Oberster Gerichtshof von Brasilien verfügt in umstrittenem Prozess Haft für Lula da Silva

Sechs der elf Richter für Vollstreckung der Haftanweisung. Beliebtester Politiker des Landes beklagt Politjustiz. Zunehmende Gewalt gegen Linke

Paukenschlag in Brasilien: Der Oberste Gerichtshof in Brasília hat am Mittwoch in einer international viel beachteten Marathonsitzung von gut elf Stunden die Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten (2003-2011) und derzeit aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio Lula da Silva verfügt. Sechs der elf Richter stimmten dafür, die Haftanweisung für den 72-jährigen Politiker zu vollstrecken. Sie wiesen damit einen Antrag der Anwälte des linksgerichteten Politikers zurück, die Haftanweisung aus der zweiten Instanz in einem sogenannten Habeas-Corpus-Verfahren zu prüfen und bis zur Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten auszusetzen.

Beantragt die Staatsanwaltschaft in den nächsten Tagen erwartungsgemäß die Inhaftierung Lula da Silvas, kann der in dem aktuellen Wahlumfragen Erstplatzierte jedoch noch einmal dagegen Einspruch einlegen. Mit dem Urteil vom Mittwochabend schwinden jedoch erneut die Chancen, dass der linksgerichtete Politiker bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober antreten kann.

Ende Januar hatte ein Berufungsgericht in Porto Alegre den Ex-Präsidenten der linksgerichteten Abeiterpartei (PT) wegen Korruption zu zwölf Jahren und einem Monat Haft verurteilt. Die Richter erhöhten das Strafmaß damit gegenüber der ersten Instanz sogar noch um vier Jahre. In dem Prozess ging es zuletzt vor allem um ein Strandappartement in Rio de Janeiro, das der Familie Lula da Silvas von dem Baukonzern Odebrecht als Gegenleitung für politische Gefälligkeiten nach einer Luxussanierung überlassen worden sein soll. Schriftliche Belege dafür gab es jedoch nicht.

Zudem hatte der umstrittene Bundesrichter Sergio Moro den Ex-Präsidenten in erster Instanz Mitte 2017 zu gut neun Jahren Haft wegen Geldwäsche und der Annahme von umgerechnet rund 900.000 Euro Schmiergeld verurteilt und ihm das passive Wahlrecht aberkannt. Die Beweisführung war jedoch umstritten und der Ermittlungsprozess von Unregelmäßigkeiten überschattet. Lula da Silva und seine Partei sprechen von einem politisch motivierten Prozess, der eine Rückkehr der PT an die Regierung verhindern soll.

Am Mittwoch nun hatte die Polizei die Sicherheitsvorkehrungen um den Sitz des Obersten Gerichtshofes in Brasília massiv verschärft, während tausende Anhänger Lula da Silvas in die Hauptstadt mobilisierten. „Wahlen ohne Lula sind Betrug“, skandierten sie. Zu Demonstrationen gegen den Prozess kam es auch in anderen Städten, vor allem in den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro. Auch Anhänger des derzeit abgeschlagenen Zweitplatzierten, dem Rechtsextremen Jair Balsonaro, mobilisierten, um die Inhaftierung Lula da Silvas zu fordern.

Balsonaro, ein ehemaliger Militär und Anhänger der Militärdiktatur, hatte bei Wahlkampfauftritten mit einer symbolischen Waffe auf ein Bild von Lula gezielt und einen Kopfschuss angedeutet. Bei der umstrittenen Absetzung der Lula-Nachfolgerin un PT-Genossin Dilma Rousseff widmete er seine Stimme dem Militär, der die linksgerichtete Politikerin während der Diktatur gefoltert hatte. Wenn Teile der Justiz Lula da Silva ins Gefängnis schicken, wird der Rechtsextremist trotz eines relativ geringen Stimmenanteils zum aussichtsreichsten Kandidaten auf das höchste Staatsamt.

In Brasilien und auf internationaler Ebene wurde das Urteil nicht nur wegen der Verzerrung der politischen Gegebenheiten mit Protest und Sorge aufgenommen. Erwartet wird auch, dass der von den Anhängern Lula da Silva beklagte „juristische Feldzug“ in zunehmende politische Gewalt gegen ie politische Linke mündet. Unter dem Eindruck des offensichtlich politisch motivierten Verfahrens hatten Anhänger Balsonaros in den vergangenen Tagen bereits einen Buskonvoi Lula da Silvas im Süden Brasiliens beschossen. Nach Berichten der PT und lokaler Medien schlugen drei Projektile in zwei der Busse ein. Mit dem Konvoi war der PT-Kandidat auf Wahlkampftour. Verletzt wurde zwar niemand, anders als bei ähnlichen Angriffen in den Tagen zuvor. Vertreter der Arbeiterpartei sprachen von einem direkten Anschlag auf den Ex-Präsidenten.

Parallel dazu baute die Führung von De-facto-Präsident Michel Temer die Militärpräsenz in den Armenvierteln, den Favelas, aus. Daraufhin wurde die Abgeordnete von der Sozialistischen Partei (PSOL), Marielle Franco, erschossen. Die Hinrichtung der Politikerin ging offenbar auf das Konto von para-polizeilichen Milizen. Medienberichten zufolge stammen die Patronen ursprünglich aus den Beständen der Bundespolizei Polícia Federal (PF) in Brasília.

Vor dem Hintergrund der steigenden Gewalt und massiver Angriffe auf Lula da Silva und die PT hatten linksgerichtete Organisationen, Gewerkschaften und soziale Bewegungen, Künstler und Intellektuelle Ende März das „Internationale Solidaritätskomitee für Lula und die Demokratie in Brasilien“ ins Leben gerufen. Die „politische Hetzjagd“ gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten, zahlreiche Beschränkungen des Rechtsstaats sowie fortwährende soziale Kürzungen und Angriffe auf Arbeiterrechte hätten weltweit zur Solidarität motiviert, so die Initiatoren.

Erstveröffentlichung auf Portal amerika21.de am 5. April 2018