Zwischen Euphorie und Protest: Venezuela stimmt über Verfassungsreform ab

Artikel von Eva Haule und Harald Neuber

Bürgerinnen und Bürger können aus 6.000 Kandidaten 537 Mitglieder des Gremiums bestimmen. Opposition lehnt Abstimmung ab

Die heutige Wahl zur verfassunggebenden Versammlung in Venezuela hat das südamerikanische Land politisch polarisiert. Während die Parteien des Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) vor einer „Diktatur“ warnen, sprach der linksgerichtete Präsident Nicolás Maduro von der „wichtigsten Wahl“ des Landes. „Es ist nicht einfach eine weitere Wahl von Gouverneuren, Bürgermeistern, Parlamentsabgeordneten oder des Präsidenten“, sagte Maduro am gestrigen Samstag: „Es ist die wichtigste Wahl im politischen System Venezuelas, weil die grundlegende verfassungsgebende Macht gewählt wird, die alles und mehr verfügen kann, die über allem anderen steht.“

Tatsächlich hat das Vorhaben die Bevölkerung politisiert und Proteste beider politischer Lager provoziert. Ein Ergebnis: Im Zuge andauernder und kompromissloser Proteste der Opposition wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Menschen getötet, staatliche Institutionen angegriffen und Nahrungsmittel vernichtet. Dass die Opposition an dieser Strategie der Spannung festhalten kann, liegt vor allem an der Unterstützung aus dem Ausland, vor allem den USA, der EU und rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas.

Die venezolanische Armee ist daher mit mehr als 200.000 Einsatzkräften aktiv, um einen reibungslosen Ablauf der heutigen Wahl zu garantieren. Bestimmt werden 537 Mitglieder der Verfassungsversammlung, es kandidieren über 6.000 Bürgerinnen und Bürger. Wer einen politischen Posten bekleidet, darf nicht zur Wahl antreten oder musste den Posten vorher abgeben. 364 Mitglieder der Verfassungsversammlung werden in den territorialen Gliederungen des Landes gewählt, 137 von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, etwa Frauen, Landarbeiter, Studierende oder Behinderte. Dieses Vorgehen wird von der Opposition als undemokratisch abgelehnt, die Regierung verteidigt es, weil bislang marginalisierte Gruppen besonders berücksichtigt würden.

Bei den Protesten der Opposition gegen die sozialistische Regierung und die im Mai einberufene Verfassungsversammlung sind seit Anfang April dieses Jahres über 100 Menschen getötet worden. In der vergangenen Nacht kamen nach Angaben der regierungskritischen Tageszeitung El Nacional erneut drei Menschen zu Tode. Grund dafür ist mitnichten nur die Anwendung von Gewalt durch die Sicherheitskräfte, sondern vor allem auch ein zunehmend paramilitärisches Vorgehen der Demonstranten, die Straßenblockaden errichten und selbstgebaute Schusswaffen sowie Mörser verwenden. Mehrere tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger der Regierung wurden von vermummten Demonstranten lebendig angezündet, zuletzt traf es Ende der Woche zwei Mitglieder der Armee. In der internationalen Presse spielt dieser Terrorismus von Teilen der Opposition bis auf wenige Ausnahmen keine Rolle.

US-Vizepräsident Mike Pence hat nach Angaben des Weißen Hauses am Freitag ein Telefongespräch mit dem unter Hausarrest stehenden Oppositionspolitiker Leopoldo López geführt. López von der rechtspopulistischen Partei Voluntad Popular wurde 2015 zu einer 14-jährige Haftstrafe verurteilt, die Anfang Juli in Hausarrest umgewandelt wurde. Das Gericht macht ihn verantwortlich für gewalttätige Proteste im Jahr 2014, in deren Folge über 40 Tote zu beklagen waren. Im Namen von Präsident Donald Trump habe Pence betont, die USA stünden „auf der Seite des venezolanischen Volkes“ und erneut die Freilassung von „politischen Gefangenen“, freie und faire Wahlen, die Wiederherstellung des Parlaments und die Respektierung der Menschenrechte gefordert. Zudem bekräftigte der Vizepräsident Trumps Zusicherung, mit „starken und raschen wirtschaftlichen Aktionen“ zu reagieren, wenn die Regierung Maduro die Wahlen am Sonntag durchführt.

Unterdessen äußerte die russische Regierung die Hoffnung, dass die Wahlen „ohne Provokationen und entsprechend der venezolanischen Gesetze“ durchgeführt werden und „der Stabilisierung der internen politischen Situation des Landes dienen“. Venezuelas Präsident habe die Oppositionsführer erneut aufgerufen, den Dialog aufzunehmen und auf Gewalt zu verzichten. Russland habe immer für die Lösung der venezolanischen Krise mit politischen Mitteln, im Rahmen des Gesetzes und ohne Einmischung von außen plädiert, heißt es in der Stellungnahme des Außenministeriums.

Ebenfalls am Freitag erklärte Kolumbiens Juan Manuel Santos, seine Regierung werde die Ergebnisse der Kandidatenwahl zur Konstituante nicht anerkennen. Dieser Wahltag habe einen „unechten Ursprung“, so die Begründung. Erst in der vergangenen Woche hatte CIA-Chef Mike Pompeo informiert, die US-Regierung arbeite in „direkter Kooperation“ mit den rechtsgerichteten Regierungen von Mexiko und Kolumbien am Sturz der venezolanischen Regierung. Maduro hatte Santos daraufhin als „Vasall des Imperiums“ bezeichnet.

Mexikos Außenministerium hat den Bürgern des Landes geraten, von Reisen nach Venezuela abzusehen. Die Unsicherheit in den großen Städten sei groß. Wer sich dennoch dort aufhalte, müsse mit Gewalt rechnen. Orte, an denen Demonstrationen stattfinden und Barrikaden errichtet wurden, sollten gemieden werden. In Mexiko sind nach Angaben des Innenministeriums von Ende April 32.218 verschwundene Personen registriert worden. Laut dem Jahresbericht des Internationalen Institutes für strategische Studien wurden im Jahr 2016 in Mexiko 23.000 Menschen im Zusammenhang des Drogenkrieges getötet. Weltweit habe es nur in Syrien mehr gewaltsame Todesfälle gegeben, so das britische Forschungsinstitut.

Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte äußerte in einer Pressemitteilung die „tiefe Besorgnis über die Gefahr weiterer Gewalt in Venezuela“. Die Wünsche der Venezolaner, an der heutigen Wahl teilzunehmen oder nicht, müssten respektiert werden. Man hoffe, dass dies „friedlich und unter Respektierung der Menschenrechte“ geschehe.

Erstveröffentlichung am 30.07.2017 auf Portal amerika21.de

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