt.

Nicht mehr.

IN MITTE-LINKS herrscht jetzt eine Stimmung von Resignation und Niederlage. Die alte Partei ist einer Anzahl politischer Zwerge in die Hände gefallen, deren Streitigkeiten untereinander die Ausübung aller ihrer eigentlichen Funktionen unmöglich machen.

Der gegenwärtige Führer und Spross einer guten Familie Jitzchak Herzog trägt den ruhmreichen Titel „Oppositionsführer“, aber er weiß nicht einmal, was das Wort Opposition überhaupt bedeutet. Einige nennen seine Partei „Likud 2“. Über alle lebenswichtigen Themen, darunter Frieden mit dem palästinensischen Volk und der arabischen Welt, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie, Trennung von Staat und Religion und Korruption, schweigt die Partei. Für alle praktischen Zwecke ist sie todgeweiht oder bereits gestorben.

„Den Besten fehlt jede Überzeugung“, klagt Yeats. Die besten Elemente der israelischen Gesellschaft sind entmutigt, besiegt, stumm.

In Mitte-Rechts sieht es sogar noch schlimmer und viel gefährlicher aus. Der Likud, einstmals eine liberale, demokratische rechte Partei, ist einer feindlichen Übernahme zum Opfer gefallen. Sein extremistischer Flügel hat alle anders Gesinnten vertrieben und beherrscht die Partei jetzt vollständig. Mit den Worten der Metapher: Die rechte Flanke hat die Mitte übernommen.

„Während die Schlechtesten voller leidenschaftlicher Besessenheit sind.“

Diese Rechtsradikalen sind jetzt voll im Schwung. Sie erlassen in der Knesset furchtbare Gesetze. Sie akzeptieren verabscheuungswürdiges Handeln von Polizisten und Soldaten und ermutigen sogar noch dazu. Sie versuchen den Obersten Gerichtshof und die Armeeführung zu unterwandern. Sie sind darauf versessen, noch mehr und größere Siedlungen zu bauen. Diese gefährlichen Barbaren sind tatsächlich „voller leidenschaftlicher Besessenheit“.

Dass Avigdor Liebermann in die Regierung berufen wurde, vervollständigt das furchteinflößende Bild. Sogar der ehemalige Ministerpräsident und gemäßigte Politiker Ehud Barak sagte öffentlich, die Regierung enthalte faschistische Elemente.

WARUM ist das geschehen? Welche Grundursache hat das?

Die übliche Antwort ist: „Die Menschen haben sich nach rechts bewegt“. Aber das erklärt gar nichts. Warum haben sie sich denn nach rechts bewegt? Warum?

Einige suchen in der demographischen Spaltung der jüdischen Gemeinschaft in Israel die Erklärung. Juden, deren Familien aus islamischen Ländern kommen (sie werden Misrachim genannt), haben die Tendenz, den Likud zu wählen, während Juden, deren Familien aus Europa kommen (Aschkenasim) zur Linken tendieren.

Das erklärt allerdings nicht das Phänomen Lieberman. Seine Partei besteht aus Einwanderern aus der früheren Sowjetunion. Sie sind etwa eineinhalb Millionen und werden allgemein „Russen“ genannt. Warum sind die meisten von ihnen extrem rechts und rassistisch und hassen Araber?

Eine Kategorie für sich sind die jungen Linken. Sie weigern sich, irgendeine Partei zu unterstützen. Stattdessen wenden sie sich einem Aktivismus außerhalb von Parteien zu und gründen regelmäßig neue Menschenrechts- und Friedensgruppen. Sie unterstützen die Palästinenser in den besetzten Gebieten, kämpfen für die „Reinheit unserer Waffen“ in der Armee und leisten für ähnliche Zwecke wunderbare Arbeit.

Es gibt Dutzende, vielleicht auch Hunderte solcher Vereinigungen. Viele von ihnen beziehen finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Die politische Arena verabscheuen sie jedoch, sie würden keiner Partei beitreten und noch weniger würden sie sich zu einer gemeinsamen Partei zusammentun.

Ich glaube, dass dieses Phänomen bei der Erklärung des Trends weiterhilft: Immer mehr Menschen, besonders junge, kehren der „Politik“ ganz und gar den Rücken, einer Politik, die für sie Parteipolitik bedeutet. Ihnen selbst „fehlt“ durchaus nicht „jede Überzeugung“, aber sie glauben, dass den politischen Parteien jede ehrliche Überzeugung fehlt, und deshalb wollen sie nichts mit ihnen zu tun haben.

Sie erkennen nicht, dass politische Parteien ein notwendiges Werkzeug dafür sind, in einer Demokratie einen Wandel zu bewirken. Sie sehen die Politiker als eine Gruppe korrupter Heuchler, denen jede wirkliche Überzeugung fehlt, und sie wollen sich nicht in einer derartigen Gesellschaft sehen lassen.

AUF DIESE WEISE kommen wir zur Einsicht in einen erstaunlichen Tatbestand: Entwicklungen in Israel ähneln Vorgängen in vielen anderen Ländern und haben also nichts mit der Besonderheit unserer Probleme zu tun.

Vor ein paar Tagen fand in Österreich die Wahl des Bundespräsidenten statt. Bisher wechselten sich die beiden Hauptparteien damit ab, den österreichischen Präsidenten zu stellen. (Die Präsidentschaft dort umfasst ebenso wenige Kompetenzen wie die in Israel.) Diesmal ereignete sich etwas noch nie Dagewesenes: Die beiden zuletzt übrig gebliebenen Kandidaten kamen aus den Reihen der extremen Rechten und aus denen der Grünen. Die Wähler hatten einfach alle Kandidaten des zentralen Establishments ausgeschieden. Und was schlimmer ist: Der faschismusnahe Kandidat verlor nur mit winzigem Abstand.

Österreich? Ein Land, das (den Österreicher) Adolf Hitler vor 80 Jahren begeistert willkommen hieß und das sämtliche Konsequenzen davon erleiden musste?

Die einzige Erklärung dafür ist, dass die Österreicher ebenso wie die Israelis die Nase von den etablierten Parteien voll haben. Beide Nationen, die außer ihrer Größe nichts gemein haben, empfinden in dieser Hinsicht dasselbe.

In Frankreich feiert die Anti-Establishment-ultra-Rechte Marine Le Pen Triumphe. In den Niederlanden und in einigen skandinavischen Ländern passiert dasselbe.

In Großbritannien, der Mutter der Demokratie, ist die Öffentlichkeit im Begriff, für oder gegen Brexit zu stimmen. Diese Entscheidung wird mit der für oder gegen das Establishment gleichgesetzt. Die Europäische Union verlassen erscheint (jedenfalls mir) als vollkommen irrational. Die Möglichkeit, dass das geschieht, ist anscheinend jedoch gegeben.

ABER WARUM sprechen wir nur von kleineren Ländern? Wie steht es denn mit der einzigen Supermacht, den Vereinigten Staaten von Amerika?

Seit Monaten beobachtet die Weltöffentlichkeit mit wachsender Verwunderung den unglaublichen Aufstieg Donald Trumps. Von einem Tag zum anderen flößt das, was als Komödie begann, immer mehr Schrecken ein.

Was ist um Himmels willen mit dieser großen Nation passiert? Wie können sich Millionen und Abermillionen um das Banner eines großmäuligen, vulgären und ungebildeten Kandidaten scharen, dessen Haupt- – und vielleicht einziger – Vorzug in seinem Abstand zu allen politischen Parteien besteht? Wie konnte er die große alte Partei, einen Bestandteil der amerikanischen Geschichte, überwinden und tatsächlich zerstören?

Auf der anderen Seite steht Bernie Sanders. Er ist eine sehr viel ansprechendere Gestalt, aber er wird von seiner eigenen Partei verabscheut, weil seine Absichten weit von denen der Mehrheit der Amerikaner entfernt sind.

Die beiden Kandidaten haben nur eines gemein: Sie hassen ihre Partei und diese hasst sie.

ES SCHEINT ein weltumspannendes Muster zu sein. In ganz Südamerika, das noch vor Kurzem eine Bastion der Linken war, werden die linken Parteien hinausgeworfen und die rechten Gestalten übernehmen.

Wenn man bedenkt, dass das zur selben Zeit in Dutzenden von großen und kleinen Ländern geschieht, in Ländern, die sonst absolut nichts miteinander gemein haben – sie haben unterschiedliche Probleme, unterschiedliche Themen, befinden sich in unterschiedlichen Situationen -, ist das alles nichts weniger als erstaunlich.

Für mich ist es ein Rätsel. Alle paar Jahrzehnte tauchen neue Ideen auf und erfassen einen großen Teil der Menschheit: Demokratie, Liberalismus, Anarchismus, Sozialdemokratie, Kommunismus, Faschismus, wieder Demokratie und jetzt ist dieses – meist rechtsradikale – Chaos zu einem weltweiten Trend geworden. Es hat bisher noch keinen Namen.

Ich bin sicher, dass viele, sowohl Marxisten als auch andere, eine vorgefertigte Erklärung dafür bereithalten. Mich überzeugt allerdings keine von ihnen. Ich bin einfach nur ratlos.

KOMMEN WIR auf uns arme Israelis zurück: Ich habe eben in Haaretz einen praktischen Plan veröffentlicht, der darauf abzielt, die Sintflut einzudämmen und zurückzudrängen.

Ich fühle mich immer noch dem Optimismus verpflichtet.

28. Mai 2016

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler