Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – August 2010

Das Jahr 2010 neigt sich seinem Ende zu und allmählich verklärt sich der Blick auf das Vergangene. Damit aber das weihnachtliche Vergeben und Vergessen nicht allzu großzügig ausfällt, hat der Politologe und Philosoph Egbert Scheunemann auch in diesem Jahr mit seiner „Chronik des neoliberalen Irrsinns“ eine sowohl subjektive wie informative Jahres-Chronik erstellt, die Radio Utopie in monatlichen Kapiteln dokumentiert.  Nicht alle Meinungen und Auffassungen des Autors müssen dabei mit denen der Redaktion übereinstimmen.

Die ersten fünf Jahre der „Chronik des Neoliberalen Irrsinns“ (2003-2008)  sind bereits als Buch erschienen. Die Chronik 2010 ist hier im Original als PDF zu lesen.

Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Januar 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Februar 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – März 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – April 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Mai 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Juni 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Juli 2010

AUGUST

„Hundt will Mindestlohn für Zeitarbeit. 2011 wird der deutsche Arbeitsmarkt vollständig geöffnet. Dann können auch Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten hierzulande ihre Dienste anbieten. Arbeitgeber-Chef Hundt befürchtet, dass dies in der Zeitarbeitsbranche zu Lohndumping führen könnte und fordert dort die Einführung eines Mindestlohns.“
(www.tagesschau.de; 1. August 2010)
(Ich bin sprachlos. E.S.)

„Erneut stehen die Stromkonzerne wegen ihrer Preispolitik massiv in der Kritik. Diesmal bemängeln die Grünen, dass die Kunden allein in diesem Jahr eine Milliarde Euro zu viel für ihren Strom bezahlten. Denn die Preissenkungen von 30 bis 40 Prozent an der Leipziger Strombörse würden nicht weitergegeben.“
(www.tagesschau.de; 3. August 2010)
(Kapitalistische Konzerne wollen möglichst hohen Profit machen und nichts davon abgeben – wer hätte das gedacht! E.S.)

„Branche bommt wieder. Politiker fordern Abwrackprämie zurück.“
(www.heute.de; 3. August 2010)
(Scheunemann ausnahmsweise konform mit Politikern. E.S.)

„NRW stellt eine Million Euro Soforthilfe für Loveparade-Opfer bereit.“
(www.heute.de; 4. August 2010)
(Man muss nur einen Angehörigen haben, der möglichst spektakulär und medienwirksam ums Leben kommt, schon ist man etwas reicher, wenn nicht ein gemachter Mann. Wenn ein Angehöriger hingegen auf der Autobahn einfach final gegen einen Brückenpfeiler knallt, guckt man in die Röhre: Politikermoral in der Mediokratie, ermöglicht durch die Sensationsgier der Massen. E.S.)

„Gezielte Tötung laut Westerwelle rechtens.“
(www.tagesschau.de; 4. August 2010)
(Wessen? Seine? E.S.)

„ARD-Deutschland Trend. Rot-Grün überflügelt die Koalition.“
(www.tagesschau.de; 6. August 2010)
(Bei der Umfrage bekamen SPD, Grüne und Linke zusammen 58 Prozent – und wir werden von einem Außenministerhampelmann mitregiert, dessen Fünf-Der-Prozente-Partei gerade noch fünf der Prozente bekam. E.S.)

„Debatte in der Koalition. Was tun mit entlassenen Straftätern?“
(www.heute.de; 6. August 2010)
(Das, was Recht und Gesetz, Vernunft und Moral vorschreiben: in die Freiheit entlassen und nicht den ebenso perversen wie gesetzlosen Straf- und Erniedrigungsgelüsten rachsüchtiger, vergeltungsgieriger Law-and-Order-Fanatiker und anderer Stammtischbrüder überlassen. E.S.)

„Politiker fordern deutsche Milliardäre zum Spenden auf.“
(www.tagesschau.de; 7. August 2010)
(Das Personal bettelt um Brosamen. E.S.)

„Grabschänder stehlen Urne von Fritz Teufel.“
(www.tagesschau.de; 8. August 2010)
(Der Teufel soll sie holen und in die Urne stecken im Grab der Schänder. E.S.)

„Kehrtwende der russischen Behörden: Erstmals haben sie eingeräumt, dass die Brände auch in verstrahlten Gebieten wüten. Dies gelte beispielsweise für die Region Brjansk, die von der Tschernobyl-Katastrophe besonders betroffen war. Noch vor wenigen Tagen hatten die Behörden bestritten, dass es dort brennt.“
(www.tagesschau.de; 11. August 2010)
(Postsowjetischer Raubtierkapitalismus in Flammen. E.S.)

„Umfrage zur Wirtschaftsordnung. Neun von zehn Deutschen sind gegen Turbokapitalismus… Neunzig Prozent der Deutschen wünschen sich eine neue Wirtschaftsordnung, in der Umwelt und sozialer Ausgleich großgeschrieben werden.“
(www.tagesschau.de; 18. August 2010)
(Das sind dieselben neunzig Prozent, die zu neunzig Prozent jene Parteien gewählt haben und wieder wählen werden, die für diesen Turbokapitalismus verantwortlich sind. E.S.)

„Mittelstand will Urlaub kürzen… Dem Mittelstand ist es zu viel: Die Deutschen sollten zwei Wochen weniger Urlaub bekommen. Vier Wochen reichten völlig aus, meint der eine Verband. Der andere ist etwas gnädiger: minus eine Woche. Grund: Weniger Urlaub helfe dem Aufschwung.“
(www.heute.de/ZDFheute/inhalt/4/0,3672,8102084,00.html; 20. August 2010)
(Auch Leute mit einem Loch im Kopf erhalten im Sommerloch, wie man sieht, Urlaub aus der Verbandsanstalt. E.S.)

„AKW in Iran eröffnet. Symbol der Macht, Symbol der Bedrohung.“
(www.heute.de; 21. August 2010)
(Vor allem ist das ein Symbol abgrundtiefer Dummheit. Der Iran könnte seinen Energiebedarf langfristig problemlos mit Sonnenenergie decken. E.S.)

„Was wird aus Roland Koch?“
(www.heute.de; 21. August 2010)
(Koch? E.S.)

„Nach Skandalen um niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen führt der Textildiscounter KiK einen Mindestlohn ein. Alle Mitarbeiter erhielten ab Oktober mindestens 7,50 Euro pro Stunde, teilte die Tengelmann-Tochter mit. Die Gewerkschaft ver.di sprach von einem ersten Schritt, fordert aber einen Tarifvertrag.“
(www.tagesschau.de; 24. August 2010)
(Man kann sich also vorstellen, wie viel, nein: wie wenig bislang bezahlt wurde. E.S.)

„Sarrazin erntet Sturm der Entrüstung. Bundesbank-Vorstand Sarrazin hat eine neue Protestwelle provoziert. Die Kritik reicht von „diffamierend“, „gewalttätig“ bis „dämlich“. Auch Bundeskanzlerin Merkel reagierte in scharfer Form. Auslöser ist ein Buch Sarrazins, in dem der SPD-Politiker Einwanderer nach ihrem Beitrag zum Wohlstand bewertet.“
(www.tagesschau.de; 25. August 2010)
(Jetzt kann ich die verbalen Exkremente dieses reaktionären Arschlochs endlich als diffamierend, gewalttätig und dämlich bezeichnen, ohne dass mir juristische Folgen drohen. Oder habe ich gerade etwas übersehen? E.S.)

„Schwarz-grüne Koalition in Hamburg. Ahlhaus zum neuen Bürgermeister gewählt.“
(www.tagesschau.de; 25. August 2010)
(Nun sehen die Grünen endgültig alt aus. E.S.)

„Mehrheit der Hartz-IV-Empfänger macht sich nützlich. Rund zwei Drittel der Hartz-IV-Empfänger setzen sich für die Gesellschaft ein. Sie pflegen Ältere, betreuen Kinder oder bilden sich weiter. Immer wieder werden Hartz-IV-Bezieher verdächtigt, es sich mit dem Bezug der staatlichen Leistung in der „sozialen Hängematte“ bequem zu machen. Eine neue Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) zeichnet jetzt ein ganz anderes Bild: Viele Hartz-IV-Bezieher gehen demnach mit einem großen Zeitaufwand für die Gesellschaft nützlichen Tätigkeiten nach. Und ihre Motivation und Flexibilität bei der Jobsuche ist der Untersuchung zufolge häufig höher als bei regulär Erwerbstätigen – allerdings erleben sie auch viel mehr Frustrationen.“
(www.welt.de/wirtschaft/article9210749/Mehrheit-der-Hartz-IV-Empfaenger-macht-sich-nuetzlich.html; 25. August 2010)
(Es gibt Meldungen, die sind ihr eigener Kommentar. E.S.)

„Suche nach den Gründen für den Yen-Höhenflug. „Gegen jede wirtschaftliche Vernunft“. Seit Monaten kennt der Yen nur eine Richtung: nach oben. Die Stärke der japanischen Währung bedroht die ohnehin angeschlagene Wirtschaft des Landes. Vernünftige Gründe für die Kursentwicklung sind einfach nicht zu finden – und dennoch bleibt der Yen in der Nähe seiner Rekordstände.“
(www.tagesschau.de; 26. August 2010)
(Und wenn es unvernünftige Gründe wären? Wäre das wirklich etwas Neues in diesem irrsinnigen Wirtschaftssystem? E.S.)

„Westerwelle wirbt für Anerkennung des Kosovo.“
(www.tagesschau.de; 27. August 2010)
(Scheunemann wirbt für Aberkennung Westerwelles. E.S.)

„Unmut in Griechenland über Sparprogramm… Viele Griechen sind sauer: Die Löhne sinken, sie müssen sparen, die Wirtschaft schrumpft, die Preise steigen – alles Folgen des drastischen Sparprogramms der Regierung. Der Unmut im Land wächst. Gewerkschaften kündigen bereits einen heißen Herbst in Griechenland an.“
(www.tagesschau.de; 28. August 2010)
(Es ist inzwischen schon fast die Regel, dass die Sozis die Drecksarbeit übernehmen müssen, um die Folgen der Sauwirtschaft konservativer und neoliberaler Vorgängerregierungen zu beheben. Unter Mitterrand in Frankreich war es nicht anders, unter Blaire in Großbritannien nicht und unter Schröder in Deutschland auch nicht. Und wenn man mal die US-Demokraten als amerikanisches Pendant europäischer Sozis nimmt, spielten Clinton und spielt Obama keine andere Rolle. Ist die Drecksarbeit vollbracht, werde die Sozis als kleines Dankeschön schnurstracks abgewählt – auf dass konservative und neoliberale Regierungen ihr Werk des Ausblutens des Staates durch permanente Steuergeschenke für die Reichen weiterführen können. Und die Moral von der Geschichte? Es gibt keine. Der Kapitalismus ist amoralisch per se. Wer wissen will, wie er funktioniert, muss einem Westerwelle nur ins Gesicht sehen. E.S.)

„Das System Haider in Österreich. Wie die Buberln rafften. Seit dem Tod des Kärntner Landeshauptmanns Haider tauchen immer neue Skandale auf: Kassierte er illegal Millionen? Und wie profitierten seine Gefolgsleute? Der Fall Haider zeigt exemplarisch, wie dicht das Netz aus Vetternwirtschaft und Parteienfilz in Österreich gewebt ist.“
(www.tagesschau.de; 28. August 2010)
(Man lese weiter unten meinen Kommentar zur Meldung vom 31. Juli 2010. E.S.)

„SPD will Spitzensteuersatz von 49 Prozent. Die SPD will im Falle der Rückkehr auf die Regierungsbank den Spitzensteuersatz wieder anheben. Der einst gemeinsam mit dem grünen Koalitionspartner zusammengestrichene Steuersatz soll auf 49 Prozent angehoben werden. So wird es der Parteivorstand vermutlich am Montag beschließen.“
(www.tagesschau.de; 28. August 2010)
(Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von gestern. Dummerweise wird diese Forderung der derzeitigen Oppositionspartei SPD genau dann, wenn sie irgendwann wieder die Regierung stellen sollte, dummes Geschwätz von gestern sein. E.S.)

„Bundesbankvorstand legt nach. Sarrazin: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.“ Bundesbankvorstand Sarrazin sorgt erneut für Schlagzeilen: Alle Juden teilten ein bestimmtes Gen, sagte er in einem Interview. Seine Aussage rief scharfe Kritik hervor. Sarrazin erliege „Rassenwahn“, gebe „Schwachsinn“ von sich und kenne offenbar „keinerlei Grenzen des politischen Anstands mehr“.“
(www.tagesschau.de; 28. August 2010)
(Die Verbalausflüsse dieses antisemitischen Rassisten anders als fäkalsprachlich zu kommentieren, ist kaum noch möglich. Also höre ich jetzt lieber auf, wohlerzogen, wie ich bin. E.S.)

„Amerikas Neo-Konservative. Sarah Palin: Front gegen alles Linke.“
(www.heute.de; 29. August 2010)
(Was hat sie nur gegen mich? E.S.)

„Der Präsident des Handelskammertages, Driftmann, hat sich dafür ausgesprochen, die Bundeswehr im Ausland auch einzusetzen, um Wirtschaftsinteressen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege. Für eben diese These war im Mai der damalige Bundespräsident Köhler massiv kritisiert worden – und zurückgetreten.“
(www.heute.de; 29. August 2010)
(In den sogenannten Verteidigungspolitischen Richtlinien steht dieser imperialistische Dreck schon seit 2003. Dass immer mehr Charakterschweine des kapitalistischen Systems aber offen äußern, für Wirtschaftsinteressen, also zur Befriedigung ihrer Profitgier, auch Menschen direkt umbringen zu lassen – selbst macht man sich die Hände natürlich nicht schmutzig und blutig –, anstatt sie auf den internationalen Konkurrenzmärkten nur durch Hungerlöhne abzuspeisen und oft auch verrecken zu lassen – das ist ebenso neu wie ekelerregend. E.S.)

„Die Banker zeigen bislang keinerlei Unrechtsbewusstsein. Sie akzeptieren auch nicht die ansonsten von ihnen behauptete Bindung des Einkommens an gute Leistung. Zwei Mrd. US-Dollar Boni ließen sich allein die europäischen und asiatischen Lehman-Manager nach der Insolvenzerklärung auszahlen. Sie konnten sich darauf berufen, dass ihnen die Boni vertraglich garantiert waren, und zwar unabhängig vom Erfolg der Bank.
Ähnlich wie die Lehman-Manager sieht es auch der ehemalige Vorstand der Hypo Real Estate. Der Vorsitzende Georg Funke schied wie drei weitere Vorstandsmitglieder nach der Insolvenz aus. Alle klagen nun auf vollständige Auszahlung ihrer vereinbarten Ansprüche; bei Funke sind dies Gehälter bis 2013 in Höhe von 3,5 Mio. Euro und eine anschließende jährliche Pension von 560.000 Euro. Der Vorstandschef der staatlich geretteten HSH Nordbank, Dirk Nonenmacher, bestand auf Boni in Höhe von 2,9 Mio Euro. Er berief sich ebenfalls auf einen Vertrag, der ihm diesen Betrag unabhängig vom Unternehmenserfolg garantierte. Darin wurde er vom neuen Aufsichtsratsvorsitzenden Kopper unterstützt. Solche in besonderen Verträgen vereinbarte (und auch viel höhere) Boni wurden an zahlreiche Pleitebanker nach Ausbruch der Finanzkrise ausgezahlt und notfalls gerichtlich erstritten…
Auch die Regierungen unterstützen Banker bei ihren Forderungen nach erfolgsunabhängigen Boni, hohen Gehältern und Pensionen. So erhielt Axel Wieandt, der von der Deutschen Bank kommend den Vorstandsvorsitz der staatlich zu rettenden HRE übernahm, die ‚vertraglich unverfallbare’ Zusage, schon nach einem Jahr Tätigkeit Anspruch auf 240.000 Euro Pension zu haben, und zwar bereits ab dem 60. Lebensjahr. Er schied nach einem Jahr aus und nahm diesen Anspruch mit. Zudem erhielt er für das Jahr 1,5 Mio. Gehalt, obwohl Vorstandsmitgliedern in der staatlich geretteten HRE nur eine halbe Million zusteht.“

(Werner Rügemer: Bankster vor Gericht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8/2010, S. 80 f.; kursive Hervorhebung i. O.)
(Vieles davon habe ich in dieser Chronik schon dokumentiert und kommentiert. In dieser Komprimierung rezipiert – und hiermit sei auch dringend die Lektüre des gesamten Artikels von Rügemer empfohlen –, stockt aber noch immer der Atem und stellt sich noch immer quälenden Brechreiz ein. E.S.)

Die “Chronik des Neoliberalen Irrsinns – September 2010? erscheint in zwei Tagen.

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