Die Frontex-Files und das Cyber Valley

Autor: Christoph Marischka

Am 5. Februar gab Jan Böhmermann im ZDF Magazin Royale öffentlich den Startschuss zur Veröffentlichung der „Frontexfiles“, einer Sammlung von Dokumenten der EU-Agentur für den Grenzschutz, deren Herausgabe auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes erzwungen wurde.[1]

Dabei handelt es sich im Kern um Listen von Behörden- und Industrievertreter*innen, die in den vergangenen drei Jahren an Veranstaltungen von Frontex teilgenommen haben sowie um einige der dort vorgestellten Präsentationen. Als Hintergrund verwiesen sowohl das ZDF Magazin Royal als auch die NGO Corporate Europe Observatory auf das massiv anwachsende Budget der Behörde wie auch das Vorhaben, eigene Einheiten für den Grenzschutz mit insgesamt 10.000 Kräften aufzubauen und auszurüsten. Die Autor*innen und auch erste Kommentator*innen sprechen vor diesem Hintergrund von der Herausbildung eines „grenz-industriellen“ bzw. „militärisch-grenzpolizeilichen Komplexes“.[2]

Jenen Firmen, die gleich bei mehreren Treffen anwesend waren, bilden weitgehend das Who-is-Who der europäischen Rüstungsindustrie ab, darunter neben Airbus und Thales u.a. Safran (Frankreich), Leonardo (Italien) und Indra (Spanien). Auch Kleinwaffenhersteller wie Heckler & Koch und Glock waren eingeladen. Unter denjenigen Firmen, die nicht primär in der Rüstungsindustrie tätig sind, hier ihre Aktivitäten im Zuge der Digitalisierung jedoch aktuell ausweiten, finden sich ATOS und der japanische Elektronikkonzern NEC wiederholt in den Listen. In der Auswertung des Corporate Europe Observatory wird NEC auch als eines der relativ wenigen Unternehmen außerhalb Europas hervorgehoben, das in den Frontex-Dateien auftaucht. Neben NEC sind dies ein kanadisches Unternehmen für Gesichtserkennung (Face4Systems) sowie drei israelische Firmen, die im Bereich der Bilderkennung (Shilat Optronics und Seraphim Optronics) und der Drohnentechnologie (Elbit Systems) aktiv sind.[3]

Die insgesamt 108 Unternehmen, die auf den betreffenden Frontex-Treffen vertreten waren, bieten zusammengenommen eine durchaus brauchbare Stichprobe einer sich modernisierenden europäischen Rüstungsindustrie, welche verstärkt auch neue Technologien und mehr oder weniger zivile Anwendungsfelder wie den Grenzschutz in den Blick nehmen. Diese Stichprobe eignet sich damit auch, um die Relevanz einiger Industrie- und Technologie-Cluster hervorzuheben: In diesem Falle das grünschwarz regierte Baden-Württemberg und das von der entsprechenden Landesregierung vorangetriebene „Cyber Valley“.

Unternehmen aus BaWü

Der wesentlich unter dem Dach von Daimler aufgebaute, größte europäische Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus hat seinen Hauptsitz zwar in Frankreich und zentrale Produktionsstätten u.a. in Spanien. Die (inoffizielle) Zentrale seiner Rüstungssparte jedoch befindet sich in München-Ottobrunn (auf dem Gelände der im Nationalsozialismus aufgebauten Luftfahrtforschungsanstalt München). Hauptsitz der Satelliten- und Weltraumtechnik ist Immenstaad am Bodensee – quasi in Sichtweite zum Lenkwaffenhersteller Diehl Defence, dem v.a. auch auf militärische Antriebssysteme spezialisierten Unternehmen MTU und seinem historischen Zulieferer ZF Friedrichshafen. Tatsächlich in Wurfweite liegt direkt gegenüber dem Airbus-Weltraumzentrum in Immenstaad der explizit für militärische Aufträge zuständige Airbus/Daimler-Ableger ND Satcom GmbH. Ein weiterer zentraler Standort von Airbus befindet sich in Ulm. Hier wird v.a. Sensorik und Radartechnologie entwickelt und produziert. Diese Sparte wurde 2017 von Airbus weitgehend in die Hensoldt AG überführt, die ebenfalls in den Frontexfiles auftaucht – aber nicht als außereuropäisches Unternehmen hervorgehoben wird, obwohl es sich überwiegend im Besitz einer US-amerikanischen Holding, der KKR & Co. Inc. befindet.

Neben dem Bodensee und Ulm deutet sich v.a. mit Thales ein weiterer Cluster in Baden-Württemberg an, dessen Relevanz auch angesichts der Frontexfiles unterstrichen wird. Thales ist Bahnfahrer*innen von Fahrkartenautomaten bekannt, wo es die Terminals für bargeldloses Bezahlen verantwortet. Thales ist zugleich eines der größten Rüstungsunternehmen weltweit, das Produkte von der Satellitenkommunikation über vollautonome Waffen bis hin zu Nachtsichtgeräten und „head-mounted displays“ – also Cyber-Brillen für den militärischen Einsatz – anbietet. Seine breit aufgestellte Position in der modernen Rüstung hat das Unternehmen unter der Führung von Thierry Breton eingenommen – ehemaliger Wirtschaftsminister Frankreichs und heutiger EU-Kommissar für Industrie, Digitalisierung und Rüstung.[4] Der deutsche Hauptsitz von Thales befindet sich nur wenige Kilometer nördlich von Stuttgart, in einem Industriegebiet direkt an der A81 nördlich des Engelbergtunnels. Wiederum in Sichtweite befindet sich im gegenüber liegenden Industriegebiet von Weilimdorf eine Niederlassung von ATOS, an der noch heute erkennbar ist, dass sie einst zum Siemens-Konzern gehört hat. Auch ATOS wurde unter dem heutigen Industriekommissar Breton zu einem relevanten Player der Rüstungsindustrie zusammenfusioniert. 2011 hatte der Konzern die Siemens-Tochter „IT Solutions and Services“ übernommen, die explizit auf Dienstleistungen für die Bundeswehr zugeschnitten war. Kurz darauf übernahm ATOS auch den (ehemaligen) IT-Hersteller Bull, der sich zwischenzeitlich auf Cloud-Dienstleistungen für das Militär spezialisiert hatte. Heute hat ATOS gemeinsam mit Thales eine zentrale Rolle in der informationstechnischen Vernetzung der französischen Luft- und Bodenstreitkräfte und leitet das Unternehmen die Studie „Gläsernes Gefechtsfeld“ für die Bundeswehr, bei der KI einzelne Soldat*innen und autonome Systeme auf Grundlage ihrer jeweiligen Position, ihres Munitionsbestandes und ihrer körperlichen Verfassung anleiten soll.[5] Thales wiederum hatte im Februar 2020 feierlich bekannt gegeben, dass es gemeinsam mit Airbus die „Combat Cloud“ für das „Future Combat Air System (FCAS)“ bereitstellen würde.[6] Bei dem deutsch-französischen Großprojekt soll nicht nur ein (bemanntes) Kampfflugzeug der nächsten Generation entwickelt werden, sondern dieses von Anfang an in ein Gesamtsystem eingebettet sein, bei denen eine Vielzahl von autonomen Systemen zusätzliche Waffen, Sensorik und Mittel zur elektronischen Kampfführung tragen und im Verbund mit dem bemannten Flugzeug zum Einsatz bringen können.

In seiner Zusammenfassung über die Frontexfiles[7] weist Matthias Monroy noch auf ein weniger bekanntes Unternehmen hin, welches offenbar den Rüstungsriesen Airbus bei der Vergabe eines Auftrags zur Grenzüberwachung mit sog. „Aerostats“ – Zeppelinen oder Ballons – ausstechen konnte. Der Auftrag umfasst den Einsatz eines solchen Aerostats für vier bis sechs Monate an der griechischen Außengrenze. Das Luftfahrzeug selbst stammt vom französischen Hersteller CNIM, den Betrieb der Aufklärungstechnologie übernimmt die deutsche Firma innovative navigation GmbH, die in Kornwestheim, etwa 10km von Thales und Atos entfernt, ihren Sitz hat. Zumindest in der Vergangenheit haben innovative navigation und Thales auch schon bei Grenzschutzaufträgen kooperiert. So findet sich auf der Homepage des Unternehmens eine Pressemitteilung aus dem Jahr 2013, die von der Installation eines „lokale[n] Überwachungssystem[s] zur Sicherung der EU-Außengrenzen in Kroatien“ berichtet: „Die Firma in-innovative navigation GmbH lieferte dafür

im Auftrag des Joint Ventures der Firmen THALES und PCE (Pomorski Centar Elektroniku) die gesamte Technik der Radarüberwachung (Sensoren, Signalverarbeitung) und die Software für modernste und effiziente Verarbeitung der Sensorsignale: Signalintegration, Tracking, sowie die Darstellung der Daten in der Zentrale mit inDTS, einem leistungsfähigen Displaymodul der Firma in-innovative navigation GmbH“.[8]

Frontex-Partner und das Cyber Valley

Beim Cyber Valley handelt es sich nach eigenen Angaben um „Europas größtes Forschungskonsortium im Bereich der künstlichen Intelligenz mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie“.[9] Es wurde im Dezember 2016 vom Land Baden-Württemberg, der Max-Planck-Gesellschaft, den Universitäten Stuttgart und Tübingen sowie den Industriepartnern, darunter Daimler, Bosch und ZF Friedrichshafen auf den Weg gebracht – später stieg auch das US-Plattformunternehmen Amazon ein. Im Kern besteht das Cyber Valley bislang aus einem Technologiepark in Tübingen und einem „Ökosystem“ – einem Netzwerk von Programmen und Institutionen, die Unternehmensgründungen anregen und fördern sollen, indem sie Know-How, Räumlichkeiten, Kontakte zu Industrie und Risikokapital usw. bereitstellen. Ziel ist die schnelle Kommerzialisierung neuer Forschungsergebnisse und damit auch die Generierung privater Gewinne aus öffentlich finanzierter Forschung. Inhaltlicher Schwerpunkt ist das Maschinelle Lernen und insbesondere das Maschinelle Sehen. Angesichts der starken Beteiligung der Automobilindustrie sind Anwendungen v.a. im Bereich des autonomen Fahrens naheliegend. Die damit verbundenen Fragestellungen der Fusion und Interpretation von Sensordaten liegen nahe an jener Forschung, die andernorts im Auftrag des Militärs, der Rüstungsindustrie, Grenzschutz- und anderer Überwachungsbehörden durchgeführt wird. Die Grundlagenforschung einiger am Cyber Valley beteiligter Wissenschaftler*innen zur Bilderkennung durch Künstliche Neuronale Netze wurde in den vergangenen Jahren u.a. durch ein Projekt (MICrONs) der gemeinsamen Forschungsbehörde der US-Geheimdienste (IARPA) finanziert.[10] Eingebunden in das Projekt war auch das Unternehmen Amazon, das aktuell im Tübinger Technologiepark ein Forschungszentrum für Maschinelles Lernen erbaut und in den USA für verschiedene Militär- und Geheimdienstbehörden Cloud-Anwendungen zur Verfügung stellt.

Auch wenn Technologien explizit für Militär und Grenzschutz aktuell keinen Schwerpunkt im Cyber Valley bilden, ist es doch auf verschiedene Arten an die auf Grundlage der Frontexfiles skizzierten Technologiecluster angebunden. So wurde z.B. eine frühere Ausgründung der aus der Universität Tübingen, das Tübinger Startup „Science&Computing“ zunächst von Bull und kurz vor der Gründung des Cyber Valleys von Atos übernommen. 2018 eröffnete die European Space Agency (ESA) gemeinsam mit Bosch und der Rüstungssparte von Airbus im Technologiepark Tübingen-Reutlingen (TTR) sowie am Partnerstandort in Immenstaad einen Business Incubation Centre (BIC): „60 Startups erhalten bis Ende 2021 an den drei Standorten die Möglichkeit zur Inkubation und durchlaufen die Förderphase von bis zu 2 Jahren. Für die technische Unterstützung stehen die Unternehmen Airbus Defence and KaSpace in Friedrichshafen und Bosch Automotive Electronics in Reutlingen zur Verfügung“, so berichtete damals die ESA.[11] Die ebenfalls beteiligte IHK ergänzt: „Als Anschubförderung erhalten die Gründungen 50.000 Euro sowie umfassende Service-Angebote durch Firmenbetreuer vor Ort und das Partner-Netzwerk. Dazu gehören zehn Beratungs- oder Labortage bei Bosch oder Airbus. Im Anschluss an die Phase im ESA-BIC sollen die Unternehmen im örtlichen Technologiepark angesiedelt werden“.[12] Aktuell laufen im Cyber Valley Verhandlungen über die konkrete Zusammenarbeit mit dem japanischen Elektronikkonzern NEC, die im November 2020 durch ein Memorandum of Understanding auf den Weg gebracht wurde. Laut Pressemitteilung des Cyber Valleys handelt es sich bei NEC um ein „weltweit führende[s] Unternehmen für Technologie- und Kommunikationsinfrastrukturen und -lösungen. Zu den Stärken von NEC gehören die originäre Forschung im Bereich der KI und deren angewandter Einsatz“.[13] Dass NEC in den vergangenen Jahren mehrfach in der Liste der 100 größten Rüstungsunternehmen weltweit (ohne China) aufgetaucht ist, verschweigt die Pressemitteilung dabei. Neben den Aktivitäten von NEC in der Rüstung und im Grenzschutz versucht NEC vergleichbare Technologien unter den Schlagwörtern „öffentliche Sicherheit“ und „Smart Cities“ auch in einem rein zivilen Umfeld zu etablieren. Broschüren des Unternehmens zu diesen Schlagwörtern offenbaren Visionen eines Alltags, der durch die Allgegenwärtigkeit autonomer Systeme, biometrischer Erfassung und Zugangskontrollen geprägt ist.[14]

Damit ist NEC in einem ähnlichen Segment aktiv, wie Atos und in das auch Bosch mit seiner Sparte „Security and Safety Systems“ verstärkt einsteigen will. In einer Broschüre zum Produkt „Intelligente Video Analyse“ nennt Bosch selbst den Grenzschutz als mögliche Anwendung: „Diese Lösung auf dem aktuellen Stand der Technik ist ideal für erfolgskritische Anwendungen wie dem Perimeterschutz von Flughäfen, kritischen Infrastrukturen und Regierungsgebäuden, Grenzpatrouillen und die Verkehrsüberwachung“. Das System kann demnach selbstständig u.a. das Eindringen unautorisierter Personen, das Abstellen von Gegenständen oder das unerlaubte Parken von Kraftfahrzeugen erkennen und bewegte Objekte verfolgen. Die meisten der dargestellten Beispiele beziehen sich jedoch auf die intelligente Überwachung von Lagerhallen bzw. Fabriken und damit auch der dort Arbeitenden.[15] Auch Bosch plant aktuell den Bau eines KI-Campus auf bzw. neben dem Technologiepark in Tübingen.

Der Vollständigkeit halber sei hier noch erwähnt, dass noch ein weiterer Industrie-Partner des Cyber Valleys in den Frontexfiles auftaucht: Daimler. Es handelt sich dabei um eine eher kleine – man könnte auch sagen: exklusive – Veranstaltung am 8. Februar 2018. Frontex hatte zu einem Industry Day zum Thema „Fahrzeuge zur Unterstützung des Migrationsmanagements“ eingeladen. Neben Daimler (Mercedes-Benz Defence Project Vans) waren nur zwei weitere, kleinere Unternehmen vertreten, die auf die Umrüstung von Fahrzeugen für Spezialaufgaben wie Geldtransporte spezialisiert sind. Die Frontexfiles enthalten auch ein kurzes Dokument mit den wesentlichen Ergebnissen. Dieses enthält u.a. sichtbar die voraussichtlichen Lieferzeiten und geschwärzt die Preisspanne für die nicht näher spezifizierten Nutzfahrzeuge. Während die kleineren Unternehmen offenbar Aussagen dazu gemacht haben, welche Sicherheitsbehörden sie bereits beliefert haben – die allerdings geschwärzt wurden – hat Daimler demnach lediglich angegeben, bereits „viele Aufträge für Grenzschutz und -überwachung“ erhalten zu haben, dass man aber keine Angaben „zu Kunden, Ländern oder Modellen“ mache.[16] Einen Hinweis gibt allerdings das EU-Forschungsprojekt „ROBORDER“, das nicht zufällig Assoziationen einer von Robotern überwachten Grenze weckt: Tatsächlich wird der Einsatz unbemannter Luft-, Land- und (Unter-)Wasserfahrzeugen für den Grenzschutz erprobt. Matthias Monroy schreibt hierzu auf Telepolis: „Die Tests erfolgen unter anderem auf der griechischen Insel Kos in der Ägäis. Die Aufnahmen laufen dort in einem mobilen Lagezentrum zusammen. Das Fahrzeug stammt von dem deutschen Hersteller Elettronica aus Meckenheim in Nordrhein-Westfalen und basiert auf einem Mercedes Sprinter. Unter der Produktlinie ‚Öffentliche Sicherheit‘ wird es als ‚Multirole operations support vehicle‘ (MUROS) verkauft“. Solche Fahrzeuge kommen demnach auch in Deutschland bereits bei Demonstrationen zum Einsatz: „Als ‚Beweissicherungs- und Dokumentationskraftwagen‘ (BeDoKw) mit ausfahrbaren, vier Meter langen Masten mit Videokameras und Mikrofonen fahren die MUROS unter anderem auf Demonstrationen und übermitteln die Bilder in hoher Auflösung an die zuständige Einsatzleitung oder an mobile Greiftrupps […] Eines der Mikrofone verfügt über Richtcharakteristik, auf diese Weise werden beispielsweise Redebeiträge in das polizeiliche Hauptquartier übertragen“.[17]

Innovationspark Baden-Württemberg

Das Land Baden-Württemberg hat bereits einen dreistelligen Millionenbetrag in das Cyber Valley investiert. Hinzu kommen Gelder des Bundes, u.a. für das ebenfalls auf dem Technologiepark ansässige „Tübinger AI Center“. Im Dezember 2020 wurde bei einer Videokonferenz mit Kanzlerin Merkel, dem Ministerpräsidenten des Landes, der EU-Vizekommissarin für Digitalisierung und mehreren Vertretern des Cyber Valley (davon zwei nebenberuflich bei Amazon beschäftigt) ein „AI Breakthrough Hub“ ins Leben gerufen, in den ein weiterer dreistelliger Millionenbetrag von Bund, Land und privaten Investor*innen fließen soll.[18] Außerdem hatte das Land angekündigt, den Aufbau eines „KI-Innovationsparks Baden-Württemberg“ mit 50 Mio. Euro zu unterstützen – falls sich die beteiligten Kommunen mit Eigenmittel in derselben Höhe einbringen. Eine entsprechende Machbarkeitsstudie war im Dezember 2019 in Auftrag gegeben worden, ist aber noch nicht abgeschlossen. Trotzdem wurde Ende November 2020 das Wettbewerbsverfahren unter den interessierten Kommunen eröffnet. Die Frist für die Bewerbung endete bereits zwei Monate später, nämlich am 29.1.2021. Das war natürlich ein knapper Zeitrahmen, um innerhalb der Kommunen zu diskutieren, ob und wie ein solcher Innovationspark überhaupt wünschenswert wäre. Dabei hat es die eilig doch noch veröffentlichte vorläufige Fassung der Machbarkeitsstudie durchaus in sich: Darin werden u.a. „Testgelände mit regulatorischen Freiräumen zur Erprobung neuer KI-Technologien (‚Large Scale‘) und Reallaboren (insb. Biolabor, Robotiklabor, Fahrlabor, Fluglabor) für die Datengewinnung bzw. Validierung sowie die Etablierung eines KI-Lifestyles“ angestrebt. An anderer Stelle ist von „Testfelder[n] mit integrierter Sensorik, Flugfelder[n] für Drohnen, Start- und Landeplätze für autonome Flugtaxis“ die Rede.[19]

Dass das Cyber Valley in diesem „Wettbewerbsverfahren“ eine gute Startposition einnimmt, war von Anfang an klar. Letztlich entschieden sich die Verwaltungen in Tübingen, Reutlingen, Stuttgart und Karlsruhe für eine gemeinsame Bewerbung, wobei Reutlingen die größte Fläche auf dem Gelände einer ehemaligen Spedition bereitstellt. Tübingen will sich mit den verbliebenen kleinen Flächen im Technologiepark beteiligen und die restlichen Eigenanteile finanziell erbringen. Auch Stuttgart und Karlsruhe werden im Zuge des Bewerbungsverfahrens weitere Flächen für die KI-Forschung reservieren. Letztlich wird es also nicht den einen KI-Innovationspark geben, sondern mehrere kleine, die an bestehende Cluster andocken. Das von den drei Regionen gemeinsam vorgelegte Eckpunkte-Papier zur Bewerbung sieht demnach vor, „dass ein branchenübergreifender, integrierter Experimentier- und Datenraum für KI-Innovationen der neuen Generation entsteht. In vernetzten Testfeldern und Labs werden Entwicklung und Erprobung innovativer KI-Lösungen in realen Umgebungen möglich gemacht“.[20]

Durch die großräumige Verteilung des „Innovationsparks“ wird letztlich ein weiterer Cluster öffentlicher Förderung und wissenschaftlich-unternehmerischer Vernetzung entstehen, der an bestehende Cluster und damit auch die in den Frontexfiles zum Vorschein gekommene militärisch-grenzpolizeiliche Industrie anknüpfen kann. Besonders spannend wird dabei die Rolle des Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB), das beispielsweise Teil des wiederum aus Bundesmitteln geförderten „Digital Hub Karlsruhe für angewandte Künstliche Intelligenz“ ist. Das Fraunhofer IOSB führt zahlreiche Forschungsprojekte für das Verteidigungsministerium durch, darunter die verbesserte Bildauswertung von Bundeswehrdrohnen und Darstellungen multisensorieller Aufklärungssysteme an einem „digitalen Lagetisch“. Es war an mehreren Forschungsprojekten des Bundes und der EU beteiligt, die darauf abzielten, illegale Migration mithilfe von Satelliten, Drohnen und Sensorbojen zu detektieren und hat sich u.a. darum bemüht, von der Bundeswehr u.a. in Afghanistan eingesetzte Drohnenmodelle für den Schweizer Grenzschutz umzurüsten.[21] Zuletzt führt das Fraunhofer IOSB auch das Pilotprojekt zur „intelligenten Videoüberwachung“ am Mannheimer Hauptbahnhof durch. Auch hierbei handelt es sich gewissermaßen um einen „regulatorischen Freiraum zur Erprobung neuer KI-Technologien“ bzw. „Reallabor für die Datengewinnung bzw. Validierung“.

Anmerkungen

[1] https://frontexfiles.eu/.

[2] Matthias Monroy: Frontex Files – Der militärisch-grenzpolizeiliche Komplex, netzpolitik.org (05.02.2021).

[3] https://corporateeurope.org/en/lobbying-fortress-europe

[4] Christoph Marischka: EU-Kommission – (Diese) Industriepolitik ist Rüstungspolitik, Telepolis (12.11.2019).

[5] Thomas Wiegold: Studie fürs „gläserne Gefechtsfeld“, augengeradeaus.net (16.04.2019).

[6] „Airbus and Thales join forces to develop the Air Combat Cloud for Future Combat Air System“, Pressemitteilung der Thales Group (20.02.2020).

[7] Matthias Monroy: Frontex Files – Der militärisch-grenzpolizeiliche Komplex, netzpolitik.org (05.02.2021).

[8] „in-innovative navigation GmbH installiert ein lokales Überwachungssystem zur Sicherung der EU-Außengrenzen in Kroatien“, Pressemitteilung der in Gmbh (29.10.2013).

[9] https://cyber-valley.de/.

[10] Christoph Marischka: Cyber Valley, MPG und US-Geheimdienste, IMI-Studie 3/2020.

[11] https://www.esa-bic-bw.de/de/.

[12] „Reutlingen ist Start-up-Standort der ESA“, IHK Reutlingen (13.04.2018).

[13] „NEC Laboratories Europe und Cyber Valley Forschungseinrichtungen unterzeichnen MoU“, Pressemitteilung des Cyber Valley (19.11.2020).

[14] NEC: Behaviour Detection Solution, Safer Cities.

[15] Bosch: Creating a more secure world and new value for businesses with Video analytics.

[16] Forontexfiles.eu: Main outcomes – Industry day VMM_redacted.pdf.

[17] Matthias Monroy: Für jede Repression zu haben – Das MUROS aus Meckenheim, Telepolis (28.08.2019).

[18] Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Startschuss für das „AI Breakthrough Hub“ am 17. Dezember 2020 (Videokonferenz), bundeskanzlerin.de.

[19] CBRE GmbH: Machbarkeitsstudie zum Innovationspark KI (Vorgezogener Ergebnisbericht für das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg, wirtschaft-digital-bw.de.

[20] „Zusammen für den Erfolg der Künstlichen Intelligenz im Land“, Pressemitteilung auf stuttgart.de (29.01.2021).

[21] Christoph Marischka: Fraunhofer IOSB – Dual Use als Strategie, IMI-Studie 2017/02.

Veröffentlicht am 10. Februar 2021 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)