Die Bedeutung des Urteils zum Lissabon-Vertrag durch das Bundesverfassungsgericht wird der neuen Berliner Republik erst langsam bewusst werden.
Gestern urteilte der Bundesverfassungsgerichtshof, es sei “allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt”. Ebenso sei “keinem Verfassungsorgan..die Kompetenz eingeräumt, die nach Art. 79 Abs. 3 GG grundlegenden Verfassungsprinzipien zu verändern. Darüber wacht das Bundesverfassungsgericht.” Artikel 79 Absatz 3 definiere als “absolute Grenze” die Anpassung des Grundgesetzes an die EU, dessen “geschützter Mindeststandard” nicht unterschritten werden darf.
Damit ist nicht nur ein EU-Staat oder eine EU-Verfassung vom Tisch, sondern die Bürokraten und Regierungen in Brüssel haben sich bei ihren Entscheidungen künftig an das Grundgesetz zu halten, was Karlsruhe als “geltende Verfassung” der Deutschen bestimmte. (1)
“Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten…Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.”
Es gibt ja viele Sprüche in der Politik. Dies hier aber ist ein Richterspruch, der dem Staat im Namen der Verfassung befiehlt. Und nach diesem obersten Richterspruch ist die Berliner Republik souverän und hat eine geltende Verfassung.
Und wer wollte da jetzt mit seinem Spruch widersprechen?
Das Gefährliche am Lissabon-Vertrag war nicht nur seine derzeitige Form. Das Gefährliche war die Möglichkeit der eigendynamischen Fortentwicklung aus sich selbst heraus, eben als Ermächtigungsgesetz. Dieses Ermächtigungsgesetz aber wurde gestern eliminiert.
“Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. Es untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz vgl.BVerfGE 89, 155 <187 f., 192, 199>; vgl. auch BVerfGE 58, 1 <37>; 104, 151 <210> . Auch eine weitgehende Verselbständigung politischer Herrschaft für die Europäische Union durch die Einräumung stetig vermehrter Zuständigkeiten und eine allmähliche Überwindung noch bestehender Einstimmigkeitserfordernisse oder bislang prägender Regularien der Staatengleichheit kann aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts allein aus der Handlungsfreiheit des selbstbestimmten Volkes heraus geschehen.”
Damit sind der beliebten Methode gerade der Bundesregierung, z.B. unliebsame Überwachungs- und Kontrollgesetze als selbsternannte Legislative in Brüssel beschliessen zu lassen, welche sie als Exekutive in Berlin nicht durch den Bundestag bekäme, Grenzen gesetzt. Mehr als im Lissabon-Vertrag bereits eingeräumt werden, wird sie auch im Falle einer Implementierung des Vertrages nicht bekommen und “absolute Grenze” sind und bleiben Artikel 1 und 20 der “geltenden Verfassung” Grundgesetz.
Für die Bundesregierung und ihre umtriebigen Minister ist das, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Niemand hält sich mehr in der Berliner Chunta an die Verfassung, jeder setzte auf einen Fall des Grundgesetzes und seines Schutzes der Staatsbürger vor dem Staat. Aber anstelle einer EU-Verfassung – welche von Rat und Kommission jederzeit nach Belieben wieder geändert werden hätte können – hat man nun in Berlin und in Brüssel auf einmal das Grundgesetz als neuen “Mindeststandard” für 500 Millionen Europäer in den EU-Mitgliedsstaaten zu beachten.
Was man also mit aller Macht und durch allerlei Intrigen loswerden wollte, wuppte man nun den lieben, guten Freunden in allen anderen Regierungen im EU-Raum über. Die Dankes-Orgien aus Brüssel schon Sekunden nach der Urteilsverkündung zeigten diesbezüglich wieder einmal die ganze unfassbare, bräsige Ignoranz der Brüsseler Plutokraten und Regierungen in den EU-Staaten . Offensichtlich hatte es niemand für nötig gehalten, das Urteil überhaupt zu lesen.
“Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips..in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten..Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist.”
Was hier steht, ist die klare Ansage, sich ab sofort in jede einzelne Entscheidung in Brüssel einzumischen, wenn man es für den Schutz der Grundrechte für notwendig erachtet. Das bricht komplett mit der bisher selbst auferlegten Zurückhaltung aus Karlsruhe und ist eine historische geistig-moralische Wende – aber diesmal vorwärts.
Denn vor 23 Jahren hatten die Bundesverfassungsrichter das Grundgesetz den einfachen EU-Verordnungen der Regierungen in Brüssel faktisch untergeordnet. Damals hatte Karlsruhe im sogenannten “Solange II”-Urteil beschlossen, dass sämtliche Beschlüsse der EU-Organe automatisch deutsches Recht würden und kein Einspruch gegen sie möglich sei (Radio Utopie berichtete, 2).
Seit diesem Urteil begann der systematische Vernichtungskrieg der etablierten Parteien gegen die nun offiziell machtlose provisorische Verfassung Westdeutschlands nach dem Faschismus, das Grundgesetz. Dieser setzte sich in wachsendem Tempo fort, als der Machtmaschine Helmut Kohl und seinem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 1990 die DDR in den Schoss fiel.
Die Roten Roben machten damals am 22. Oktober 1986 nur eine, eine einzige Einschränkung. Im Urteil BVerfGE 73, 339,387 hiess es damals:
“Solange die Europäische Gemeinschaft, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 I GG sind somit unzulässig.”
Was jetzt gestern geschah, ist historisch: das Bundesverfassungsgericht beendete seine 1986 selbst geschaffene Bedeutungslosigkeit gegenüber der heutigen EU, indem es das Grundgesetz – nun endgültig und unwiederrufbar – als geltende Verfassung der Deutschen in der vereinigten Berliner Republik über die Beschlüsse der Regierungen in Brüssel stellte.
Den Protagonisten einer ganzen Kohl-Generation, welche ihr Leben lang auf das falsche Trojanische Pferd gesetzt hatten, schwant nun was ihnen blüht. Der “Focus” gestern (3) :
“Also haben die Kläger, allen voran der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, keine Gespenster gesehen, als sie gegen den Vertrag von Lissabon in Karlsruhe klagten. Sie haben den Deutschen ein Urteil erkämpft, das über die Maastricht-Entscheidung von 1993 weit hinausgeht..Jetzt ist deutlich: Solange das Grundgesetz gilt, werden auch die härtesten EU-Fans im Auswärtigen Amt die Karlsruher Aufpasser nicht mehr los.”
Der “Spiegel” (4) , über dessen Rolle als Megafon der seit Jahrzehnten systemisch planten Neuen Weltordnung eigentlich nichts mehr gesagt werden muss:
“Dass die Karlsruher Richter im Urteil zum Lissabon-Vertrag strenge Vorgaben gesetzt haben, stört in Brüssel niemanden. Hauptsache, das mühsam geschnürte Reformpaket muss nicht noch einmal überarbeitet werden. Kaum war der Richterspruch verkündet, produzierte die Brüsseler Windmaschine auf Hochtouren Jubeldepeschen. “Ich begrüße das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts”, meldete sich sogleich José Manuel Barroso, Präsident der EU-Kommission. Wahrscheinlich hatte er das 147-Seiten-Urteil da noch nicht gelesen, vermutlich nicht einmal die zehnseitige Pressemitteilung..Was den fragwürdigen Euro-Jubel speist, ist schwer zu ergründen. Viele EU-Freunde sind wohl nur froh, dass die deutschen Verfassungshüter den Lissabon-Vertrag nicht gekippt haben, dass der Worst Case ausblieb. So kann die Ratifizierungsprozedur des komplizierten Vertragswerkes nun weitergehen.”
Und in der seit Jahrzehnten geübten Propaganda von maximalem Zynismus, Heuchelei und historischem Zwiedenken schaute man dann selbst in den Spiegel und befand sich für die Schönste im ganzen Land:
“Alles das, was Karlsruhe verworfen, gerügt und angemerkt hat, betrifft zunächst mehr das innerdeutsche Demokratiegefüge als das europäische. Deshalb jubeln die einen, die Pro-Lissabonner. Die anderen, die Contras, etwa von der Linken, wollen wohl nur nicht zu den Verlierern gehören. Denn das kommt beim eigenen Anhang nicht gut an. So sind halt alle froh – zumindest nach dem äußerlichen Schein.”
Das Dornrösschen Grundgesetz braucht der äusserliche Schein seiner Gegner nicht zu stören. Was hier erwacht ist, wird die Welt verändern.
Es hat bereits begonnen.
…
Quelle:
1 http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html
2 http://www.radio-utopie.de/2008/04/24/der-eu-vertrag-illegal-nichtig-nicht-einmal-bekannt/
3 http://www.focus.de/politik/ausland/lissabon-vertrag-verschlafene-parlamentarier-wache-richter_aid_412711.html
4 http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,633518,00.html