Autor: Jürgen Wagner
Die Debatte über die „Europäisierung“ der Force de Frappe
Am 7. Februar 2020 hielt der französische Präsident Emmanuel Macron eine mit Spannung erwartete Grundsatzrede, in der er mit Ankündigung die bereits seit einiger Zeit durch die Gegend geisternde Frage einer möglichen „Europäisierung“ des französischen Atomwaffenarsenals („Force de Frappe“) adressieren wollte. Ihre Bedeutung erhielt die Rede, die an sich wenig Neues enthielt, nicht zuletzt deswegen, weil im Vorfeld vor allem in Deutschland immer mehr Stimmen laut wurden, die von Frankreich mehr oder minder offen forderten, seine Nuklearwaffen auf diesem Weg gefälligst faktisch mit Deutschland zu teilen.
Das Thema soll unter anderem bei der Münchner Sicherheitskonferenz am kommenden Wochenende noch einmal aufgerufen werden – insofern ist es interessant, wie deutlich deren Leiter, Wolfgang Ischinger, dazu bereits vor ziemlich genau einem Jahr seine Präferenzen äußerte: „Die atomaren Einsatz-Optionen Frankreichs sollten nicht nur das eigene Territorium, sondern auch das Territorium der EU-Partner mit abdecken.“
Brisant ist das Ganze auch deshalb, weil die Europäisierung der französischen Atomwaffen unter einflussreichen EU-Strategen als wesentliche Vorbedingung für eine französischen Präferenzen entsprechende unabhängig von den USA funktionierende „Militärmacht Europa“ gilt. Auf der anderen Seite stellt das eigene Atomwaffenarsenal für Frankreich aber auch ein wesentliches Machtmittel dar, um nicht zuletzt dem wachsenden deutschen Einfluss in der Europäischen Union etwas entgegensetzen zu können. Schon allein deshalb gibt es dort enorme Vorbehalte, diesbezügliche Entscheidungsbefugnisse teilweise in andere – und schon gar nicht in deutsche – Hände zu legen.
Weil Macron dies in seiner Rede mehr als deutlich gemacht hat, enthielten Teile der Reaktionen eine Mischung aus Enttäuschung, Ärger und manchmal sogar wenig versteckten Drohungen, dann müsse Deutschland eben über eigene Atomwaffen nachdenken.
Deutschland: Atomare Avancen
Nicht erst seit Macrons Grundsatzrede ist eine mögliche „Europäisierung“ des französischen Atomwaffenarsenals innerhalb der deutschen Strategischen Gemeinschaft Gegenstand der Debatten. Ein solcher Schritt würde eine machtpolitische Emanzipation von den USA ermöglichen und gleichzeitig auch per Umweg endlich einen direkteren Zugriff auf die Bombe ermöglichen, den Hardliner schon seit etlichen Jahrzehnten anstreben.
Zuletzt war es der CDU-Verteidigungspolitiker Johann Wadepuhl, der sich Anfang Februar im unmittelbaren Vorfeld von Macrons Grundsatzrede in die Debatte einschaltete: „Wir müssen eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen ins Auge fassen […]. Deutschland sollte bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen. Im Gegenzug sollte Frankreich sie unter ein gemeinsames Kommando der EU oder der Nato stellen.“
Seine nukleare Autonomie lässt sich Frankreich einiges kosten: „Jedes Jahr gibt Frankreich 4,5 Milliarden Euro für die nukleare Abschreckung aus, 20 Prozent seines Militärbudgets, hochgerechnet 20 Centimes pro Tag und Bürger. Die nötige Modernisierung des weniger als 300 Köpfe zählenden Atomwaffenarsenals wird in den nächsten fünf Jahren allein 37 Milliarden Euro kosten und auf insgesamt 50 Milliarden beziffert.“
Vor diesem Hintergrund machte sich der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter bereits vor einiger Zeit darüber Gedanken, wie – bzw. ob – denn Frankereich für die Abgabe diesbezüglicher Entscheidungs- und damit vor allem Machtkompetenzen finanziell kompensiert werden könnte. Er beauftragte damit Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, der auch gleich noch klären sollte, ob ein „europäischer“ Atomwaffenzugriff Deutschlands im Einklang mit dem „Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag“ (NVV) stehen würde. Daraufhin erklärte der Wissenschaftliche Dienst am 23. Mai 2017 pflichtschuldig mit seinem Sachstand „Deutsche und europäische Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale“ alle rechtlichen Bedenken für irrelevant erklärte. „Die derzeitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands aus dem NVV und dem ‚Zwei-Plus-Vier-Vertrag’ beschränken sich auf das Verbot eines Erwerbs von eigenen Atomwaffen (‚deutsche Bombe’). Die ‚nukleare Teilhabe’, wie sie bereits im Hinblick auf die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen praktiziert wird, verstößt ebenso wenig gegen den NVV wie die Ko-Finanzierung eines ausländischen (z.B. französischen oder britischen) Nuklearwaffenpotentials.“
Im Hintergrund von derlei Überlegungen steht eine grundsätzliche – und deutlich zunehmende – Skepsis gegenüber den USA, die augenscheinlich das Bedürfnis nach „nuklearen Alternativen“ mit befeuert. Für einen EU-Umweg zur Atombombe sprachen sich laut FAZ in einer Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung auch eine Mehrheit der Bevölkerung aus – dass die aber nur ganz knapp über den 31 Prozent liegt, die Atomwaffen ganz weg haben will, vergisst das Blatt geflissentlich zu erwähnen: „Die klassische und nach wie vor tragende Variante – der amerikanische Nuklearschirm – ist nur noch für 22 Prozent der Befragten wünschenswert. Favorisiert wird stattdessen eine europäische Variante, mit Frankreich und Großbritannien als Garanten. 40 Prozent wünschen sich, dass Berlin sich in erster Linie um den nuklearen Schutz durch diese beiden Staaten bemüht, die zwar über Atomwaffen verfügen, allerdings deutlich weniger als die Vereinigten Staaten. Für die Idee, dass Deutschland sich selbst schützt und eigene Nuklearwaffen entwickelt, spricht sich nur eine kleine Minderheit aus. Sieben Prozent würden einen solchen Schritt begrüßen.“
Vor diesem Hintergrund wurde teils ein großer Wurf von Macron erwartet, wenn etwa die FAZ am Tag vor seiner Grundsatzrede eine Atommacht Europa herbeivisionierte: „Könnten französische Nuklearwaffen bald auch Deutschland schützen? Nach eigenem Bekunden will Macron den gaullistischen Unabhängigkeitsgedanken hinter der Atomstreitmacht weiterentwickeln – im europäischen Sinne. […] Sollte am Ende des Ausbaus der europäischen Verteidigungskapazitäten auch ein europäischer Nuklearschirm stehen?“
Frankreich: Non, mais…
Wie zu erwarten war, erteilte Macron allen Vorstellungen, sein Land werde substanzielle Entscheidungsbefugnisse in Atomwaffenfragen abgeben, eine mehr als deutliche Absage. Schon als Ischinger im Februar 2019 seine nukleare Charmeoffensive Richtung Paris richtete, wurde dies abschlägig beschieden. In der FAZ hieß es damals: „Frankreich ist nach dem Brexit die einzige Nuklearmacht in der EU. Doch es sieht nicht so aus, als wolle sich das Land schützend vor die Staatengemeinschaft stellen: Dass Macron nicht zur Sicherheitskonferenz nach München kommt, ist dafür nur ein Indiz.“
Für seine jetzige Grundsatzrede wählte der französische Präsident mit der „Ecole de Guerre“ einen symbolträchtigen Ort, nämlich den, wo Charles de Gaulle am 3 November 1959 den Aufbau der „Force de Frappe” angekündigt hatte. De Blog Augengeradeaus fasste die zwei Kernbotschaften – Absage und Angebot – der Macron-Rede folgendermaßen zusammen: „Zur Force de Frappe, der französischen Atomstreitmacht, sagte Macron im Wesentlichen nichts Neues: die Entscheidung über den Einsatz behalte sich Frankreich selbst vor; eine Einbindung in die Nukleare Planungsgruppe der NATO ist nicht geplant. Frankreich werde aber gerne mit seinen Partnern in einen strategischen Dialog über diese Waffen eintreten.“
So klar Macron etwaigen Vorstellungen einer Europäisierung der „Force de Frappe“ eine Absage erteilte, so deutlich bot er aber eben auch an, das Atomwaffenarsenal – unter französischer Hoheit – in den europäischen Dienst zu stellen: „Um es deutlich zu sagen: Die vitalen Interessen Frankreichs haben fortan eine europäische Dimension“. Er brachte dabei die Option für einen „strategischen Dialog“ über die „Rolle der nuklearen Abschreckung Frankreichs“ ins Spiel. Das kann aus seiner Sicht bis hin zur Einbindung in konkrete Manöver gehen: „Die europäischen Partner, die sich in dieser Richtung engagieren wollen, könnten eingebunden werden in die Übungen der französischen Abschreckungskräfte.“
Kaum verhohlene Drohungen
Die Reaktionen auf Macrons-Rede schwankten in Deutschland vor allem zwischen zwei Polen. Da wären einmal diejenigen, die alle Überlegungen in Richtung einer stärkeren Europäisierung der Atomwaffenfrage – nicht zu Unrecht – ohnehin als eine mögliche Abtakelung der Nuklearen Teilhabe der NATO und damit eine Axt an einem engen Bündnis mit den USA betrachten. Das bereits vorauseilend kurz vor Macron veröffentlichte Bekenntnis von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer dürfte zum Beispiel in diesem Zusammenhang zu sehen sein: „Wir stehen unter dem Nuklearschirm der Nato.“
Auch der seitens der Regierungsberater der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ zum Thema lancierte Artikel geht faktisch in diese Richtung. Macrons Angebot zum Dialog wird links liegen gelassen bzw. in einen Vorschlag umgemünzt, von dem man sicher sein kann, dass er ins Leere laufen wird: „Ein konkretes Angebot enthält die Rede des französischen Präsidenten gleichwohl. […] Die deutsche Antwort auf die Einladung des französischen Präsidenten, einen strategischen Dialog über die Rolle der französischen Nuklearwaffen zu führen, sollte somit lauten: Der Dialog über eine europäische nukleare Abschreckung ist richtig und wichtig, er kann jedoch am besten in den seit Jahrzehnten gut etablierten Institutionen der Nato – zuvorderst der der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) – stattfinden. Eine Beteiligung Frankreichs an der NPG, die gleichzusetzen ist mit der Bereitschaft des Landes, der Nato seine Nuklearwaffen zur Verfügung zu stellen, würde dem Anliegen, den europäischen Pfeiler in der Nato zu stärken, echte Konturen verleihen. Sie wäre auch für alle europäischen Mitglieder des Militärbündnisses tragfähig. Mag sein, dass eine Beteiligung Frankreichs an den gemeinsamen Nuklearstrukturen der Allianz in Paris weiterhin ein Tabu bleibt. Der von Macron angedachte Dialog sollte jedoch vor Tabus nicht zurückschrecken.“
Auf der anderen Seite des Spektrums tummeln sich diejenigen „Strategen“, die extrem verärgert über die französische Weigerung sind, die mit vielen Milliarden aufgebaute „Force de Frappe“ einem deutschen Teilzugriff zu überantworten. Sie plädieren mal mehr mal weniger offen deshalb für eine deutsche Atombewaffnung.
Hochkaräter wie Wolfgang Ischinger haben sich diesbezüglich – wohl nicht zuletzt aus PR-Gründen – bislang zurückgehalten, derzeit noch sind es eher Personen aus der zweiten oder dritten politischen Reihe, die sich in dieser extremen Richtung äußern. In der jüngeren Debatte war es nicht zuletzt der emeritierte Politikprofessor Christian Hacke, der sich lautstark einmischte: „Russland ist zu kalkulieren, nämlich als revisionistische Macht. Und Putin ist ein erstklassiger Machiavellist, der genau weiß, wie er die russische Stärke wieder aufbaut. […] Das ist alles brandgefährlich. Und dann sind wir in einer Situation, brutal ausgedrückt, realistisch, sind wir Hammer oder sind wir Amboss? Und wir sind als Nicht-Nuklearmacht einfach Amboss. Und wir sind von anderen abhängig und wenn man drüber diskutiert, dann geht es vor allem um unsere eigene, um unsere nationale Sicherheit.“
Teile des Establishments nehmen nun Macrons – aus machtpolitischer Sicht nachvollziehbare – Absage an eine weitreichende Teilung atomarer Entscheidungsprozesse zum Anlass, die Frage nach einer deutschen Atombewaffnung mal weniger, mal mehr verklausuliert, erneut aufzurufen. So polterte beispielsweise Jacques Schuster, Chefkommentator der Welt, kurz nach Macrons Rede: „Präsident Emmanuel Macron hat den europäischen Partnern einen ‚strategischen Dialog‘ angeboten – und macht zugleich klar, dass er die Kontrolle über die französischen Atomwaffen behalten will. Das kann Deutschland nicht hinnehmen. […] ‚Die größte Eselei der deutschen Nachkriegsgeschichte war die Unterschrift unter den Atomsperrvertrag‘, schrieb Johannes Gross vor Jahrzehnten. […] Sollten die Amerikaner unter Donald Trump oder einem seiner Nachfolger auf die Idee kommen, die Europäer ihrem Schicksal zu überlassen und die Nato für überflüssig zu erklären, muss eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft in letzter Konsequenz gemeinsam über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden. Verweigert sich Frankreich, die letzte Atommacht der EU, dieser Einsicht, wird es nicht mehr nur ein einzelner Publizist sein, der die deutsche Unterschrift unter den Atomsperrvertrag für eine Eselei hält.“
Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, wie die Frage bei der am kommenden Wochenende anstehenden Münchner Sicherheitskonferenz weiter behandelt werden wird.
Veröffentlichung am 13.2.2020 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)