Der Neue Dicke

Sigmar Gabriel

Immerhin. Mit Hannelore Kraft durfte mal wieder eine Sozialdemokratin Ministerpräsidentin werden. Und dann noch in Nordrhein-Westfalen. Lange Jahre musste man in der SPD auf die Erlaubnis warten, auch mal die eigene Partei gewinnen zu lassen und nicht immer nur die CDU. Gerann die Berliner SPD-Zentrale „Willy Brandt Haus“ seit 11 Jahren unter unsäglichen Kaugummis auf dem Heiligen Stuhl des Parteipapstes regelmäßig zum Führerbunker, so sind mit dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel jetzt wieder neue Töne aus Berlin Kreuzberg zu hören. Es tut sich was in der Republik.

Gestern, das verzweifelte Hinterhergeschreibe der marktradikalen Hofpresse als langsam dahin schwindende Begleitmusik, saß Hannelore Kraft im Düsseldorfer Landtag und war irgendwie ganz Mutti. Landesmutti. Hatte sie zuvor lange über eine Abtreibung nachgedacht, war ihr von einer entschlossenen Koalitionspartnerin Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen) jeder Weg zwischen Pressekonferenz, Partei- und Parlamentssitzungen frei geboxt worden, seit sich Kraft, nach langem Weh und Ach, letztlich doch gnädigerweise bereit zeigte sich – ausnahmsweise – zur Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes der Republik wählen zu lassen.

Am 17.Juni waren Löhrmann und Kraft nach Beratungen der NRW-Landesparteien von SPD und Bündnis 90/Die Grünen schließlich vor die Presse getreten (1). Prompt landeten sie einen Coup.

Denn nur zwei Tage später geschah das, was immer geschieht, wenn das jahrzehntelange Gewohnheitsrecht der CDU (das rigide Rumzerren an seinem ex-sozialdemokratischen Wuffi) ausnahmsweise einmal außer Kraft gesetzt wird: die CDU brach einfach weg. Ein einziger Schritt nach vorne reichte vollkommen aus. Jürgen Rüttgers kündigte am 19.Juni an, beim Antreten von Kraft zur Wahl der Ministerpräsidentin nicht einmal mehr zu kandidieren (2). Warum auch. Wie alle anderen Hosen-, Amts- und Gewaltenträger in Düsseldorf und Berlin hatte er zum ersten Mal in seinem Leben die Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen gelesen. Hui,was das alles drin stand.

Eigentlich hätte dies Hannelore Kraft bereits vorher bekannt sein müssen. Doch bis zu diesem überraschenden Schritt nach vorne hatte die Queen Louis der NRW SPD klar gemacht, dass das alles überhaupt nicht in Frage komme und dass sie auf gar keinen Fall Jürgen Rüttgers als Ministerpräsidentin einer Minderheitsregierung mit wechselnden Parlaments-Mehrheiten ablösen wolle.

NICHT OHNE MEINE CDU

Kraft hatte sich in einer schier unvergesslichen Pressekonferenz am 11.Juni vor die Presse gestellt und das Scheitern der Verhandlungen mit CDU und FDP in einer Weise bekannt gegeben, die dem wohlweilen Rundfunk der bürgerlichen Parteien genügend Stoff über enttäuschte Liebe und Herzschmerz für jede Menge einseifende Medienopern bot.

Ein Politikwechsel, wie sie ihn beschrieben habe, sei einfach „derzeit mit der CDU nicht möglich”. Zwar bliebe noch die Hoffnung auf die Partei „Fette Drei Prozent“: “aber die FDP braucht noch Zeit”. Die Lage sei einfach verzweifelt. (Ein innerer Republikparteitag, 15.Juni)

Noch am gleichen Tag gab der SPD Landesvorstand den Katzenjammer nach unten weiter: alles, alles, nur bloss nicht an die Regierung. Dann tagten vier Regionalversammlungen der NRW SPD (wo man sich einer Meinung mit den Vorgesetzten zeigte) und schliesslich verkündete der Landesparteirat am 14.Juni:

“Der Landesparteirat vertritt darüber hinaus die Auffassung, dass der von der NRW SPD angestrebte Politikwechsel nun zunächst aus dem Parlament heraus erfolgen muss. Eine SPD-geführte Minderheitsregierung wird derzeit nicht angestrebt. Der Landesparteirat folgt auch hier der Empfehlung des Landesvorstandes.”

Wie gesagt: das war am 14.Juni. Drei Tage später stand Hannelore Kraft vor der Presse und verkündete genau das Gegenteil. Nichts sagt mehr aus als das über die Monarchie SPD.

Die SPD Landespartei lief Hannelore Kraft hinterher. Doch die lief vor den Ereignissen weg und überholte diese so gezwungenermaßen.

Am 13.Juni, vier Tage vor der großen Überraschung, hatten bereits die Grünen ihrer Landespartei die Sachlage erklärt. Sylvia Löhrmann, Daniela Schneckenburger und Arndt Klocke in einem Brief an die NRW-Grünen:

„Die NRW-Landesverfassung sieht ausdrücklich die Bildung einer Minderheitsregierung vor. Hannelore Kraft kann ohne die Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin gewählt werden und eine Regierung bilden. Diese Möglichkeit werden wir zeitnah sehr gründlich prüfen und konkretisieren. Und außerdem werden wir mit der SPD im Gespräch bleiben.“

Der Brief war eine deutliche Willensbekundung der Landesgrünen in NRW endlich die abgewählte Landesregierung von CDU und FDP abzuwählen. Doch in der SPD kam der Befehl wie immer von ganz oben. Wohlgemerkt – von ganz oben, nicht etwa von den geübten Großkoalitionären um SPD-Bundestagsfraktionsführer Frank-Walter Steinmeier. Die wurden einfach umgerissen.

Dazu ist es wichtig anzumerken, dass bereits Mitte April CDU-Kreise in Berlin von einer Entmachtung Steinmeiers durch den Parteivorsitzenden Gabriel gesprochen hatten. (Kurswechsel der SPD: Gabriel verlangt “unabhängige Überprüfung” von nächstem Afghanistan-Mandat, 22.April)

AB DURCH DIE NEUE MITTE

Zeitgleich mit der Erklärung der drei führenden Landesgrünen Löhrmann, Schneckenburger und Klocke standen am 13.Juni in Berlin auch die Bundesfürsten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Sigmar Gabriel, Claudia Roth und Cem Özdemir, vor der Presse und forderten ihre Landesparteien tatsächlich dazu auf, einen Landes-Louis (Ministerpräsidentin) samt Minister aus den eigene Reihen und nicht aus denen der CDU/FDP zu wählen.

Da in Nordrhein-Westfalen alles sowieso erst Tage später ankommt, war der Generalsekretär der SPD in NRW, Michael Groschek, noch am 15.Juni so leichtsinnig, seine ehrliche Landespartei-Meinung kund zu tun, die er noch zu diesem Zeitpunkt klar vorgegeben wähnte (3):

„Wir brauchen jetzt nicht das Streben nach einer Minderheitsregierung, die ja auch nicht für stabile Verhältnisse steht“

Einen Tag später dann versuchten dann Kraft und der parlamentarische Geschäftsführer der Steinmeier-CDU in der SPD-Bundestagsfraktion, Großkoalitionär Thomas Oppermann, wenigstens irgendwie Zeit zu schinden. Die Lage im Bundesrat könne „nach der Sommerpause sehr gute Argumente für eine rot-grüne Minderheitsregierung liefern“, so Oppermann. Kraft saß im Fernsehen und erzählte wortgewandt, warum es eventuell sinnvoll wäre die Bundesregierung der Kanzlerin Angela Merkel, mit der man sich vier Jahre doch so gut verstanden hätte, ihrer Mehrheit im Bundesrat zu berauben. Aber doch nicht jetzt. (6)

„Nehmen wir zum Beispiel die Verlängerung der Atomlaufzeiten. Das wäre so ein Punkt. Oder die Einführung der Kopfpauschale, das Sparpaket, bei dem wir allerdings noch nicht wissen, was in den Bundesrat kommt.“

Eventuell, so könne sie sich vorstellen, würde der Herr Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) die vorgetragenen Bitten der SPD nicht ganz umsetzen. In diesem Falle, hmm, ja…

„Auch dann muss man sich das noch mal überlegen“

Am nächsten Tag saß sie dann, etwas ausser Atem vom Wegrennen, mit ihrer zukünftigen Vize-Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann vor der Presse und verkündete ihren Wahlantritt.

Zwölf Jahre nach dem Blödel-Slogan „Die Neue Mitte“, mit dem 1998 der spätere Kanzler Gerhard Schröder unter seinem Kanzleigehirn Frank-Walter Steinmeier schon damals auf eine Koalition mit der CDU gezielt hatten (7), lag zum ersten Mal wieder der ziemlich staubige Hut einer sehr alten Tante (8) im Ring, die vorher 12 Jahre lang  als Leiche an einer sehr kurzen Leine holpernd über das Pflaster gezogen worden war.

AUF DER EIGENEN SEITE

Sechzehn Jahre lang, von 1982 bis 1998, hatte Helmut Kohl als ausführender Zwangsmaurer Deutschland in eine schöne neue Welt eingebaut, deren fatale Umrisse erst jetzt sichtbar werden. Am Ende von Kohls Regentschaft nannten ihn nicht seine Untertanen, sondern seine Gegner fast ein wenig resignierend den „Dicken“.

Das Ende von Kohls Kanzlerschaft, dem Abgang von CDU, CSU und FDP, sowie der Regierungsantritt von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, markierte im Jahre 1998 den ersten vollständigen, legalen und verfassungsgemäßen Machtwechsel in der gesamten deutschen Geschichte  überhaupt.

Es scheint nun, als ob zum ersten Mal seit Oskar Lafontaine 1995 in einem „Putsch“ gegen Rudolf Scharping die SPD übernahm, die Partei ab 1997 im Bundesrat zum Nein gegenüber Kohl im Vermittlungsausschuss zwang und so den faktischen Monarchen Helmut Kohl schliesslich stürzte, wieder jemand fähig genug dazu ist, genug Wille zur Macht für die eigene Seite aufzubringen.

Für die eigene Seite.

Quellen:
(1) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,701320,00.html
(2) http://www.bild.de/BILD/politik/2010/06/19/nrw-cdu-juergen-ruettgers-wahl-ministerpraesident/tritt-nicht-an.html
(3) http://www.gruene-nrw.de/details/nachricht/ampel-sondierungsgespraeche-gescheitert-wie-geht-es-weiter.html
(4) http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/spd-und-cdu-spd-lehnt-koalitionsgespraeche-mit-cdu-ab_aid_519563.html
(5) http://www.stern.de/politik/deutschland/koalitionsbildung-in-nrw-spd-haelt-rot-gruene-minderheitsregierung-fuer-moeglich-1574457.html
(6) http://www.stern.de/politik/deutschland/koalitionsbildung-in-nrw-spd-haelt-rot-gruene-minderheitsregierung-fuer-moeglich-1574457.html
(7) http://www.focus.de/politik/deutschland/wahl-1998-schroeders-masche-fuer-die-mitte_aid_172281.html
(8) http://www.cicero.de/97.php?ress_id=4&item=4229

letzte Ergänzung: 09.20 Uhr, Rechtschreibkorrektur 15.07.2012