Nur eine Frage der Zeit?

Autor: Bernhard Klaus

Westliche Luftschläge gegen Syrien – Auch die Friedensbewegung sollte sich vorbereiten

Am Ende des Bürgerkrieges?

Gegenwärtig ist es in der Berichterstattung ruhig geworden im Hinblick auf den Bürgerkrieg in Syrien. Jeremy Bowen berichtet in seiner Reportage aus Idlib für die BBC davon, dass aktuell „die Gewehre schweigen“ und verschiedene Rebellengruppen ihre schweren Waffen zurückgezogen hätten.[1] Ein Gefühl, dass der Bürgerkrieg zuende ginge, sei allgegenwärtig. Zugleich beschreibt er jedoch verstärkte Stellungen und spricht von einem nahezu unausweichlichen und wahrscheinlich selbst für die Verhältnisse im syrischen Bürgerkrieg blutigen Showdown um Idlib. Außerdem verweist er auf die Gefahr, dass der Konflikt auch in größerem Maßstab wieder aufleben könnte: „Wichtige ausländische Mächte haben Teile des Landes besetzt oder bombardieren diese und es besteht ein großes Risiko der Eskalation, wenn sie aneinander geraten.

Noch im September sah es nach eben solch einer Zuspitzung aus. Nachdem die syrische Armee mit ihren Verbündeten jenseits der Provinz Idlib und den von der (kurdisch dominierten) SDF kontrollierten Territorien im Nordosten alle Rebellengebiete zurückerobert hatte, massierte sie ihre Kräfte um Idlib, wo es gehäuft zu Luftangriffen und Gefechten kam. Große Teile der SDF waren offenbar bereit, die syrische Armee bei der Eroberung Idlibs zu unterstützen. Auf der anderen Seite lieferte der NATO-Staat Türkei umfangreich Waffen und Material nach Idlib und verstärkte dort seine sog. „Beobachtungsposten“ am Rand des von den Milizen besetzten Gebietes. Die USA, Frankreich und Großbritannien drohten Luftschläge für den Fall eines Chemiewaffeneinsatzes oder auch unabhängig davon „zum Schutz der Zivilbevölkerung“ an. Deutschland wurde um Unterstützung hierbei angefragt, das Verteidigungsministerium ließ entsprechende Konzepte ausarbeiten (und kommunizierte dies) und Politiker aller Fraktionen beteiligten sich an der Debatte für und wider einer deutschen Beteiligung an Luftschlägen – obwohl diese klar sowohl gegen das Völkerrecht wie auch gegen die Verfassung verstoßen würden.

Diese Gefahr wurde zunächst durch ein türkisch-russisches Abkommen vom 17. September 2018 abgewendet, das einen Waffenstillstand und die Einrichtung einer „demilitarisierten Zone“ entlang des Frontverlaufs um Idlib vorsieht, die von russischen und türkischen Kräften kontrolliert werden soll. „Terroristische“ Gruppen sind vom Waffenstillstand ausgenommen, seine Laufzeit ist unbestimmt, viele Details sind ungeklärt oder zumindest nicht bekannt. Insofern wurden dem Abkommen wenig Chancen eingeräumt, zunächst hat es jedoch zu einer deutlichen Beruhigung der Lage geführt.

Szenarien der Eskalation

Wie Jeremy Bowen, so geht jedoch auch die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), eine regierungsnahe Denkfabrik, die in Teilen aus dem Verteidigungshaushalt finanziert wird, davon aus, dass es dennoch zu einer erneuten Eskalation mit internationaler, westlicher Beteiligung kommen wird: „Die Frage einer internationalen Militäroperation in Syrien ist damit [dem türkisch-russischen Abkommen] aber eher aufgeschoben als aufgehoben. Früher oder später wird wohl erneut über eine deutsche Beteiligung debattiert werden“.[2] Deshalb solle der „gewonnene Aufschub“ als „Zeitfenster zur Klärung“ genutzt werden, um „einzelne Dimensionen eines möglichen Engagements der Bundesrepublik“ zu erörtern, so Muriel Asseburg und Markus Kaim in ihrem SWP-Aktuell 2018/A 54 mit dem Titel „Ein deutscher Militäreinsatz in Syrien – Politische Ziele, Umsetzbarkeit, rechtliche Voraussetzungen, Effekte“.

In dem Text fällt bemerkenswerter Weise unter den Tisch, dass es bereits einen deutschen Militäreinsatz in Syrien und dem Irak gibt, über dessen Verlängerung der Bundestag noch bis Ende Oktober entscheiden muss. Die Autor*innen gehen davon aus, dass das türkisch-russische Abkommen darauf abziele „eine Machtübernahme des Regimes in der Provinz vorzubereiten“ – was angesichts der türkischen Rolle und Interessen eine gewagte These ist. Zumindest „Damaskus und Moskau“ arbeiteten „jedenfalls weiter darauf hin, Idlib unter Regierungskontrolle zu bringen, wenn nötig auch mit Waffengewalt“. Da keine anderen Gründe für die Prognose genannt werden, dass die westlichen Staaten zukünftig intervenieren oder zumindest darüber diskutieren werden, offenbart dies eine weitere implizite Annahme des Papiers, die allerdings nicht ausgeführt wird: Dass die westlichen Verbündeten eine Rückeroberung Idlibs durch die syrische Armee nicht dulden wollen. Die Gründe hierfür werden ebenfalls nicht genannt. Es beschleicht einen der Verdacht, dass es entweder um einen Achtungserfolg oder ein Faustpfand geht: Der gescheiterte Versuch eines Regimechanges soll für den betreffenden Staat zumindest mit nennenswerten Gebietsverlusten einhergehen oder diese sollen als Verhandlungsmasse dienen, um doch noch Einfluss auf die zukünftige Ordnung nehmen zu können. Das freilich formuliert die SWP nicht in dieser Deutlichkeit.

Recht deutlich allerdings stellt der Text zunächst fest, dass eine völkerrechtliche (und auch verfassungsrechtliche) Grundlage für eine deutsche Beteiligung unter den betrachteten Umständen kaum vorstellbar wäre. Daraufhin folgt jedoch ein bemerkenswerter Satz: „Doch entheben diese rechtlichen Einwände nicht der Pflicht, politisch über einen solchen Einsatz nachzudenken.“ Im Folgenden werden anhand von vier „Zielen“ drei mögliche Einsatzszenarien kurz dargelegt und erörtert: a) der Schutz der Zivilbevölkerung, wozu 40.000 Soldat*innen und die Einrichtung einer Flugverbotszone nötig wären; b) die Verhinderung eines Chemiewaffeneinsatzes durch die Vernichtung entsprechender Lager- und Produktionsstätten, wobei „auch Start- und Landebahnen, Flugzeuge und Helikopter durch Luftschläge zerstört werden“ müssten; c) die „Unterstützung von Verhandlungen“, indem „die militärischen Fähigkeiten der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten so zu schwächen“ seien, dass sie ihre Ziele nicht mehr erreichen können; d) „die Zuverlässigkeit der Bundesrepublik als Bündnispartner im Rahmen des ‚Westens‘ zu untermauern“, was letztlich bedeutet, dass sich Deutschland an Angriffen auf Syrien beteiligt, ohne dabei auf Syrien gerichtete, konkrete Ziele zu verfolgen.

Die Schlussfolgerungen sind in Bezug auf die ersten drei Optionen erstaunlich klar: „Für einen westlichen Militäreinsatz in Syrien existiert gegenwärtig keine erfolgversprechende Option. Alle drei hier diskutierten Zielsetzungen (Einrichtung einer Schutzzone, Verhinderung des Chemiewaffen-Einsatzes, Unterstützung von Verhandlungen) lassen sich nicht völkerrechtskonform verfolgen; sie erfordern einen erheblichen Mittelaufwand, bergen enormes Eskalationsrisiko und drohen ihre jeweilige Stoßrichtung zu verfehlen“. Stattdessen wird empfohlen, „den Ansatz der dominanten Groß- und Regionalmächte (Russland, Iran, Türkei)“ nicht „militärisch zu konterkarieren“, sondern „das europäische Gewicht in Form von Anerkennung, Sanktionen und Wiederaufbauhilfe in die Waagschale zu werfen“. Dies würde eine „langfristige Stabilisierung Syriens“ ermöglichen.

Eine janusköpfige Analyse

Auf den ersten Blick könnte man den Text damit als Aufruf zu militärischer Zurückhaltung zugunsten einer Beendigung des Bürgerkrieges verstehen. Zunächst erscheint auch erfreulich, dass dem Völkerrecht eine relativ große Rolle eingeräumt und zugleich darauf verzichtet wird, dessen strikte Auslegungen durch Behelfsargumentationen auszuhebeln. So heißt es an einer Stelle: „Auch ein Eingreifen nach dem Prinzip der internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) wäre nur dann völkerrechtskonform, wenn es vom Sicherheitsrat beschlossen würde“ – hierzu hat es in der Vergangenheit durchaus auch andere Positionen im Umfeld der Bundesregierung gegeben.

Betrachtet man hingegen die impliziten und expliziten Vorannahmen und den Maßstab der diskutierten Interventionen, so relativiert sich dieser Eindruck wesentlich. Die Vorannahmen bestehen darin, dass die NATO-Verbündeten – in klarem Widerspruch zum Völkerrecht – bereit sind und Druck auf Deutschland ausüben werden, die Quasi-Annexion eines Teils Syriens mithilfe djihadistischer Milizen durch den NATO-Staat Türkei mit Luftangriffen und ggf. auch Bodentruppen zu unterstützen und dadurch den Bürgerkrieg erneut zu eskalieren. Die angesprochenen Szenarien gehen weit über das Maß bisheriger westlicher Interventionen in Syrien (Unterstützung bzw. Aufbau von Milizen und deren Unterstützung durch sporadische Luftschläge) hinaus und überschreiten eine Schwelle, ab der eine offene Konfrontation mit den Verbündeten Syriens sehr wahrscheinlich ist. Der Text sollte deshalb als Warnung verstanden werden. Zwischen den Zeilen scheint durch, dass insbesondere im Hinblick auf das Ziel „Solidarität mit den Verbündeten“ eine deutsche Beteiligung durchaus als möglich und wohl auch als wahrscheinlich angesehen wird.

Es gilt, aktiv zu bleiben!

Man sollte sich also keineswegs darauf verlassen, dass offenbar auch in regierungsnahen Kreisen Skepsis gegenüber einer weiteren Eskalation in Syrien besteht. Stattdessen sollten auch die sozialen Bewegungen den „gewonnenen Aufschub“ nutzen und Druck gegen eine weitere westliche Intervention und eine deutsche Beteiligung aufzubauen. Hierzu sollte an Punkten angesetzt werden, die der Text der SWP nicht nennt. Das ist u.a. die deutsche Stationierung von Aufklärungsjets und Flugzeugen zur Luftbetankung auf dem Stützpunkt Al-Asrak in Jordanien und die deutsche Beteiligung an Aufklärungsflügen der AWACS vom türkischen Konya aus, die noch in diesem Monat im Bundestag debattiert und verlängert werden soll. Wenn die Bundeswehr bereits in der Region stationiert und in die gemeinsamen Stäbe integriert ist, wird sich eine deutsche Beteiligung in „Solidarität mit den Verbündeten“ kaum noch verhindern lassen. Außerdem wäre klar zu benennen, welche Bündnisstruktur dieser Dynamik zu Grunde liegt. Die SWP-Analyse spricht zwar – was eher ungewöhnlich ist – vom „Westen“ und einem „westlichen Militäreinsatz“, benennt die NATO aber an keiner Stelle als Akteur. Dass die NATO-Staaten jedoch bereit sind, zugunsten der Türkei völkerrechtswidrig in einen Bürgerkrieg einzugreifen und diesen bis hin zu einer offenen Konfrontation mit Russland oder dem Iran zu eskalieren, sollte auch die Frage der deutschen Mitgliedschaft in diesem Bündnis neu beleben. Und wir sollten uns jetzt schon darauf vorbereiten, möglichst bereits im Vorfeld einer drohenden Intervention der NATO in Syrien auf die Straße zu gehen.

Anmerkungen

[1] Jeremy Bowen: Sense of an ending for Syria’s war on Idlib front line, bbc.com vom 9.10.2018.

[2] Muriel Asseburg, Markus Kaim: Ein deutscher Militäreinsatz in Syrien – Politische Ziele, Umsetzbarkeit, rechtliche Voraussetzungen, Effekte, SWP-Aktuell 2018/A 54.

Veröffentlichung am 12.10.2018 auf Informationsstelle Militarisierung e.V.