Die Menschen in den europäischen Demokratien haben in der Nacht des 15. Juli 2016 mehr gewonnen als sie wissen.
Natürlich war der Militärputsch in der Türkei auch ein Putsch der „Europäischen Union“, des Militärpakts N.A.T.O. und deren Führungsmacht, dem Imperium („Supermacht“) der Vereinigten Staaten von Amerika. Und natürlich bedeutet das desaströse Scheitern dieses Putsches auch ein desaströses Scheitern des U.S.-Imperiums und seiner Ableger. Konkret ist nach der gescheiterten Invasion der Etappe Syrien und der nun fehl geschlagenen Machtübernahme in der Türkei auch das gesamte 2008 aus dem Hut gezogene Luftschloss namens „Mittelmeerunion“ weiter in sich zusammengefallen. Auf dem langen Marsch zur Transformation der Weltordnung war diese als nächste, trikontinentale Stufe der gruseligen Verwandlung des (designierten) U.S.-Klons E.U. geplant. Auch diese spieltheoretische Realität hat sich nun als Illusion entpuppt.
Alle seit 2008 in den entsprechenden Staaten (Tunesien, Libyen, Ägypten, Palästina, Libanon, Syrien, etc) bzw Anrainerstaaten wie der Ukraine vollzogenen Kriege, Umstürze und Revolutionen sind in diesem Kontext zu sehen.
Derzeit ist die für U.S.-E.U.-Kriegführung in der Region operativ und strategisch hoch bedeutsame Militärbasis in Incirlik ohne externe Stromversorgung – zumindest für deren „Gäste“. Wie die „Washington Post“ berichtet, muss das U.S.-Militär in Incirlik auf „interne Stromquellen“ („internal power sources“) zurückgreifen. Luftoperationen hat die türkische Regierung verboten. Der türkische Luftwaffen-Chef und Kommandeur in Incirlik, Lt. Gen. Ishak Dayioglu, wurde wegen Beteiligung am Putsch verhaftet. Das „gerüchten“ übrigens nicht „die Russen“, sondern meldet die türkische Nachrichtenagentur Anadolu (was im englischsprachigen Raum interessanterweise kaum jemand berichtet, außer die durchweg gut informierte aserbaidschanische Online-Zeitung Trend.az).
Damit bleiben mit den Kampfjets der U.S.-geführten internationalen Kriegskoalition auch die Tornado-Kampfbomber der Bundeswehr-Luftwaffe in Incirlik vorerst am Boden. Lobby, Profiteure und Betreiber des 2001 begonnenen Terrorkrieges, ab 2003 im Irak und ab 2011 in Syrien, haben nun ein ernsthaftes Problem. Ebenso die vom vermeintlichen Gegner – Regierungen, Regimen, Monarchen, Konsortien und Geheimdiensten aus den U.S.A., Saudi-Arabien, Katar, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, etc, etc, – ausgerüsteten Proxy-Milizen unter den Flaggen von „Islamischer Staat“, „Al Kaida“, „Al Nusra“, „Freier Syrischer Armee“ und wie sie alle genannt werden.
Ob tatsächlich bzw in wie weit die religiöse „Bewegung“ von Fethullah Gülen in den Putsch in der Türkei an diesem historischen 15. Juli 2016 verwickelt war, spielt nur vordergründig eine Rolle. Tajjip Erdogan, den genau die Demokratie retttete, die er bislang mit Füßen trat, wird die Situation nutzen um die U.S.-Regierung unter Druck zu setzen und seine eigene Position zu retten. Wenn er klug ist, wird er, wie Syriens Machthaber und Präsident Bashir Assad, nun das stützen was seine Gesellschaft und Demokratie stabilisiert und fördert, bzw diejenigen unterstützen, die an einem demokratischen Fortschritt und gerechten Entwicklung ihrer jeweiligen Gesellschaft Interesse haben und sich selbstlos, ohne Eigennutz und Egoismus, für diese einsetzen. Dazu gehört natürlich auch ein fairer und gerechter Umgang mit der jeweiligen kurdischen Minderheit, die im Prinzip nichts will als ein Ende von rassistischer Repression im Kontext der staatlichen Strukturen. Ein bisschen Selbstverwaltung von divergenten Regionen mit ach so seltsamen Leuten hat noch keinem Staat geschadet, solange dessen Integrität und Souveränität gewahrt bleibt.
Als ein gutes Zeichen kann die gemeinsame Erklärung des türkischen Parlaments gewertet werden, mit allen vier Fraktionen, auch der Demokratischen Volkspartei H.D.P., die allgemein als linksdemokratische Repräsentanz der kurdischen Minderheit in der Türkei gilt; als ein weiteres der Dank des türkischen Premierministers Dinali Yildirim an eben alle Fraktionen des Parlaments, auch an die H.D.P., für dessen Unterstützung gegen den Putsch des Militärs; als ein drittes gutes Zeichen die gemeinsame Erklärung von Repräsentanten aller großen Kirchen in der Türkei. Schade, dass Erdogan selbst lediglich die Vorsitzenden von C.H.P. (Konservative) und M.H.P. (Nationalisten) anrief und Selahattin Demirtas dabei vergaß. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Sogar besser.
(…)
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