Konzert statt Kakophonie?

Strategische Autonomie: Ein EU-Sicherheitsrat für die EU-Großmächte

Spätestens mit Verabschiedung einer neuen Globalstrategie im Juni 2016 hat sich die Europäische Union auf die Fahnen geschrieben, so bald wie möglich eine „Strategische Autonomie“ zu erlangen.[2] Darunter wird die Fähigkeit verstanden, in den wichtigsten außen- und militärpolitischen Bereichen eigenständig ohne Abhängigkeiten von den USA (oder gar von Russland oder China) handlungsfähig zu sein.[3] Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass eine solche autonome Handlungsfähigkeit im militärischen Bereich drei Ebenen umfasst:

Operative Autonomie bedeutet, über alle Planungskapazitäten sowie die entsprechenden Truppen und das Material zu verfügen, um selbstständig Kriege führen (und gewinnen) zu können; industrielle Autonomie soll in die Lage versetzen, Militärinterventionen mit Waffen aus „heimischer“ Produktion durchführen zu können; und politische Autonomie beinhaltet, auf oberster Ebene die „notwendigen“ Entscheidungsstrukturen für schnelle und reibungslose Beschlussfassungen zu etablieren.[4]

Vor diesem Hintergrund wurden in den letzten Jahren eine Reihe von Initiativen angeschoben, mit denen existierende „Defizite“ auf den diversen Ebenen behoben werden sollen. So zielt die „Europäische Interventionsinitiative“ (E2I) ebenso wie die Aufstellung eines EU-Hauptquartiers (MPCC) auf eine „verbesserte“ operative Handlungsfähigkeit. Insbesondere mit der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) sowie dem „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) will man dagegen primär die industrielle Autonomie durch den Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes „verbessern“.[5] Und was die politische Dimension anbelangt, so spielt in jüngster Zeit vor allem die Forderung nach einem „Europäischen Sicherheitsrat“ (ESR) eine zunehmend wichtigere Rolle.

Antreiber sind hierbei einmal mehr Deutschland und Frankreich, die sich davon versprechen, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können: Einmal soll der Sicherheitsrat die Fähigkeit der Europäischen Union „verbessern“, ihr gesamtes globalpolitisches Gewicht zugunsten „ihrer“ (in Wahrheit der deutsch-französischen) Interessen in die Waagschale werfen zu können. Auf der anderen Seite ist es aber allenfalls nur ein Teil der Wahrheit, wenn ein Papier der „Konrad-Adenauer-Stiftung“ (KAS) behauptet, beim EU-Sicherheitsrat gehe es vor allem darum sicherzustellen, dass die EU-Außen- und Militärpolitik künftig nicht mehr als „Kakophonie“, sondern als „Konzert“ wahrgenommen werde.[6] Denn mindestens ebenso wichtig ist es dem selbsternannten deutsch-französischen Führungsduo, dass sich die Union immer weiter vom Gleichheitsprinzip unter den Staaten entfernt und dadurch sichergestellt ist, dass sie es sind, die künftig die erste Geige im europäischen Konzert fideln.

1. EU-Sicherheitsrat: Machtpolitischer „Charme“

In einem Grundsatzpapier zur „Strategischen Autonomie“, an dessen Erstellung nicht weniger als 29 MitarbeiterInnen der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) beteiligt waren, wird deren Notwendigkeit machtpolitisch folgendermaßen begründet: „Ein hoher Grad an strategischer Autonomie befähigt dazu, Regelwerke in der internationalen Politik aufrechtzuerhalten, weiterzuentwickeln oder zu schaffen und sich nicht unwillentlich fremden Regelwerken unterwerfen zu müssen. Das Gegenteil strategischer Autonomie wäre ein Status als Empfänger von Regeln und strategischen Entscheidungen, die Dritte – die USA, China oder Russland – mit unmittelbarer Wirkung für Europa treffen.“[7]

Für den politischen Bereich erfordere dies, effektiv, schnell und möglichst reibungslos Entscheidungen herbeiführen zu können, um die europäischen Interessen auf globaler Ebene durchzusetzen. Dies sei besonders deshalb aktuell dringender denn je, da dem Aufstieg von Ländern wie China nur kollektiv etwas entgegengesetzt werden könne, sonst würden den EU-Staaten über kurz oder lang die machtpolitischen Felle davonschwimmen. In diesem Sinn wurde etwa Ende April im „Berlin Policy Journal“ (und kurz darauf vom selben Autor auch gleich noch in der renommierten „Internationalen Politik“) argumentiert und ein EU-Sicherheitsrat gleich noch obendrauf als optimale Lösung angeboten: „In einer neuen strategischen Umgebung, in der rohe Machtpolitik in zunehmendem Maße dominiert, muss Europa selbst mächtiger werden, um die internationale Ordnung entlang seiner Prinzipien und Interessen mitgestalten zu können. Aber die existierenden Institutionen und Plattformen sind dem nicht gewachsen. […] Aus diesem Grund macht es Sinn über eine neue Institution nachzudenken, die bereits von Macron und Merkel in Aussicht gestellt wurde: einen Europäischen Sicherheitsrat.“[8]

Das größte Problem sei, dass sich die EU in der Praxis derzeit noch als eine „langsam mahlende Konsensmaschinerie“ erweise, beklagen in diesem Zusammenhang die Regierungsberater der „Stiftung Wissenschaft und Politik“.[9] Tatsächlich müssen (bislang noch) nahezu sämtliche Entscheidungen im Außen- und Militärbereich der Europäischen Union einstimmig getroffen werden, was den kleinen und mittleren EU-Staaten weitreichende Einflussmöglichkeiten einräumt, ihnen unliebsame Entscheidungen blockieren zu können. In einem anderen SWP-Papier wird deshalb genau dies als größtes Problem identifiziert: „Der Weg zur Entschei­dungsfindung in der EU [ist] zu lang. Größter Hemmschuh ist hier das Gebot der Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten.“[10]

Nachdem Deutschland und Frankreich spätestens seit der Unterzeichnung des Aachener-Vertrages im Januar 2019 immer offener darauf pochen, der EU-Außen- und Militärpolitik mehr oder weniger im Alleingang ihren Stempel aufzudrücken, wird dieses Konsensprinzip aus deren Sicht als zunehmendes Ärgernis empfunden. Um hier Abhilfe zu schaffen, werden derzeit vor allem zwei Optionen debattiert: Schon länger drängen vor allem deutsche Vertreter auf die Einführung Qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Militärpolitik (65% der EU-Bevölkerung und 55% der EU-Mitgliedsstaaten), wodurch die Mitsprachemöglichkeiten der kleineren EU-Staaten massiv beschnitten würden.[11]

Als Alternative oder als Ergänzung dazu nimmt derzeit mit dem EU-Sicherheitsrat eine weitere Option Fahrt auf, wobei es Deutschland und Frankreich, die diese Idee vorantreiben. Dies ist allerdings auch kein Wunder, schließlich laufen nahezu alle derzeit diskutierten Vorschläge darauf hinaus, eine Art Direktorium ins Leben zu rufen, dem die beiden Staaten permanent vorsitzen würden, während der Großteil der anderen EU-Mitglieder massiv an Einfluss einbüßen würde.

2. Genese der EU-Sicherheitsratsdebatte

Mindestens seit Anfang der 1980er Jahre kursieren diverse Modelle für einen möglichen Europäischen Sicherheitsrat.[12] Initialzündung der neueren Debatte war allerdings das Brexit-Referendum am 23. Juni 2016, in dem sich eine Mehrheit der britischen Bevölkerung für einen Austritt aus der EU aussprach. Von diesem Zeitpunkt an hatte sich die bisherige Rolle Großbritanniens als Bremsklotz nahezu sämtlicher Initiativen zum Ausbau des Außen- und Militärapparates über Nacht erledigt. Schnell ergriffen Deutschland und Frankreich in einem gemeinsamen Papier der damaligen Außenminister Jean-Marc Ayrault und Frank-Walter Steinmeier die Initiative und beanspruchten am 27. Juni 2016 nicht nur die Führungsrolle beim Ausbau der Union zu einem (militärischen) globalen Akteur, sondern präsentierten auch eine Reihe hierfür für geeignet befundener Initiativen – u.a. einen EU-Sicherheitsrat.[13] Diese Vorlage wurde von Emmanuel Macrons „Partei“ En Marche aufgegriffen, die u.a. mit der Forderung nach einem solchen EU-Sicherheitsrat in den Wahlkampf 2017 ging.[14] Daran anschließend befürwortete auch Kanzlerin Angela Merkel Anfang Juni 2018 diese Idee[15], die dann auch in der Abschlusserklärung des deutsch-französischen Treffens von Meseberg später im selben Monat prominent erwähnt wurde.[16]

Im November 2018 griff Angela Merkel den Vorschlag noch einmal in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament auf und rückte ihn gleich auch noch in den entsprechenden machtpolitischen Kontext: „Wir merken doch schon jetzt, dass wir als Europäer unsere Interessen überall dort viel besser verteidigen können, wo wir gemeinsam auftreten. Nur geschlossen ist Europa stark genug, um auf der globalen Bühne gehört zu werden und seine Werte und Interessen verteidigen zu können. […] Das heißt nichts anderes, als dass wir Europäer unser Schicksal stärker in unsere eigene Hand nehmen müssen, wenn wir als Gemeinschaft überleben wollen. Das bedeutet, dass Europa langfristig außenpolitisch handlungsfähiger werden muss. Deshalb müssen wir bereit sein, unsere Entscheidungswege zu überdenken und verstärkt dort auf Einstimmigkeit zu verzichten, wo die Verträge dies möglich machen und wo immer es möglich ist. Ich habe vorgeschlagen, dass wir einen europäischen Sicherheitsrat mit wechselnden, rotierenden Besetzungen der Mitgliedstaaten einrichten, in dem wichtige Beschlüsse schneller vorbereitet werden können.“[17]

Schließlich legte Macron im März 2019 noch einmal in einem „Brief an die EU-Bürger“ nach: „Wir müssen unsere unentbehrlichen Verpflichtungen in einem Vertrag über Verteidigung und Sicherheit festlegen, im Einklang mit der NATO und unseren europäischen Verbündeten: Erhöhung der Militärausgaben, Anwendungsfähigkeit der Klausel über die gegenseitige Verteidigung, Europäischer Sicherheitsrat unter Einbeziehung Großbritanniens zur Vorbereitung unserer gemeinsamen Entscheidungen.“[18] Dicht (in dieser Sache) auf dem Fuße des französischen Präsidenten folgte dann noch die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nur wenige Tage später nahezu wortgleich: „Die CDU-Vorsitzende schlägt außerdem vor, in einem ‚Europäischen Sicherheitsrat unter Einbeziehung Großbritanniens über gemeinsame außenpolitische Positionen zu entscheiden und gemeinsames Handeln in der Sicherheitspolitik zu organisieren.“[19]

Soweit, so vage: Zwar finden sich etwa in den Äußerungen Merkels minimale Hinweise über den Charakter des anvisierten Sicherheitsrates („rotierend“), darüber hinaus blieben aber sowohl die Kanzlerin als auch ihr französischer Kollege Details ebenso schuldig, wie die meisten anderen Politiker, die ihren Hut für die neue Organisation in den Ring geworfen hatten.[20] Insofern lohnt ein genauerer Blick auf einige der von Denkfabriken ausgearbeiteten Vorschläge zu Art und Charakter der geplanten Institution.

3. Kompetenzen: Positiver Gruppendruck

Ungeachtet einiger Differenzen im Detail, ähneln sich die meisten aktuell zirkulierenden Vorschläge zur Ausgestaltung des vorgeschlagenen EU-Sicherheitsrates. Papiere dazu stammen unter anderem aus dem Haus der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ oder der CDU-nahen „Konrad-Adenauer-Stiftung“, wobei die ausführlichste Ausarbeitung vom „Wilfried Martens Centre for European Studies” kommt, der offiziellen Denkfabrik der „Europäischen Volkspartei“, dem Zusammenschluss konservativer Parteien auf EU-Ebene.

Eine besonders ambitionierte Vision bringt die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ ins Spiel: „An [die ESR-]Mitglieder müssten möglichst viele EU-Staaten das Recht delegieren, in ihrem Namen Beschlüsse zu Fragen der internationalen Politik zu fassen. […] Zu den politischen Entscheidungen, die in seine Verantwortung fallen könnten, gehören die drei Instrumente der GASP: der Gemeinsame Standpunkt, die Gemeinsame Aktion sowie die Gemeinsame Strategie. Bislang müssen diese überwiegend einstimmig beschlossen werden.“[21] Allerdings räumt die Denkfabrik auch gleich ein, aufgrund der „nationalstaatlichen Beharrungskräfte“ sei „dieses Modell auf absehbare Zeit nicht zu verwirklichen.“[22]

Allein schon weil es illusorisch ist, dass die kleinen und mittleren Staaten dem zustimmen würden, sind sich deshalb alle Papiere darin einig, dass die sensibelsten Entscheidungen der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) nicht allein vom ESR gefällt werden können – die KAS etwa schreibt: „Entscheidungen wie die über künftige EU-Erweiterungen müssten dem Gesamtkollegium der Staats- und Regierungschefs vorbehalten bleiben. Auch sollten GSVP-Missionen zunächst weiterhin vom Rat mandatiert und die Zusammenarbeit mit der NATO bei Einsätzen von allen Mitgliedstaaten beschlossen werden.“[23]

Dennoch soll der ESR weitreichende Kompetenzen erhalten, insbesondere die Fähigkeit, Entscheidungen „vorzubereiten“, wie es bereits von Angela Merkel angedeutet worden war. Hierüber soll es den „restlichen“ EU-Staaten erschwert werden, sich erst einmal im Vorfeld bereits festgelegter Positionen zu widersetzen, wofür das „Martens Centre“ folgendes Kompetenzbündel vorschlägt: „Der ESR würde die Kompetenz haben, Resolutionen über internationale Konflikte zu verabschieden und alle fünf Jahre ohne weiteren Input anderer Nicht-ESR-EU-Länder eine neue Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) aufzulegen. Er würde auch in der Lage sein, dem Rat Vorschläge für Exekutivhandlungen zu unterbreiten […].“[24] Mehr noch: „Sollten die ESR-Mitgliedsstaaten nach Anhörung der relevanten Experten zu einem Konsens gelangt sein, wie die EU auf eine bestimmte Krise oder Herausforderung reagieren sollte, hätte der ESR das Recht, einen Entwurf für eine Ratsentscheidung anzufertigen, um schnellere EU-Entscheidungen zu ermöglichen. Diese Ratsentscheidungen könnten beispielsweise die Entsendung einer neuen zivilen oder militärischen Operation, die Verhängung von Sanktionen oder die vorübergehende Schließung der diplomatischen EU-Präsenz in einem Land, das schwerer Menschenrechtsverletzungen für schuldig befunden wird, betreffen.“[25]

Und dann entscheidend: „Angesichts der Tatsache, dass die mächtigsten EU-Staaten auch stets im ESR repräsentiert wären, wäre es für Nicht-ESC-Mitglieder nicht einfach, die Annahme solcher Entwürfe für Ratsentscheidungen zu verhindern, sollte der ESR sie einmal auf die Ratsagenda gesetzt haben. Der Grund dafür besteht darin, dass positiver Gruppendruck [„positive peer-pressure“] Nicht-ESR-Mitglieder wahrscheinlich in Richtung einer Unterstützung der vom ESR vorgeschlagenen Maßnahmen drängen würde, selbst wenn sie sie nicht voll unterstützen sollten.“[26]

In etwas anderen Worten beschreibt die KAS das mit dem ESR verbundene Ziel, renitente Mitgliedsstaaten außerhalb des Gremiums „auf Linie“ zu bringen, folgendermaßen: „Mit dem ESR wäre daher eine doppelte Hoffnung verbunden: Einerseits würde der ESR die Formulierung klarer und eindeutiger Politiken im EU-Rahmen befördern. Andererseits würden Abweichler durch die erhöhte Sichtbarkeit und den erhöhten Erklärungsaufwand angereizt, sich nur bei sensiblen Entscheidungen, die für sie von zentraler Bedeutung wären, vom Votum des ESR zu distanzieren.“[27]

4. Komposition: Ein EU-Direktorium

Aufgrund der potenziell weitreichenden Möglichkeiten, über einen EU-Sicherheitsrat andere Mitgliedsstaaten an die Kandare zu nehmen, ist seine mögliche Zusammensetzung von entscheidender Bedeutung. Insofern verwundert es auch nicht weiter, dass fast alle Vorschläge hierzu den großen EU-Staaten ständige Sitze und Vetomöglichkeiten einräumen wollen. Zumeist stellen sich die „Denkfabrikler“ die Zusammensetzung in etwa so vor, wie hier die „Stiftung Wissenschaft und Politik“: „Dem Europäischen Rat als Zentrum der GASP würde ein Direktorium übergeordnet, zum Beispiel ein Europäischer Sicherheitsrat (EU-SR). In einer solchen Super-Formation wären die fünf größten EU-Länder Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen sowie der Präsident des Europäischen Rats als ständige Mitglieder vertreten. Sie würden von sechs weiteren EU-Ländern nach dem Rotationsprinzip ergänzt, wobei das Vorsitzland im Rat immer einen der »rotierenden« Sitze hielte.“[28]

Eine wenigstens – im Sinne von Kriterien – nachvollziehbare Begründung, wie sich ein solcher Sicherheitsrat zusammensetzen soll, liefert das „Martens Centre“: Zehn Staaten sollen es sein, wobei fünf ständige Sitze an die mächtigsten EU-Staaten vergeben werden sollten, die um drei rotierende und zwei fallspezifische Mitglieder ergänzt würden. Als „quantifizierbare Kriterien“ für die Auswahl der ständigen Mitglieder nennt das „Martens Centre“ die Bevölkerungsgröße im Vergleich zu der Frankreichs (als dem aus Sicht der Denkfabrik militärisch stärksten EU-Akteur), die kombiniert mit der Höhe der Militärausgaben im Verhältnis zu der Frankreichs einen Wert ergeben soll, der dann darüber entscheidet, ob ein Land in den erlauchten Kreis der ständigen EU-Sicherheitsratsmitglieder aufgenommen wird. Um eine gewisse Durchlässigkeit bei sich ändernden Machtverhältnissen zu gewährleisten, schlägt die Denkfabrik dann noch vor, dass diese Rangliste alle fünf Jahre einer Überprüfung unterzogen wird.[29]

Ausgerechnet die „Konrad-Adenauer-Stiftung“ schert hier ein wenig aus, indem sie vorschlägt, dass beileibe nicht allen EU-Großmächten ein obligatorischer Platz am ESR-Tisch garantiert werden sollte: „Eines der drei bevölkerungsreichsten EU-Mitgliedstaaten sollte ebenfalls vertreten sein: Deutschland, Frankreich und Italien.“[30] Allerdings mildert sie im selben Atemzug die verwegene Vorstellung, die EU-Großmächte – und insbesondere Deutschland – könnten (wie im Übrigen die meisten anderen EU-Mitglieder ja auch) von relevanten Entscheidungen ausgeschlossen werden, entscheidend ab. Dies geschieht, indem finanziell begründete Vetorechte eingeschleust werden, die dann den Großmächten doch wiederum alle Optionen in die Hände spielen würden: „Alternativ wäre denkbar, im Vorhinein ein Quorum zu definieren, in dem, ähnlich dem Rotationsverfahren bei der Besetzung des ESR, das Widerspruchsgewicht der Staaten in Abhängigkeit vom Haushaltsanteil ihrer Verteidigungs- und Entwicklungshilfeausgaben oder von ihrer Beteiligung in GSVP-Missionen (finanziell und personell) Eingang fände (gewichtetes Veto). Denn wer bezahlt, soll nicht überstimmt werden dürfen.“[31]

5. Bruch des Gleichheitsprinzips

Freundlich formuliert leidet die EU schon heute unter einem Besorgnis erregenden Demokratiedefizit: „Kein Land, das so verfasst wäre wie die EU und die Eurozone, könnte jemals selbst Mitglied in dieser Union werden.“[32] Dies trifft vor allem auf die Außen- und Militärpolitik zu, wo die Regierungen der Staaten im Rat (Exekutive), weitgehend unbehelligt von EU-Parlament (Legislative) oder EU-Gerichtshof (Judikative) schalten und walten können, wie es ihnen gerade beliebt. Diese Machtkonzentration wird nun seit einigen Jahren durch eine immer stärkere Verschiebung der Macht- und Einflussmöglichkeiten innerhalb des Rates auf die EU-Großmächte verstärkt. Hierüber wird nicht nur das bestehende Demokratiedefizit weiter akzentuiert, sondern der gesamte Charakter der Europäischen Union nimmt hierüber immer hierarchischere Züge an.[33]

Das Interesse der Großmächte an dieser Entwicklung liegt auf der Hand. Weshalb aber kleine und mittlere Staaten ohne Not zustimmen sollten, die Entscheidungsgewalt über ihre Außen- und Militärpolitik an ein wie auch immer dann konkret zusammengesetztes Gremium wie den ESR abzugeben, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und tatsächlich, auch hier sind sich alle Papiere einig, sei es nachvollziehbar, dass ein EU-Direktorium eine Pille sei, die für viele EU-Länder nur schwer zu schlucken wäre. So räumt die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ ein: „Mit der Einrichtung eines Europäischen Sicherheitsrates dürften sich vor allem die kleineren EU-Mitgliedstaaten schwertun. [Daher] dürfte es bei vielen Mitgliedstaaten auf Unverständnis stoßen, wenn Deutschland und Frankreich eine derart prominente Stellung eingeräumt würde. Deshalb besteht die Gefahr, dass zahlreiche Mitgliedstaaten den ESR ablehnen würden.“[34]

Die Einrichtung eines EU-Sicherheitsrates sei ein klarer „Bruch mit dem Gleichheitsgrundsatz“, so die Regierungsberater in einem anderen Papier. Andererseits lägen die machtpolitischen Vorteile eines solchen Gremiums auf der Hand, es sei deshalb unklar, ob es sich als „Befreiungsschlag oder Spaltpilz” erweisen werde.[35] Ungeachtet des vermeintlich sorgsamen Abwägens von Pro und Contra ist das abschließende Urteil, ob es einen EU-Sicherheitsrat braucht, am Ende doch völlig eindeutig: „Um das politische Gewicht des ESR zu erhöhen, wird man jenen Staaten Europas eine Vorzugsstellung einräumen müssen, die aufgrund ihrer Ambitionen und Ressourcen besondere Verantwortung für die außenpolitische Handlungsfähigkeit Europas tragen. Sie könnten entweder durch einen ständigen, nichtrotierenden Sitz oder aber durch eine Vetoposition bei Abstimmungen privilegiert werden.“[36]

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt auch das „Martens Centre“ nach Abwägung derselben Pro und Contra-Argumente: „Zumindest einige der Länder, die beim ESR außen vor bleiben würden, werden nahezu sicher ihre Bedenken äußern. Aber sollte es die EU ernst mit ihren Ambitionen meinen, strategisch autonom zu werden, wenn sie ein effektiverer internationaler Akteur werden will, der auf globaler Ebene auf Augenhöhe mit Riesen wie Russland, China und den USA mithalten kann, dann gibt es keine Alternative zu einer wie auch immer gearteten Stärkung („empowerment“) der großen EU-Mitgliedsstaaten in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. „Die nackte Wahrheit besteht darin, dass zwar alle Mitglieder auf dem Papier gleich sind, in der Praxis aber einige gleicher als andere sind. Die EU-Außenpolitik wird es überleben, wenn beispielsweise Belgien nicht bereit ist, eine gemeinsame Position gegenüber Venezuela zu unterstützen. Was sie aber nicht überleben wird ist, wenn es Deutschland oder Frankreich nicht tun.“[37]

Es bleibt abzuwarten, ob sich Deutschland und Frankreich mit ihren Ideen tatsächlich werden durchsetzen können – in jedem Fall dürften die Reaktionen von Belgien und den vielen anderen „Außenseitern“, die an den Katzentisch der EU verbannt werden sollen, interessant werden.

Anmerkungen

[1] Nováky, Niklas: EU It Yourself: a blueprint for a European Security Council, Martens Centre for European Studies 2019, S. 44.

[2] „Die europäischen Anstrengungen auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verteidigung sollten die EU in die Lage versetzen, autonom zu handeln und gleichzeitig zu Maßnahmen der NATO beizutragen und gemeinsam mit ihr Maßnahmen durchzuführen. Eine glaubwürdigere europäische Verteidigung ist auch für eine gesunde transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von wesentlicher Bedeutung.“ (Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel, 28.06.2016, S. 16)

[3] „Strategische Autonomie wird hier als die Fähigkeit definiert, eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen.“ (Lippert, Barbara u.a.: Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte, SWP-Studie 2, Februar 2019.

[4] Drent, Margriet: European strategic autonomy: Going it alone? Clingendael Policy Brief, August 2018, S. 4.

[5] Siehe Haydt, Claudia/Wagner, Jürgen: Die Militarisierung der EU, Berlin 2018, insb. Kapitel 8 und 9.

[6] Wientzek, Olaf/Rieck, Christian E.: Brüssels neue Telefonnummer? Wie ein Europäischer Sicherheitsrat die EU-Außenpolitik stärken könnte, Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen & Argumente, Nr. 311, August 2018, S. 5.

[7] Lippert u.a. 2019, S. 5.

[8] Speck, Ulrich: Why Europe Needs a Security Council, Berlin Policy Journal, 30.04.2019; ders.: Ein strategischer Baustein, in: Internationale Politik, Mai/Juni 2019. Ganz ähnlich äußerte sich Anfang Mai 2019 auch David McAllister: „Einen europäischen Sicherheitsrat fordert der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europaparlament, David McAllister. Der Spitzenkandidat der niedersächsischen CDU für die Europawahl verlangt zudem die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen im EU-Außenministerrat. Bisher muss das Gremium einstimmig entscheiden. […] ‚Handelspolitisch sind wir auf Augenhöhe mit den USA und China, außenpolitisch verzetteln wir uns aber im Kleinklein.‘“ (McAllister fordert europäischen Sicherheitsrat, süddeutsche.de, 06.05.2019)

[9] Lippert u.a. 2019, S. 9.

[10] Kaim, Markus/Kempin, Ronja: Ein Europäischer Sicherheitsrat. Mehrwert für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU? SWP-Aktuell 2018/A 65, November 2018, S. 2. Schon Anfang 2018 kritisierte Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz: „Solange jeder Kleinstaat mit einem Veto eine gemeinsame Außenpolitik verhindern kann, wird die EU bei der Lösung internationaler Krisen […] nur eine Nebenrolle spielen.“ (Haydt, Claudia/Lösing, Sabine: Der Griff nach der Macht. Mehrheitsentscheidungen und Machtverschiebungen in EUropa, in: AUSDRUCK (Dezember 2018), S. 12)

[11] Vgl. Haydt/Lösing 2018.

[12] Nováky 2019, S. 15ff.

[13] „Um diese Anstrengungen voranzutreiben, schlagen Deutschland und Frankreich vor, dass der Europäische Rat einmal jährlich als Europäischer Sicherheitsrat tagt, um über Fragen der inneren und äußeren Sicherheit und Verteidigungsfragen der EU zu beraten. Dieser Europäische Sicherheitsrat sollte durch ein Treffen der Außen-, Verteidigungs- und Innenminister vorbereitet werden.“ (Ayrault, Jean-Marc/Steinmeier, Frank-Walter: Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt, Auswärtiges Amt, Stand 27.06.2016)

[14] Frontini, Andrea: The ‘Macron effect’ on European defence: En Marche, at last? European Policy Centre, 1 June 2017.

[15] Gutschker, Thomas/Lohse, Eckart: Kanzlerin Merkel im Gespräch: Europa muss handlungsfähig sein – nach außen und innen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.06.2018.

[16] Es gelte „neue Möglichkeiten zu prüfen, wie die EU-Entscheidungsfindung in unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschleunigt und effizienter gemacht werden kann. Wir brauchen eine europäische Debatte über neue Formate, zum Beispiel einen EU Sicherheitsrat, und über Möglichkeiten einer engeren Abstimmung innerhalb der EU und in externen Foren.“ (Erklärung von Meseberg. Das Versprechen Europas für Sicherheit und Wohlstand erneuern, Die Bundesregierung, Pressemitteilung 214, 19.06.2018)

[17] Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor dem Europäischen Parlament, Straßburg, 13.11.2018.

[18] „Der Moment des Neubeginns in Europa“, Spiegel Online, 05.03.2019.

[19] Kramp-Karrenbauer hat eigene Pläne für Europa, Spiegel Online, 09.03.2019.

[20] Ähnlich vage blieb beispielsweise auch Außenminister Heiko Maas, als er sich bereits im Oktober 2018 für einen EU-Sicherheitsrat aussprach: „Wir müssen die EU endlich außenpolitikfähig machen. […] In einem solchen Format [dem ESR] könnten wir in einem kleineren Kreis wechselnder Mitglieder – stellvertretend für die gesamte EU – rascher und intensiver an der Lösung aktueller Krisen arbeiten.“ (Berlin will Europäischen Sicherheitsrat, süddeutsche.de, 08.10.2018)

[21] Kaim/Kempin 2018, S. 4.

[22] Ebd., S. 4.

[23] Wientzek/Rieck 2018, S. 5.

[24] Nováky 2019, S. 9.

[25] Ebd., S. 34.

[26] Ebd., S. 34f.

[27] Wientzek/Rieck 2018, S. 5.

[28] Lippert u.a. 2019, S. 11.

[29] Nováky 2019, S. 28. Dieser Vorschlag klammert Großbritannien explizit aus. Dennoch halten sowohl Merkel und Macron als auch einige der Vorschläge aus den Denkfabriken eine britische Mitgliedschaft im ESR sowohl für denkbar als auch augenscheinlich für wünschenswert. Wie dies aber nach einem Brexit funktionieren soll, bleibt einigermaßen schleierhaft.

[30] Wientzek/Rieck 2018, S. 6.

[31] Ebd., S. 7.

[32] Schuhmann, Harald: Blackbox EU: Wie demokratisch ist Europa? in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2019, S. 41-51, S. 50.

[33] Vgl. Haydt/Wagner 2018.

[34] Kaim/Kempin 2018, S. 5.

[35] Lippert u.a. 2019, S. 39.

[36] Kaim/Kempin 2018, S. 6.

[37] Nováky 2019, S. 44.

Veröffentlichung am 7.6.2019 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)