Das Jahr 2010 neigt sich seinem Ende zu und allmählich verklärt sich der Blick auf das Vergangene. Damit aber das weihnachtliche Vergeben und Vergessen nicht allzu großzügig ausfällt, hat der Politologe und Philosoph Egbert Scheunemann auch in diesem Jahr mit seiner „Chronik des neoliberalen Irrsinns“ eine sowohl subjektive wie informative Jahres-Chronik erstellt, die Radio Utopie in monatlichen Kapiteln dokumentiert. Nicht alle Meinungen und Auffassungen des Autors müssen dabei mit denen der Redaktion übereinstimmen.
Die ersten fünf Jahre der „Chronik des Neoliberalen Irrsinns“ (2003-2008) sind bereits als Buch erschienen. Die Chronik 2010 ist hier im Original als PDF zu lesen.
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Januar 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Februar 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – März 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – April 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Mai 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Juni 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Juli 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – August 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – September 2010
Die Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Oktober 2010
NOVEMBER
„Alarm in Berlin. Sprengstoff-Paket im Kanzleramt. Im Kanzleramt ist ein verdächtiges Paket gefunden worden. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios enthielt es Sprengstoff, der von BKA-Experten unschädlich gemacht wurde. Das Paket war offenbar an Kanzlerin Merkel adressiert. Als Absender soll das griechische Wirtschaftsministerium angegeben sein.“
(www.tagesschau.de; 2. November 2010)
(Solange das deutsche Verteidigungsministerium kein Päckchen zurückschickt… E.S.)
„Handelskonzern Metro will zurück aufs Vorkrisenniveau.“
(www.tagesschau.de; 3. November 2010)
(Beim ersten Lesen las ich Vorkriegsniveau. E.S.)
„Gouverneurswahlen in den USA. Demokrat Brown wird Schwarzenegger-Nachfolger.“
(www.tagesschau.de; 3. November 2010)
(Geil! Endlich kann er, also der Schwarzenegger Arnold, den nächsten Terminator drehen! E.S.)
„Denkzettel für Demokraten bei US-Kongresswahl. Repräsentantenhaus verloren, Senat gehalten. Herbe Niederlage für US-Präsident Obama und seine Demokraten: Die Republikaner übernehmen nach der Kongresswahl laut ersten Hochrechnungen die Mehrheit im Repräsentantenhaus – und zwar deutlich. Für die Übernahme der Mehrheit auch im Senat reichte es allerdings knapp nicht.“
(www.tagesschau.de; 3. November 2010)
(Natürlich kann man sich, wie ich, darüber ärgern, dass dieser unglaubliche Mann diesen unglaublichen Enthusiasmus nicht nutzen konnte oder wollte, der die USA – und nicht nur die USA – durch seine Wahl wie ein kollektives Fieber ergriffen hatte, um seine politischen Vorstellungen und Programme weit radikaler durchzusetzen. Freilich würde er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Schicksal von John F. Kennedy erfahren haben, hätte er den Durchmarsch gewagt. So betrieb er – in taktisch-strategischer Perspektive – klassische sozialdemokratische Anpassungspolitik, um das Establishment, also die Herren des Kapitals, nicht zu aggressiven Reaktionen zu reizen. Diese sozialdemokratische Unterwerfungspolitik, um zumindest einige Brosamen für die ganz unten herauszuschlagen, hat immer wieder die gleichen Ergebnisse: die Stabilisierung der Herrschaft des Kapitals durch geringfügige Schleifung ihrer hässlichsten Seiten. In Deutschland, wo bekanntlich alles immer recht gründlich gemacht wird, hießen diese Ergebnisse Agenda 2010 und Hartz IV. Als das erledigt war, konnten die (ehemals) Roten und Grünen wieder gehen. In den USA sind es nun die Demokraten – und das, obwohl ihre Politik die letzte Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Erbe der neoliberalen Politik der Republikaner, in nahezu atemberaubender Geschwindigkeit zu überwinden half. E.S.)
„Gespräch mit Integrationsbeauftragter Böhmer (CDU; E.S.). „Deutschland ist ein Einwanderungsland.““
(www.tagesschau.de; 3. November 2010)
(Mindestens eine Christdemokratin, die denken kann und die Realität zur Kenntnis nimmt. E.S.)
„Italiens Ministerpräsident soll Sex mit Prostituierten haben.“
(www.tagesschau.de; 3. November 2010)
(Mit wem sonst? Und schlimm finde ich allein, dass Prostituierte sich für so einen Drecksack hergeben. E.S.)
„USA. Bush verteidigt Waterboarding. Memoiren: Verhörmethode war „unverzichtbar“.“
(www.heute.de; 5. November 2010)
(Unverzichtbar ist allein, dieses Charakterschwein zu verachten. E.S.)
„Am Rückkehrer-Stammtisch in Istanbul.“
(www.tagesschau.de; 3. November 2010)
(Rückkehrer? Viele von ihnen sind in Deutschland geboren oder aufgewachsen. Auswanderer sind es de facto – Auswanderer aus einem Land, in dem es ihnen nicht mehr erträglich war. E.S.)
„Der Rücktritt des Chefs der HSH Nordbank, Nonnenmacher, ist angeblich besiegelt. Der umstrittene Chef-Banker müsse seinen Posten räumen, berichtet „Spiegel online“. Nach Informationen des Magazins einigten sich die Landesregierungen in Hamburg und Schleswig-Holstein auf seine Abberufung.“
(www.tagesschau.de; 8. November 2010)
(Ich bin auf die Höhe der Abfindung und seiner Pensionsansprüche gespannt. E.S.)
„Wegen Lebensmitteldiebstahls hat die Polizei in der Nacht zu Freitag zwei junge Männer aus Radebeul festgenommen. Die 19 und 21 Jahre alten Männer hatten versucht, vom Gelände eines Supermarktes in der Leubnitzer Straße in der Dresdner Südvorstadt bereits entsorgte Lebensmittel zu stehlen. Wie die Beamten am Freitagnachmittag mitteilten, hatten Anwohner die Ordnungshüter verständigt. Diese fanden schließlich das Duo, das auf dem umzäunten Gelände die weggeworfenen Lebensmittel aus Containern entnommen hatte. Beide wurden vorläufig festgenommen.“
(Dresdner Neueste Nachrichten; 10. November 2010, zitiert nach: Konkret, Nr. 11/2010, S. 10)
(Schweinesystem. E.S.)
„Spekulanten zocken, Arme hungern. Grünes Gold: An den Warenterminbörsen erreichen die Preise von Agrarrohstoffen immer neue Höhen. Weizen, Raps und Mais sind für Entwicklungsländer kaum noch zu bezahlen. Das Problem ist Thema des G20-Gipfels – aber eine Lösung ist nicht in Sicht.“
(www.heute.de; 11. November 2010)
(Nun habe ich das Prädikat Schweinesystem schon im Kommentar zur nachfolgenden Meldung verbraten. Aber ich muss gleich los, und mir fällt auf die Schnelle gerade nichts Passenderes ein. Also: Schweinesystem! E.S.)
„Terrorverdächtiger offenbar von V-Mann angestiftet. Der unter Terrorverdacht stehende mutmaßliche Islamist aus Neunkirchen ist möglicherweise von einem V-Mann angestiftet worden. Laut dem Anwalt des 18-jährigen ist sein Mandant dazu gedrängt worden, die Erpressungsvideos zur Freilassung des „Sauerlandterroristen“ Daniel Sch. ins Internet zu stellen.“
(www.heute.de; 12. November 2010)
(Okay (siehe die Kommentare zu den beiden folgenden Meldungen), für heute gilt: Schweinesystem zum Dritten. E.S.)
„Bundesgerichtshof entscheidet für Anbieter. (Stimmt. E.S.) Umzug kein Kündigungsgrund für DSL-Vertrag. (Stimmt nicht. E.S.) DSL-Kunden können bei einem Umzug in ein Gebiet ohne Breitband-Internet einen bestehenden DSL-Vertrag nicht vorzeitig kündigen.“
(www.tagesschau.de/wirtschaft/dslvertrag100.html; 12. November 2010)
(Ableben kein Kündigungsgrund für Lebensversicherung. Hirntod kein Grund für Unterlassung eines BGH-Richterspruchs. E.S.)
„Einmal geben die Verfasser (des Referentenentwurfs zum neuen Hartz-IV-Satz; E.S.) offen zu, daß sie den „Warenkorb“ nicht etwa abschaffen, sondern nach ihrem Gusto neu füllen wollen, das heißt: leeren. Zur Berechnung der Regelsätze für Familien schreiben sie: „Im Ergebnis ist deshalb nur eine normative Festlegung für die Verteilung der Haushaltsausgaben auf Erwachsene und Kind im Haushalt möglich.“ Ihr statistischer Zauber ist eben nichts als dies: Blendwerk und Taschenrechnerspielerei. Der Wust von Zahlen soll den Schein einer objektiven Kalkulation erzeugen, doch das alles gilt nichts, wenn die „Transferleistung“ dadurch teurer käme als geplant. Wenn’s sein muß, ist auch „das kaum auf eine zufriedenstellende Art zu lösende Problem“, die „normativ festgesetzten Verbrauchsmengen mit Preisen zu bewerten“, keines mehr. So wissen von der Leyens Schnäppchenjäger ganz genau, welche Menge wie viel kostet: „Für die anzusetzenden 12 Liter Mineralwasser wurde ein Betrag von 2,99 € eingesetzt, für den Supermärkte flächendeckend eine entsprechende Menge Mineralwasser anbieten.“ Und sie wissen noch mehr, wenn auch nicht, wo sie besser das Maul halten sollten; ihr Eifer ist so groß wie ihr Geiz, ihre Scham so gering wie ihr Sprachvermögen: „Legt man die Preise der preisgünstigen Discounter für 1,5 Liter Mineralwasserflaschen zugrunde, ergibt sich … sogar nur ein Preis von 1,52 €. (Es) ist also bei preisbewußtem Einkauf durchaus Spielraum für Saft oder andere alkoholfreie Getränke.“ Bürokraten, die so etwas schreiben, sollten sich nicht beschweren, wenn ihnen demnächst eins ihrer Verwaltungsopfer mit der Bemerkung in die Espressomaschine pißt, es habe sie mal teilhaben lassen wollen am Spielraum für andere alkoholfreie Getränke.“
(Kay Sokolowsky, in: Konkret, Nr. 11/2010, S. 13)
(Wie gerne würde ich mitpinkeln. E.S.)
„Rente mit 67: Wegen der gestiegenen Lebenserwartung sollen die Deutschen länger arbeiten. Das ist politischer Wille. Die Realität sieht anders aus. Die Arbeitsagentur registriert, dass zunehmend mehr Menschen ab 60 Jahre arbeitslos gemeldet sind.“
(www.heute.de/ZDFheute/inhalt/24/0,3672,8131832,00.html; 13. November 2010)
(Um es nach längerer Zeit mal wieder in Erinnerung zu rufen: Die Produktivität steigt in diesem Lande (und nicht nur hier) schneller als der Anteil der Alten an der Gesellschaft. Wir müssten also einfach einen immer größeren Anteil von dem, was wir mehr produzieren, an die Alten abgeben, wobei logischerweise beide gewinnen. Das ist oder wäre die einfache Lösung des Problems, das genau deswegen eigentlich keines ist. Der politische Wille in diesem Lande ist also der von nichts wissenden Deppen – oder von wissenden Asozialen. Man wähle. E.S.)
„Bericht des Bundesrechnungshofs. Schwere Mängel bei Ein-Euro-Jobs? Der Bundesrechnungshof hat offenbar in einem internen Bericht scharfe Kritik an der Vergabe von Ein-Euro-Jobs geübt. Die geförderten Arbeitsgelegenheiten seien nach Ansicht der Kontrolleure meistens ungeeignet, die Chancen von Langzeitarbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, heißt es in einem Zeitungsbericht.“
(www.tagesschau.de; 15. November 2010)
(Liebe Leute vom Bundesrechnungshof, schön dass bei euch die Erkenntnis angekommen ist, dass das Aufsammeln von Laub und Müll oder das Wegsortieren von Akten und vor allem der Makel selbst, in Bewerbungsunterlagen das zwangsweise Absolvieren eines Ein-Euro-Jobs nachweisen zu müssen, nicht unbedingt geeignet sind, die Chancen auf dem freien, um nicht zu sagen: vogelfreien Arbeitsmarkt zu erhöhen. Wenn ihr jetzt noch begreifen würdet, dass die Ein-Euro-Jobs und die ganze Hartz-Gesetzgebung nicht durch das Ziel motiviert waren, das Los der Arbeitslosen zu verbessern, sondern die Menschen Schritt um Schritt an Zwangsarbeit und Hungerlöhne zu gewöhnen – dann, liebe Leute vom Bundesrechnungshof, werdet ihr womöglich verstehen, warum sich die ganze Sache für den neoliberal gleichgeschalteten Staat durchaus und ganz und gar rechnet. Gell? E.S.)
„Handwerk für Abschaffung von Ein-Euro-Jobs.“
(www.tagesschau.de; 16. November 2010)
(Die wissen halt, wo der Hammer hängt. E.S.)
„Deutsche Rüstungsindustrie macht kräftig Kasse. Griechenland steckt tief in der Kreide, dennoch gibt das Land für Verteidigung überdurchschnittlich viel Geld aus. Vor allem die deutsche Rüstungsindustrie verdient daran – und zwar gleich zweimal. Denn bislang lieferten sich Griechenland und die benachbarte Türkei einen Rüstungswettlauf.“
(www.tagesschau.de/ausland/griechenland958.html; 20. November 2010)
(Auf eine Begrenzung der Rüstungsausgaben hatte Deutschland bekanntlich nicht gedrängt, als Griechenland das Sparpaket aufoktroyiert wurde. E.S.)
„„Al Kaida ist eine Art Geisteshaltung“.“
(www.tagesschau.de; 22. November 2010)
(Störung, Leute, Störung! E.S.)
„Griechenland: Keine Müllabfuhr, keine Fähre – aber Lob vom IWF.“
(www.tagesschau.de; 23. November 2010)
(Irrsinn, Wahnsinn, Fehlanzeige. E.S.)
„Kampf gegen Lohndumping. FDP lehnt Zeitarbeiter-Mindestlohn nicht mehr ab.
Seit langem streiten Union und FDP über einen Mindestlohn für Zeitarbeiter. Arbeitsministerin von der Leyen will ihn vor der anstehenden Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts einführen. FDP-Fraktionsvize Kolb sagte nun, dass seine Partei sich den Plänen nicht mehr in den Weg stellen wolle.“
(www.tagesschau.de; 25. November 2010)
(So fünfeurodreißisch werden es dann wohl werden. E.S.)
„Aufruf zum „Bankrun“-Tag in Frankreich. Rache durch Geldabheben. Machtlos gegen die Macht der Banken? Gegen diese Sicht regt sich in Frankreich Protest. Ex-Fußballsta Cantona hat seine Landsleute dazu aufgerufen, am 7. Dezember gleichzeitig ihre Konten zu räumen – und so die Banken lahm zu legen.“
(www.tagesschau.de; 26. November 2010)
(Schöne Aktion. Würde gerne mitmachen – wenn ich denn nur etwas zum Abheben hätte. E.S.)
„Der Schauspieler Leslie Nielsen ist im Alter von 84 Jahren in Florida gestorben. Der gebürtige Kanadier brachte vor allem als Detective Frank Drebin in den „Nackte Kanone“-Filmen viele Kinobesucher zum Lachen.“
(www.tagesschau.de; 29. November 2010)
(Das finde ich überhaupt nicht witzig! Wahrscheinlich wurde er von einer nackten Kanone getroffen. Oder womöglich hat er sich totgelacht. E.S.)
„Zum ersten Mal ist offiziell die Gefechtsmedaille der Bundeswehr verliehen worden. Verteidigungsminister zu Guttenberg ehrte 15 Soldaten für ihren Afghanistan-Einsatz, elf von ihnen erhielten die Auszeichnung posthum.“
(www.tagesschau.de; 29. November 2010)
(Pervers, ekelerregend, widerlich. E.S.)
„De Maizière will schärferen Datenschutz im Netz… Minister de Maizière hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Persönlichkeitsrechte deutlich stärken soll.“
(www.heute.de/ZDFheute/inhalt/18/0,3672,8159154,00.html; 1. Dezember 2010)
(Kaum ist der bislang wütend Daten sammelnde Überwachungsstaat – Wikileaks sei Dank – selbst mal Überwachungsopfer, schon entdecken seine Repräsentanten den Datenschutz. Man kann sich vorstellen, welche von Politikern oder Managern zu verantwortenden Schweinereien in Zukunft hinter dem Deckmantel der ‚Persönlichkeitsrechte’ verschwinden und dort bleiben werden. E.S.)
Die “Chronik des Neoliberalen Irrsinns – Dezember 2010? erscheint in zwei Tagen.