Interview mit Dr. Burkhard Hirsch zum Bundeswehreinsatz im Inneren

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Inwieweit können Bundeswehreinsätze im Inland die Strukturprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaat sowie Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte gefährden?

Dr. Burkhard Hirsch: Das Grundgesetz läßt den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nur dann zu, wenn es in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen ist. Er ist möglich im Verteidigungs und Spannungsfall, bei schweren Unglücks- oder Katastrophenfällen, die die Polizei alleine nicht mehr bewältigen kann – und im äußersten Extremfall eines militärisch organisierten „Aufstandes“.

Würde die Bundeswehr als politisches Machtinstrument im Inland eingesetzt werden, etwa als mit militärischen Mitteln ausgerüstete Hilfspolizei bei innenpolitischen Vorgängen, dann wird sie mißbraucht. Das gefährdet unsere Verfassung, den Bürger und seine Rechte, und im Ergebnis auch die Bundeswehr selbst. Bei dem G 8 – Gipfel in Heiligendamm wurden über 1000 Soldaten, 83 Feldjäger, Panzerspähwagen, eine Fregatte, Minenjagdboote, AWACS- Flugzeuge, 14 Tornados und Eurofighter eingesetzt, die auch in Tiefflügen über Demonstranten hinwegdonnerten. Ihre Bordkanonen waren nicht geladen. Das war auch für den Eindruck, den sie machten, nicht nötig. Ich halte diese Einsätze für rechts- und verfassungswidrig.

Dr. Burkhard Hirsch (* 29. Mai 1930 in Magdeburg) ist ein deutscher Politiker (FDP), Jurist und Bürgerrechtler. Er war von 1975 bis 1980 Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1994 bis 1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Wer will eigentlich die Bundeswehr im Inneren einsetzen, mit welcher Begründung, und aus welcher Interessenlage?

Dr. Burkhard Hirsch: Es ist verschiedentlich versucht worden, durch Verfassungsänderungen oder durch einfache Gesetze die Möglichkeit zu bekommen, die Bundeswehr mit Waffengewalt im Inland einsetzen zu können, zuletzt bei der Beratung und Verabschiedung des sog. Luftsicherheitsgesetzes. Das sollte dem Verteidigungsminister das Recht geben, auch ein Flugzeug mit allen Passagieren abschießen zu lassen, wenn es dem Anschein nach entführt worden war und vermutet wird, daß es gezielt zum Absturz gebracht werden soll. Dabei sollte es natürlich keinen Unterschied machen, ob die Entführer politische oder andere Motive haben. Das kann man ohnehin von außen nicht erkennen. Das Bundesverfassungsgericht hat das zu recht für nichtig und mit Art. 1 GG für unvereinbar erklärt. Der Staat hat kein Recht, unschuldige Bürger, die selbst Opfer eines Verbrechens sind, vorsätzlich zu töten, wenn ein Minister meint, das sei besser so.

Ich sehe mit großer Sorge, daß ständig und in jedem Wahlkampf immer wieder versucht wird, mit dem Begriff der „asymmetrischen Bedrohung“ die Grenzen zwischen Polizeirecht und Kriegsrecht zu verwischen. Der Einsatz von militärischen – also Kriegswaffen – im Inland hätte katastrophale Folgen für die Bevölkerung und unsere Rechtsordnung. Wir führen im Inland keinen Krieg, bei dem man auch den Tötung Unbeteiligter als verhältnismäßige „Kollateralschaden“ hinnehmen müßte, wenn der Inhaber der Befehlsgewalt das als leider notwendig betrachtet. Terroristen sind keine Soldaten, sondern Verbrecher.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: In der Weimarer Republik gab es mehrere blutige Militäreinsätze im Inneren. Welche Lehren hat das Grundgesetz daraus gezogen?

Dr. Burkhard Hirsch: Das war nicht nur in der Weimarer Republik so, sondern auch mehrfach im Kaiserreich von 1871, wo einzelne Länder die Armee anfordern konnten und sie tatsächlich mit Schußwaffen gegen streikende Arbeiter eingesetzt hatten. Deswegen hat das GG ausdrücklich bestimmt, daß die Bundeswehr nur zur Landesverteidigung und nur dann eingesetzt werden darf, wenn die Verfassung das ausdrücklich bestimmt

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Wofür darf die Bundeswehr nach Ihrer Rechtsauffassung im Inneren eingesetzt werden im Rahmen von Art. 35 GG sowie von Art. 87a Abs. 3 GG und von Art. 87a Abs. 4 GG ?

Dr. Burkhard Hirsch: Nach Art. 35 GG kann die Bundeswehr in Rahmen der Katastrophenhilfe nur mit ihren logistischen Mitteln und sonst nach Maßgabe des Polizeirechts des jeweiligen Landes eingesetzt werden. Der Art. 87 a Abs. 3 GG setzt den ausdrücklich erklärten Verteidigungs- oder Spannungsfall voraus und begrenzt die Bundeswehr dabei im Inland auf Objektschutz und Verkehrsregelung. Der Extremfall des Art. 87 a Abs. 4 setzt den inneren Notstand voraus und begrenzt sich nach herrschender Meinung auf Fälle des Bürgerkriegs oder eines Militärputsches.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Art. 87a Abs. 4 GG erlaubt seinem Wortlaut nach den Einsatz der Bundeswehr zur Bekämpfung „organisierter und militärischer bewaffneter Aufständischer“. Gibt es eine Definition des „Aufständischen“? Darf die Bundeswehr in dem Fall militärische Waffen einsetzen?

Dr. Burkhard Hirsch: Nein, es gibt keine gesetzliche Definition. Aber selbst das Auftreten einer terroristischen Gruppe erfüllt diese Voraussetzung nicht. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum LuftSiG ausdrücklich erklärt, daß selbst der gezielte Absturz eines Verkehrsflugzeugs die Voraussetzung eines für den Staat existentiellen Notfalls nicht erfüllt. Er tötet Menschen und ist schwerste Kriminalität. Aber er zerstört nicht den Staat und seine Rechtsordnung und macht den Staat nicht handlungsunfähig. Die Abgrenzung des Art. 87 a Abs. 4 GG ist also sehr hoch. Aber wenn ein solcher Fall eintritt, dann muß man der Bundeswehr die Möglichkeit geben, die Gegner zu überwinden. Sie müssen dann also auch mindestens dieselben Waffen einsetzen können.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Sind Terroristen wie Aufständische bzw. wie militärisch bewaffnet zu behandeln oder wie Kriminelle?

Dr. Burkhard Hirsch: Terroristen sind keine Soldaten, die als Kombattanten an einer bewaffneten Auseinandersetzung, also an einem Krieg beteiligt sind. Sie sind Verbrecher. Sie gehören nicht in ein Kriegsgefangenenlager, sondernvor ein Gericht und hinter Schloß und Riegel. Sie unterliegen dem Strafrecht und nicht den Genfer Konventionen.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Die FDP-Bundestagsfraktion hat am 12.03.2008 in einer Anfrage (Drucksache 16/8569) zahlreiche kritische Fragen zur sogenannten „Solidaritätsklausel“ (Art. 222 AEUV) gestellt, welche gemeinsame Militäreinsätze der EU-Mitgliedsstaaten im Inneren bei Terroranschlägen und bei „vom Menschen verursachten Katastrophen“ ermöglichen will. Wie sehen Sie die Solidaritätsklausel, auch im Hinblick auf Art. 87a Abs. 2 GG ?

Dr. Burkhard Hirsch: Zu meiner Überraschung hat der Art. 222 AEUV bei der Beratung des Lissabonner Vertrages im Bundestag keine Rolle gespielt. Ich gehe davon aus, daß die Art. 35 und 87 a und 91 GG im Inland unverändert gelten.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Darf Deutschland Bundeswehraufgaben im Inneren auch im Rahmen internationaler sicherheitspolitischer Bündnisse (Art. 24 Abs. 2 GG) wie der NATO oder (dem militärischen Teil der) EU bewältigen, oder muss dies allein auf nationaler Ebene erfolgen, um eine Vermischung zwischen innerer und äußerer Sicherheit zu vermeiden?

Dr. Burkhard Hirsch: Das ist eine sehr komplizierte Frage, die man nicht pauschal beantworten kann. Grundsätzlich gilt auch im Rahmen der NATO, daß jeder Staat auch im Bünd­nisfall an die Regeln seiner Verfassung gebunden bleibt. Er bleibt auch im sog. Bundnisfall grundsätzlich frei zu entscheiden, wie und mit welchen Mitteln er seine Hilfspflicht erfüllt. So gilt in der Bundesrepublik z.B. bei Auslandseinsätzen der Parlamentsvorbehalt, der im NATO – Vertrag nicht vorgesehen ist.

Auf der anderen Seite hat die Bundesrepublik z.B. ihre Luftwaffe auch in Friedenszeiten dem NATO-Oberkommando unterstellt. Fliegt also ein unangemeldetes Flugzeug in den NATO Luftraum ein, dann ist zunächst der NATO-Commander zuständig, der aber die Befehlsgewalt auf deutsche Stellen übertragen muß, wenn es sich nicht um ein Militärflugzeug handelt.

Von solchen Sonderfällen abgesehen, bleibt die Bundesregierung für innerstaatliche Einsätze der Bundeswehr an die Grenzen unserer Verfassung gebunden. Würde der Verteidigungsminister oder ein Vorgesetzter einen darüber hinausgehenden Befehl geben, dann wäre der rechtswidrig und unwirksam. Ein Soldat, der das erkennen muß und ihn trotzdem befolgt, handelt rechtswidrig und auf eigenes Risiko.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Wie bewerten Sie die zivil-militärische Zusammenarbeit (ZMZ oder CIMIC) im Rahmen der NATO, auch im Hinblick auf Art. 87a Abs. 2 GG ? Darf auch die Aufstandsbekämpfung Teil der ZMZ sein? Wie bewerten Sie die Ansprechpartner der Bundeswehr bei den Kommunen im Rahmen der ZMZ ?

Dr. Burkhard Hirsch: Zur Beantwortung dieser Fragen fehlt mir der notwendige Hintergrund. Da die Bundeswehr bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen unter Umständen im Rahmen des Art,. 35 GG helfen soll, dann muß eine solche Zusammenarbeit vorbereitet, organisiert und geprobt werden. Sonst kann sie im Ernstfall nicht funktionieren. Aber ich bedauere und halte es für denkbar unbefriedigend, daß über die Organisation dieser „Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“ jedenfalls öffentlich so gut wie nichts bekannt ist. Die Bundeswehr ist keine Geheimarmee und sollte ihre Tätigkeit so offen ausüben, daß jeder weiß und erkennen kann, was sie tut und was nicht.

Sarah Luzia Hassel-Reusing: Ich danke für das Interview.

17.August 2010

http://unser-politikblog.blogspot.com/2010/08/unser-politikblog-im-interview-mit.html

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