Per Interventions- und Geopolitik Richtung Schwarz-Grün
Bis Herbst 2020 wollen die Grünen ein neues Grundsatzprogramm mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen verabschieden. In den in diesem Zusammenhang lancierten Programmprozess wurden nun zwei Papiere eingespeist, die es in sich haben. Sowohl der Grünen Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner als auch dem ersten „Impulspapier“ des „Forums Neue Sicherheitspolitik“ der „Böll-Stiftung“ geht es darum, Deutschland und Europa als geopolitischen Akteur militär- und machtpolitisch in Stellung zu bringen – und wohl ebenso sehr darum, die Partei auf Kurs in Richtung einer möglichen Schwarz-Grünen Koalition zu bringen. Damit könnte sich der Wandel der Grünen zur Kriegspartei weiter beschleunigen, der schon vor Jahrzehnten seinen Anfang nahm.
„Versagen im Ernstfall“
Auch wenn sich die bellizistische Wende der Grünen schon länger abgezeichnet hatte, ereignete sich der entscheidende Schritt über den Rubikon Ende der 1990er. Bereits kurz nachdem die Grünen im September 1998 als Juniorpartner frisch an die Seite der SPD gewählt wurden, waren sich die Abgeordneten über ihre neuen staatsbürgerlichen Pflichten im Klaren: Mitte Oktober 1998 legten sie ihren friedenspolitischen Offenbarungseid ab, indem 26 Grünen-Abgeordnete einer deutschen Beteiligung an dem sich anbahnenden NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien zustimmten (neun lehnten ab und acht enthielten sich).
Der mit eklatanten Lügen gerechtfertigte, völkerrechtswidrige, weil ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates durchgeführte NATO-Krieg startete dann am 24. März 1999. Für die Grüne Partei kam der Showdown schließlich auf dem Bielefelder Parteitag am 13. Mai 1999, mitten während der Bombardierungen Jugoslawiens. Gezeichnet von einem Farbbeutelwurf, den er öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen wusste, trommelte Außenminister Joschka Fischer vehement für eine Kriegszustimmung durch die Delegierten – mit Erfolg: 444 Befürworter setzten sich gegen 318 Gegner der deutschen Beteiligung an dem Angriffskrieg durch.
Obwohl seinerzeit viel davon die Rede war, es handele sich hierbei um eine „einmalige Ausnahme“, wurde daraus schnell die Regel. Der nächste Akt kam dann, als dem Bundestag im November 2001 der Antrag über eine Beteiligung deutscher Soldaten an der „Operation Enduring Freedom“ (OEF) vorlag. Damals standen in diesem Zusammenhang der Afghanistan-Krieg und der gesamte „Krieg gegen den Terror“ zur Abstimmung, den die USA in der Folge der Terroranschläge des 11. September 2001 bereits vom Zaun gebrochen hatten. Nachdem Kanzler Gerhard Schröder die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbunden hatte, erklärte die den Einsatz eigentlich befürwortende Opposition, unter diesen Umständen müsse sie gegen den Antrag stimmen. Dies setzte acht erklärte Grüne OEF-Gegner erheblich unter Druck, weil eine geschlossene Ablehnung die Regierungsmehrheit zerschossen und Neuwahlen zur Folge gehabt hätte. Aus diesem Grund entschlossen sie sich in einem schamlosen Akt des arithmetischen Pazifismus dazu, sich aufzuteilen, weil vier Gegenstimmen aus den Reihen der Grünen gerade ausreichten, um die Regierungsbeteiligung aufrechterhalten zu können.
Zwar versagten die Grünen (wie auch die SPD) dann dem US-Krieg gegen den Irak ab 2003 die Gefolgschaft, was allerdings wohl weniger pazifistischen Erwägungen als dem Bestreben geschuldet gewesen war, dem zu allzu forschen Alleingängen neigenden „großen Bruder“ aus Übersee einen Dämpfer zu verpassen. Denn generell befanden sich die Grünen auch weiter konsequent auf dem Kriegspfad: Die nur einen Monat nach Beginn des Jugoslawien-Krieges verabschiedete neue NATO-Strategie, mit der derlei Interventionen zur Kernaufgabe der Allianz erklärt wurden, wurde ebenso mitgetragen, wie der Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee, für die unter anderem die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ von 2003 standen. Auch dem damals noch EU-Verfassung genannten EU-Grundlagenvertrag (heute: Vertrag von Lissabon), mit dem die Weichen in Richtung Militärmacht EUropa gestellt wurden, konnten die Grünen fast nur positive Aspekte abgewinnen.
Die endgültige Hinwendung der Grünen zum Bellizismus war eine Axt in den Rücken der Friedensbewegung, ohne die es wohl nicht möglich gewesen wäre, die grundsätzliche Ablehnung deutscher Kriegseinsätze überwinden zu können. So waren die Grünen maßgeblich an dem beteiligt, was Gerhard Schröder rückblickend als die größte Errungenschaft seiner Amtszeit bezeichnet hatte: der „Enttabuisierung des Militärischen“. Im Jahr 2007 versammelten sich einige der letzten pazifistischen Parteireste in der „Grünen Friedensbewegung“ und unternahmen fortan den – vergeblichen – Versuch, die Partei an ihre Wurzeln zu erinnern. In der damaligen Gründungserklärung wurde ein vernichtendes Urteil ausgestellt: „Mit dem Eintritt in die rotgrüne Koalition erodierten die friedenspolitischen Ansprüche der Grünen substantiell. Solange Entscheidungen, an Kriegen teilzunehmen nicht anstanden, war es leicht, gegen den Krieg zu sein. Als es darauf ankam, versagten die Grünen. […] Die GRÜNEN trieben in den Regierungsjahren den zielstrebigen Ausbau der Bundeswehr zu einer angriffsfähigen Armee voran. […] Die Kriegsteilnahmen gingen mit der Entwicklung und Beschaffung neuer Angriffswaffen einher. Dabei erwiesen sich die entsprechenden deutschen bzw. europäischen Waffen in den Jahren GRÜNER Regierungsbeteiligung immer mehr als Exportschlager.“[1]
Speerspitze des Interventionismus
Wer allerdings glaubte, die Grünen würden wieder stärker friedenspolitisch blinken, nachdem sie 2005 aus der Regierung geflogen waren, sah sich bald im Großen und Ganzen eines Besseren belehrt: Eine prinzipielle Ablehnung deutscher Kriegseinsätze stand jedenfalls nicht mehr ernsthaft zur Debatte und damit im Grundsatz auch nicht mehr die sie bedingenden „Folgeerscheinungen“: Rüstungsausgaben, Rüstungsindustrien und Rüstungsexporte.
Im Gegenteil: in vielen Konflikten erwiesen sich die Grünen regelrecht als Speerspitze des deutschen Interventionismus. Überdeutlich wurde dies in der Frage einer deutschen Beteiligung am Kriegseinsatz gegen Libyen im Jahr 2011, dessen verheerende Auswirkungen bis heute tagtäglich vor Augen geführt werden. Als sich damals die Gegner um FDP-Außenminister Guido Westerwelle koalitionsintern gegen die Interventionisten um CDU-Verteidigungsminister Thomas de Maizière durchgesetzt hatten, waren es nicht zuletzt Grüne, die dies lautstark kritisierten.
Einmal mehr ging dabei Joschka Fischer in die Bütt, indem er gleich auch noch die letzten skeptischen Reste in seiner Partei mit abstrafte: „Mir bleibt da nur die Scham für das Versagen unserer Regierung und – leider! – auch jener roten und grünen Oppositionsführer, die diesem skandalösen Fehler anfänglich auch noch Beifall spendeten. […] Die deutsche Politik hat in den Vereinten Nationen und im Nahen Osten ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt, der Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat wurde soeben endgültig in die Tonne getreten, und um Europa muss einem angst und bange werden.“[2]
Richtig aus der Deckung sollten die Grünen dann aber im Zuge der Konflikte um die Ukraine ab 2014 kommen. Schließlich waren es nicht zuletzt Grüne Spitzenpolitiker wie Marieluise Beck, Rebecca Harms, Franziska Brantner, Ralf Fücks oder Manuel Sarrazin, die sich buchstäblich an vorderster Front für den Umsturz in der Ukraine engagierten. Dass dies unter massiver Mithilfe faschistischer Kräfte geschah, wurde augenscheinlich billigend in Kauf genommen, schließlich ging es darum, den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch loszuwerden, dessen primäre „Schuld“ vor allem darin bestand, ein Assoziationsabkommen mit der EU abgelehnt zu haben, mit dem sein Land als peripheres Mitglied der westlichen Einflusssphäre einverleibt worden wäre.
Im August 2014 unterschrieben u.a. die oben genannten Grünen-Politiker einen offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel, in dem sie faktisch einen verschärften Konfrontationskurs gegenüber Russland forderten: „Wird Europa zusehen, wie ein Staat zerstört wird, der sich für die europäischen Werte entschieden hat? […] Die Bundesregierung hat bisher hartnäckig vermieden, von einem Krieg Russlands gegen die Ukraine zu sprechen. Jede realistische Politik beginnt aber damit, die Dinge beim Namen zu nennen. Die EU darf keinen Zweifel daran lassen, dass die Aggression gegen einen Staat, mit dem sie ein Assoziationsabkommen geschlossen hat, einen hohen politischen und ökonomischen Preis kosten wird. Die Sanktionen gegen Russland müssen ausgeweitet, die Unterstützung für die Ukraine auf allen Ebenen verstärkt werden.“[3]
Seither hat sich innerhalb der Grünen ein nahezu pathologischer Russlandhass breit gemacht, der kaum einen anderen Kurs mehr zu kennen scheint als den der Konfrontation. Neu ist in jüngster Zeit, gerade im Lichte des frisch erschienenen Brantner-Papiers, dass inzwischen zunehmend auch China ins Visier gerät.
Brantner: Geopolitisches Narrativ
Aus der Feder der Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner war sicher kein pazifistisches Manifest zu erwarten. Dennoch ist die Vehemenz überraschend, mit der sie versucht, die Grünen machtpolitisch „besser“ aufzustellen. Den Programmprozess will sie als eine „einmalige Gelegenheit“ nutzen, um den grünen Positionen im außenpolitischen Bereich „ein Update zu geben“. Was sie darunter konkret versteht, führte Brantner in dem am 16. April 2020 veröffentlichten Papier „Grüne vernetzte Außenpolitik für eine Welt in Unordnung“ aus. Sie wolle damit „Grüne Antworten auf die geopolitischen neuen Zeiten“ geben und einen „Beitrag dazu leisten“ ein „außenpolitisches Narrativ zu entwickeln“.[4]
Dieses Narrativ besteht im Wesentlichen darin, dass Deutschland und die EU auf Konfrontationskurs mit Russland und auch China gehen müssten: „Wir erleben die Rückkehr des geopolitischen Wettbewerbs. Revisionistische Kräfte, wie China und Russland, versuchen die Welt neu zu ordnen. […] Europa muss als geopolitischer Akteur erwachsen werden. […] Wenn wir nicht zusammenstehen, dann werden wir Schachbrettfiguren, im Spiel der Großmächte.“
Es bedürfe deshalb einer „vernetzten Geopolitik“, die aber im Kern augenscheinlich darin besteht, wirtschaftliche Verflechtungen mit diesen Rivalen zu kappen: „Die anderen politischen Parteien handeln nicht entsprechend dieser neuen außenpolitischen Situation der ‚vernetzten Geopolitik‘. Im Gegenteil, sie ermöglichen deutsche und europäische Schwachstellen. Die SPD treibt Putins Nordstream 2 Projekt voran, stärkt dadurch Russlands Gashebel und unterminiert die europäische Energiesolidarität. […] Die Kanzlerin will Huawei nicht vom deutschen 5G-Netz ausschließen und erlaubt damit möglicherweise, dass die KP China demnächst an der Schaltzentrale des digitalen Nervensystem Deutschlands sitzt.“
Besonders das neue Feld der Tech-Geopolitik hat es Brantner angetan, für das sie unter anderem – ganz auf Linie von Emmanuel Macron oder etwa dem „Manifest für die digitale Souveränität und geopolitische Wettbewerbsfähigkeit Europas“ des CDU-EU-Abgeordneten Axel Voss – eine Art 5G-Offensive fordert (siehe junge Welt vom 8.4.2020): „[A]uch technologisch und wirtschaftlich [müssen wir] uns behaupten können, sei es bei der Künstlichen Intelligenz, bei der Quantentechnologie oder systemkritischen Komponenten wie Halbleiter. […] Das bedeutet, existierende europäische Player zu stärken und auszubauen. Mit Blick auf die 5G Debatte dürfen Nokia und Ericsson, ebenso wie die kleineren 5G Anbieter wie Amarisoft oder andere, weder durch chinesische, staatlich subventionierte Anbieter vom Markt gedrängt werden, noch amerikanisch aufgekauft werden. Die Europäische Union sollte stattdessen gezielt ein europäisches 5G Konsortium ermöglichen und finanziell unterstützen.“
Generell stelle sich folgende Frage: „Wie sorgen wir dafür, dass wir die Eskalationsspirale dominieren und nicht Putin, Erdogan oder Xi Jin-ping?“
Die Antwort liefert sie gleich mit, nämlich durch eine gezielte EU-Machtpolitik: „Die Realität ist, dass kein europäisches Land alleine gegen die neuen Großmachtansprüche bestehen kann. […] Der Rückzug der USA zwingt uns Europäer dazu, zur Macht zu werden, wenn wir nicht in neue Abhängigkeiten geraten wollen.“
Gleichzeitig soll die Aufrüstung der EU die Möglichkeit eröffnen, die transatlantische Machtverteilung neu zu regeln: „Die Trump-Administration behandelt Europa zunehmend als Vasall, wenn nicht als Rivale, anstatt als Verbündeten. Um den internationalen Herausforderungen gerecht zu werden, muss Europa erwachsen werden und die Arbeitsteilung in der transatlantischen Allianz neu sortieren. Wenn wir wollen, dass Trump uns auf Augenhöhe behandelt, dann müssen wir uns auf Augenhöhe bewegen. Das bedeutet auch unseren eigenen Kontinent geopolitisch ordnen zu können, unsere Militärfähigkeiten [zu] optimieren und ein eigenständiger Akteur zu werden, der trotz Eigenständigkeit eng mit den USA verbunden bleibt und wo möglich an einem Strang zieht.“
Über Militäreinsätze finden sich in Brantners Papier folgende Passagen: „Und wir sind eine Friedenspartei. Wir Grüne wurden auf dem Höhepunkt der deutschen Friedensbewegung gegründet und verdanken dieser Bewegung viel von unserer Überzeugungskraft als Partei. [D]as macht uns besonders vorsichtig im Umgang mit militärischen Mitteln. […] Trotzdem schließen wir die Anwendung solcher Mittel nicht grundsätzlich aus.“
Was das konkret bedeuten soll, bleibt weitgehend nebulös, an einer Stelle schreibt Brantner allerdings: „Welche Arbeitsteilung braucht es zwischen Frankreich und Deutschland? Unsere französischen Verbündeten haben eine andere Einstellung zu Militäreinsätzen. Sie sehen darin oft einen Teil der Lösung, während wir darin meistens einen Teil des Problems sehen. Beide Positionen basieren auf sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen. Sie dürfen aber nicht länger zu einer bequemen und bisher oft angewandten Arbeitsteilung führen, die die lebensgefährlichen Aufgaben den Franzosen und die logistischen Aufgaben den Deutschen überlässt.“
Wenn auch reichlich verklausuliert handelt es sich dabei doch um ein Plädoyer für „robustere“ Einsätze der Bundeswehr – auch und gerade mit Blick auf aktuelle französische Forderung nach mehr Unterstützung im Mali-Krieg. Und spätestens hier ist Brantner dann von CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht mehr zu unterscheiden, die selbiges bereits in einer Grundsatzrede im November vorigen Jahres gefordert hatte.
Impulspapier: Völkerrecht hat ausgedient
Während sich Brantners Text primär um geopolitische Fragen dreht und militärische Aspekte eher nur am Rande streift, verhält es sich bei dem Ende April 2020 veröffentlichten Impulspapier „Die Zukunft von Auslandseinsätzen“ genau umgekehrt.[5] Herausgegeben wurde es vom „Forum Sicherheitspolitik“ der grünennahen Böll-Stiftung, auf deren Homepage folgendes zu lesen ist: „Ziel des Forums ist es den grünen und grün-nahen sicherheitspolitischen Nachwuchs zu fördern, und mid-career Expert/innen in Regierungsinstitutionen, Think Tanks, Forschungsinstituten und Parlament zu stärken und zu vernetzen. Die Vernetzung und Förderung dient dabei dem doppelten Zweck, sowohl als Ideenwerkstatt als auch als tagespolitisches Reflexionsforum Impulse für die grüne sicherheitspolitische Debatte zu generieren.“
Gegründet wurde das Forum, dem insgesamt 28 Mitglieder angehören, im November 2019. Sein erstes Impulspapier wurde nun von fünf dieser Mitglieder verfasst, die allesamt an relativ bekannten Denkfabriken angedockt sind: Sophia Besch (Centre for European Reform), Sarah Brockmeier (Global Public Policy Institute), Tobias Bunde (Centre for International Security, Hertie School), Gerrit Kurtz (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) und Robin Schroeder (Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel).
Auch dieses Papier versteht sich als Beitrag zur „Debatte um das nächste Grundsatzprogramm“, wobei es eigentlich nur eine einzige Forderung erhebt. Gegenstand ist die – völkerrechtlich zwingende – Bindung deutscher Kriegseinsätze an ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, die inzwischen – zumindest offiziell – wieder Teil der Programmatik geworden ist. So heißt es im aktuellen Grünen Grundsatzprogramm: „Für uns gelten die VN-Charta und das Völkerrecht. Darum brauchen Auslandseinsätze ein Mandat der Vereinten Nationen.” Im Wahlprogramm für die Bundestagswahlen 2017 hieß es: „Wir werden Einsätzen der Bundeswehr nur mit einem Mandat der Vereinten Nationen zustimmen.”
Hiermit wollen die AutorInnen des Impulspapiers ein für alle Mal aufräumen: „Die Grünen sollten darauf verzichten, im Grundsatzprogramm und im nächsten Wahlprogramm die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr von einem Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen abhängig zu machen.“
Sie nennen drei Gründe, weshalb dies notwendig sei: Erstens erfordere „eine neue Ära des Großmachtwettbewerbs“ neue Denkansätze. Zweitens würden „Auslandseinsätze der Bundeswehr auch weiterhin notwendig bleiben“. Und drittens sei die „Wahrscheinlichkeit, dass sich die fünf Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat auf ein Mandat einigen, stark gesunken.“
Dass es von den Architekten der UN-Charta womöglich gewollt war, möglichst hohe Hürden für Militäreinsätze zu errichten, kommt den „ExpertInnen“ augenscheinlich nicht in den Sinn. Schließlich wollen sie sich von keinen rechtlichen Bedenken bei der Umsetzung einer „Kernlehre der Partei“ abhalten lassen, nämlich dass Krieg gleich Frieden ist: „Wer in diesem Kontext auf die VN-Mandatspflicht verweist [ist bereit] die Kernlehre der Partei aus einer beispiellosen Auseinandersetzung mit den bisherigen Auslandseinsätzen zu ignorieren: Dass es auf die politischen Lösungen ankommt. Wer politische Lösungen für die Krisen und Konflikte in der europäischen Nachbarschaft vorantreiben und Menschen schützen möchte, der muss zumindest die Möglichkeit offenlassen, als ultima ratio auch militärische Mittel zur Unterstützung solcher Lösungen einzusetzen. Diese politische Notwendigkeit kann nicht automatisch dann enden, wenn der Sicherheitsrat blockiert ist.“
Nicht verschwiegen werden sollte an dieser Stelle, dass kurz darauf ein zweites Impulspapier nachgeschoben wurde, das eine konträre Position einnahm: „Die Grünen sollten militärische Auslandseinsätze weiterhin kritisch im Einzelfall bewerten und auch von einem Mandat der Vereinten Nationen (VN) abhängig machen. […] Militärische Gewalt kann nur als ultima ratio Anwendung finden. In jedem Einzelfall muss ein solcher Einsatz verfassungs-und völkerrechtlich abgesichert sein und politisch auf einem breiten Konsens beruhen. Nur so können sie langfristig zum Frieden beitragen und unsere internationale Ordnung stärken. Diesen Zielen dient das VN-Mandat.“[6]
Trotz dieser an sich erfreulichen Gegenposition gilt es allerdings festzuhalten, dass die einzelnen AutorInnen des zweiten Papiers – zumindest aus arriviertem Blickwinkel – deutlich weniger renommierten Denkfabriken angehören.[7] Außerdem akzeptiert selbst die „friedenspolitische“ Variante Militäreinsätze als „ultima ratio“ – und damit auch, wenn auch unausgesprochen, all die damit einhergehenden Konsequenzen. Die Frage, die kürzlich die militär- und rüstungsnahen Griephan-Briefe (Nr. 18/2020) stellten, ist damit zumindest aus Sicht dieser Papiere im Grundsatz beantwortet: „Die Grünen haben einen langen, teils steinigen Weg hin zur politischen Mitte beschritten; mit ihnen ist in der neuen Parteien-Arithmetik als möglicher Koalitionspartner in einer Regierung grundsätzlich zu rechnen. Ist man in der Geschäftsstelle am Platz vor dem Neuen Tor zu einem öffentlichen und nachhaltigen Bekenntnis zur Wehr und der Rüstungsindustrie bereit?“
Auf Kurs Richtung Schwarz-Grün
Mit den beiden hier ausführlich besprochenen Papieren sollen die Grünen auf den aktuellen militärisch-machtpolitischen Stand gebracht werden – dementsprechend wohlwollend wurden sie in der „strategischen Gemeinschaft“ aufgenommen. Ihre programmatische Stoßrichtung ist jedenfalls eindeutig: zwischen sie und schwarze (oder gelbe) außen- und militärpolitische Vorstellungen passt kaum ein Blatt Papier mehr und das ist wohl auch die zentrale Botschaft, die von diesen beiden Papieren ausgehen soll.
In gewisser Weise wird damit lediglich eine Entwicklung fortgesetzt, die mit der endgültigen Zustimmung zu deutschen Kriegseinsätzen auf dem Bielefelder Parteitag 1999 ihren Anfang nahm. Der ehemalige Grüne Bundestagsabgeordnete Eckhard Stratmann-Mertens, der daraufhin damals umgehend aus der Partei austrat, merkt dazu an: „Als anerkanntem Kriegsdienstverweigerer war es für mich nicht länger erträglich, einer Partei im Krieg, dazu noch mit offenem Völkerrechtsbruch, anzugehören. […] Der Bielefelder Parteitag war eine strategische Wegmarke für die weitere Entwicklung der Partei bis heute: Die innerparteilichen Machtverhältnisse wurden unumkehrbar in Richtung unbedingte Regierungsbeteiligung verschoben. Dass auf Rot-Grün nun bald Schwarz-Grün folgt, ist daher nur konsequent.“[8]
Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst unter dem Titel „Grüner Marschbefehl“ in der jungen Welt vom 6.5.2020 erschien.
Anmerkungen
[1] Das friedenspolitische Erbe der GRÜNEN bewahren! Grüne Friedensinitiative, Ostern 2007.
[2] Joschka Fischer: Deutsche Außenpolitik – eine Farce, Süddeutsche Zeitung, 24.3.2011.
[3] Offener Brief an Merkel und Steinmeier, https://russland.boellblog.org, 29.8.2014.
[4] Grüne vernetzte Außenpolitik für eine Welt in Unordnung, www.franziska-brantner.de, 16.4.2020.
[5] Sophia Besch u.a.: Die Zukunft von Auslandseinsätzen. Die Grünen sollten Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht von einem VN-Mandat abhängig machen, Forum Neue Sicherheitspolitik, Impulspapier 1, April 2020.
[6] Nina Bernarding u.a.: Zusammen denken, was zusammengehört – Völkerrecht und Auslandseinsätze. Die Grünen sollten das Gewaltverbot der Vereinten Nationen achten, Forum Neue Sicherheitspolitik, Impulspapier 2, Mai 2020.
[7] Nina Bernarding (Centre for Feminist Foreign Policy); Felix Deist (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen); Sara Nanni (Hochschule Düsseldorf); Juliana Wimmer (LAG Frieden und Internationales Berlin).
[8] Markus Decker: Zwischen Krieg und Frieden: Der Bielefelder Grünen-Parteitag 1999, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 14.11.2019.
Veröffentlicht am 13. Mai 2020 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)