ICH BIN WIKILEAKS
Am 3.Dezember zitierte Wikileaks über Twitter einen Aufruf von John Perry Barlow: „Der erste ernsthafte Informationskrieg hat nun begonnen. Das Schlachtfeld ist WikiLeaks. Ihr seid die Truppen.“
John Perry Barlow, Texter der Grateful Dead und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, veröffentlichte am 8.Februar 1996 zum Weltwirtschaftsforum in Davos die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace.
Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Laßt uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr.
Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen – und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten.
Regierungen leiten ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ab. Unsere habt Ihr nicht erbeten, geschweige denn erhalten. Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. Glaubt nicht, Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentliches Projekt. Ihr könnt es nicht. Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde und wächst durch unsere kollektiven Handlungen.
Ihr habt Euch nicht an unseren großartigen und verbindenden Auseinandersetzungen beteiligt, und Ihr habt auch nicht den Reichtum unserer Marktplätze hervorgebracht. Ihr kennt weder unsere Kultur noch unsere Ethik oder die ungeschriebenen Regeln, die unsere Gesellschaft besser ordnen als dies irgendeine Eurer Bestimmungen vermöchte.
Ihr sprecht von Problemen, die wir haben, aber die nur Ihr lösen könnt. Das dient Eurer Invasion in unser Reich als Legitimation. Viele dieser Probleme existieren gar nicht. Ob es sich aber um echte oder um nur scheinbare Konflikte handelt – wir werden sie lokalisieren und mit unseren Mitteln angehen. Wir schreiben unseren eigenen Gesellschaftsvertrag. Unsere Regierungsweise wird sich in Übereinstimmung mit den Bedingungen unserer Welt entwickeln, nicht Eurer. Unsere Welt ist anders.
Der Cyberspace besteht aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selbst, positioniert wie eine stehende Welle im Netz der Kommunikation. Unsere Welt ist überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben.
Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft.
Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelnen an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen.
Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu. Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt. Es gibt im Cyberspace keine Materie.
Unsere persönlichen Identitäten haben keine Körper, so daß wir im Gegensatz zu Euch nicht durch physische Gewalt reglementiert werden können. Wir glauben daran, daß unsere Regierungsweise sich aus der Ethik, dem aufgeklärten Selbstinteresse und dem Gemeinschaftswohl eigenständig entwickeln wird. Unsere Identitäten werden möglicherweise über die Zuständigkeitsbereiche vieler Eurer Rechtssprechungen verteilt sein. Das einzige Gesetz, das alle unsere entstehenden Kulturen grundsätzlch anerkennen werden, ist die Goldene Regel. Wir hoffen, auf dieser Basis in der Lage zu sein, für jeden einzelnen Fall eine angemessene Lösung zu finden. Auf keinen Fall werden wir Lösungen akzeptieren, die Ihr uns aufzudrängen versucht.
In den Vereinigten Staaten habt Ihr mit dem „Telecommunications Reform Act“ gerade ein Gesetz geschaffen, das Eure eigene Verfassung herabwürdigt und die Träume von Jefferson, Washington, Mill, Madison, Tocqueville und Brandeis beleidigt. Diese Träume müssen nun in uns wiedergeboren werden.
Ihr erschreckt Euch vor Euren eigenen Kindern, weil sie Eingeborene einer Welt sind, in der Ihr stets Einwanderer bleiben werdet. Weil Ihr sie fürchtet, übertragt Ihr auf Eure Bürokratien die elterliche Verantwortung, die Ihr zu feige seid, selber auszuüben. In unserer Welt sind alle Gefühle und Ausdrucksformen der Humanität Teile einer umfassenden und weltumspannenden Konversation der Bits. Wir können die Luft, die uns erstickt, von der nicht trennen, die unsere Flügel emporhebt.
In China, Deutschland, Frankreich, Rußland, Singapur, Italien und den USA versucht Ihr, den Virus der Freiheit abzuwehren, indem Ihr Wachposten an den Grenzen des Cyberspace postiert. Sie werden die Seuche für eine Weile eindämmen können, aber sie werden ohnmächtig sein in einer Welt, die schon bald von digitalen Medien umspannt sein wird.
Eure in steigendem Maße obsolet werdenden Informationsindustrien möchten sich selbst am Leben erhalten, indem sie – in Amerika und anderswo – Gesetze vorschlagen, die noch die Rede selbst weltweit als Besitz definieren. Diese Gesetze würden Ideen als nur ein weiteres industrielles Produkt erklären, nicht ehrenhafter als Rohmetall. In unserer Welt darf alles, was der menschliche Geist erschafft, kostenfrei unendlich reproduziert und distribuiert werden. Die globale Übermittlung von Gedanken ist nicht länger auf Eure Fabriken angewiesen.
Die zunehmenden feindlichen und kolonialen Maßnahmen versetzen uns in die Lage früherer Verteidiger von Freiheit und Selbstbestimmung, die die Autoritäten ferner und unwissender Mächte zurückweisen mußten. Wir müssen unser virtuelles Selbst Eurer Souveränität gegenüber als immun erklären, selbst wenn unsere Körper weiterhin Euren Regeln unterliegen. Wir werden uns über den gesamten Planeten ausbreiten, auf daß keiner unsere Gedanken mehr einsperren kann.
Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes erschaffen. Möge sie humaner und gerechter sein als die Welt, die Eure Regierungen bislang errichteten.
(Deutsche Übersetzung erschienen auf Telepolis, Übersetzung von Stefan Münker)
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Viele in der Informationswelt zweifeln. Viele von Euch sind müde und erschöpft. Viele haben ganz persönliche Sorgen und sind in Not. Doch nun klärt sich das Bild. Nun lichten sich die Nebel und die Fronten werden sichtbar. Es geht um mehr als nur den Angriff auf Wikileaks, eine einzelne Plattform im exponential wachsenden Weltfinformationsnetz. Es geht um einen Angriff gegen uns selbst, den wir zurückschlagen müssen. Es geht um eine große Vision, einen neuen Anfang, den nur wir ermöglichen können, weil nur wir ihn noch wollen. Andere haben diese Möglichkeit nicht, hatten sie nie oder wollten sie nicht.
Jeder weiß, dass diese Welt, so wie sie funktioniert, ungerecht und feudal organisiert ist. Das Geld, was alles regiert und bestimmt, „verdient“ die überwältigende Mehrheit von uns, indem sie mit ihrer Lebenszeit, ihrer Arbeit, ihren Ideen und ihrer bloßen Existenz bezahlt. Eine verschwindende Minderheit jedoch hat das Monopol darauf, das Geld aus dem Nichts zu erfinden. So fließt Geld stets auf „magische“ Art und Weise zu dem zurück, der es hat. Dieses nicht durch geschriebene und demokratisch verfasste Gesetze bestimmte, sondern über die Jahrhunderte seit dem Römischen Imperium durch das Gewohnheitsrecht „Lex Mercatoria“ des (Geld)Handels entstandene Finanzsystem ist die Quelle aller allgemeinen Probleme auf dem Planeten. Der französische kapitalistische Ökonom Jacques Rueff formulierte es in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts folgendermaßen:
“Wenn ich eine Vereinbarung mit meinem Schneider hätte, dass alles Geld was ich ihm bezahle noch am selben Tag zu mir zurückkehrt in Form eines Kredites an ihn, hätte ich überhaupt keine Einwände dagegen mehr Anzüge bei ihm zu bestellen”
“If I had an agreement with my tailor that whatever money I pay him returns to me the very same day as a loan, I would have no objection at all to ordering more suits from him.”
Seit Beginn des Digitalen Zeitalters Ende des 20.Jahrhunderts hat sich dieses Finanzsystem – des Tausches von erfundenem Nichts durch Wenige gegen die Arbeit von allen Anderen – weiter über den Planeten ausgebreitet. Dabei wurde es durch keine Parteien oder Organisationen irgendwelcher Regierungen im Einflussbereich von USA und entstehender „Europäischen Union“ behindert, eingeschränkt, oder gar kontrolliert, sondern im Gegenteil massiv befördert und auf jede nur denkbare Art und Weise unterstützt. Ganz im Gegenteil dazu wurde von sämtlichen staatlichen Machthaber weltweit versucht die Entwicklung des Cyberspace, den Zugang der Menschheit zu kostenfreien Informationen, die allgemeine weltweite Kommunikation, Interaktion, Kooperation, die Entwicklung neuer direkter Handelswege und Handelsplätze über das Internet und das auf Erfindungen europäischer Wissenschaftler basierende World Wide Web auf alle erdenkliche Weise zu behindern, einzuschränken, zu zensieren und zu kontrollieren.
Seit der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace durch John Perry Barlow im Jahre 1996 hat sich vieles auf der Welt verändert. Ein weltweiter Krieg wurde begonnen. Attentate, Angst und Misstrauen sind seine Nahrung. Das Finanzsystem, was sich selbst den Namen „Globalisierung“ gab, hat die Staaten der kapitalistischen Währungszonen im Würgegriff, diktiert ihnen die Bedingungen und löst diese in Kooperation mit den eigenen Bedingungen langsam und schleichend von oben her auf, um sie zu totalitären Blöcken und durch die Bevölkerung nicht mehr beeinflussbaren Gebilden zu transformieren. Ziel dabei ist es, das durch Gewohnheitsrecht gewachsene Finanzsystem um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Die gegnerischen autoritären Regime der konkurrierenden Währungs- und Ökonomiezonen werden dabei von USA, der „Europäischen Union“ und ihren assoziierten Zonen nicht etwa durch deren Kontrolle ihres Finanzsystems zum strukturellen Vorbild, sondern in ihren Repressionsmaßnahmen gegen die Bevölkerung, der Unterdrückung und Reglementierung des Internets.
Die Zeitschrift „Forbes“ erklärte 2010 den chinesischen Machthaber Hu Jintao zum Mächtigsten Mann der Erde und formulierte es im Namen aller von Demokratie und Freiheit genervten Privilegierten wie folgt:
„Hu Jintao. Höchster politischer Führer von mehr Menschen als jeder andere auf dem Planeten; übt annähernd diktatorische Kontrolle über mehr als 1.3 Milliarden Menschen aus, einem Fünftel der Weltbevölkerung. Im Gegensatz zu seinen westlichen Amtskollegen kann Hu Flüsse umleiten, Städte bauen, Dissidenten einsperren und das Internet zensieren, Einmischung von nervigen Bürokraten, Gerichten.“
Allen Regierungen, Regime und Machthaber der konkurrierenden Vier Zonen der Ökonomie sind sich in einem Punkt einig: der angestrebten eigenen Kontrolle über das Internet, den Cyberspace, das Weltinformationsnetz. Nichts soll der Welt gehören, sondern die Welt ihnen. Das ist das Ziel der Machteliten, wo auch immer sie zu finden sind.
Der Angriff auf Wikileaks und die bizarre Anklage gegen Julian Assange ist in diesem Kontext zu sehen. Der Informationskrieg, der nun begonnen hat, dient nicht der Selbstdarstellung oder den Interessen eines Einzelnen. Er dient nicht der Konzentration auf die Sicherung einer einzelnen Plattform, deren über die Welt verstreuten einzelnen Akteure wahrlich nicht unfehlbar sind. Dieser Informationskrieg ist ein Unabhängigkeitskrieg des Cyberspaces, des Neuen Landes, welches allen und damit niemandem gehört. Es ist ein Unabhängigkeitskrieg, in dem kein Mensch verletzt wird, kein Blut fließt, nicht erobert, gemordet und geschossen wird, wie durch die Jahrhunderte von Machthabern zum eigenen Machterhalt und zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur begonnenen Kriege. Es ist ein Aufstand, eine Revolte, eine Revolution des freien und natürlichen Geistes, eines guten Geistes, der endlich, endlich aus der Flasche gefahren ist.
Dabei muss allen klar sein, dass eine uralte Taktik der Machteliten und ihres gigantisch aufgeblasenen Kontroll-Apparates aus verschmelzender Polizei, Spionage und Militär darin besteht, sich den Gegner selbst zu Nutze zu machen.
Als Wikileaks am 25.Juli dieses Jahres die „War Logs“ der US-Militärgeheimdienste mit Unterlagen bezüglich des Krieges in Afghanistan veröffentlichte, war ich einer der Wenigen, die daran Kritik übten. (Die Wikileaks-Veröffentlichung und die Afghanistan-Pakistan-Strategie der USA)
„Wikileaks hat sich, meiner bescheidenen Meinung nach, mit dieser Veröffentlichung keinen Gefallen getan. Die wichtige, unentbehrliche Bürgerrechtsorganisation ist an der Nase herum geführt worden. Auch bei der Wahl seiner “Medienpartner”, vom “Guardian” einmal abgesehen, sollte Wikileaks demnächst etwas umsichtiger agieren.“
Die Entwicklungen der nächsten Tage bestätigten mich in meiner Auffassung. (Afghanistan, Pakistan, Iran: Da lang, nein, da lang!)
Hier werde ich nun noch einmal versuchen zu umschreiben, was meiner bescheidenen Meinung nach immer noch die Wenigsten begreifen: wie einerseits Spionage, Propaganda und Meinungsmanipulation durch die ausführenden Geheimdienste und andererseits Wikileaks überhaupt funktionieren.
Wikileaks spioniert nicht, sondern funktioniert wie eine klassische Zeitung: es veröffentlicht Berichte. Im Falle von Wikileaks sind das keine eigenen Berichte, sondern ausschließlich Unterlagen, welche diesem Informationsmedium zugespielt wurden. Von wem Wikileaks diese Unterlagen bekommt, weiss es selbst nicht. Genau das bietet die Grundlage für einen effektiven Schutz von Informanten. Die Regierungsseite dagegen spioniert jeden Tag die Bevölkerung aus, mit allen Kräften die sie hat. Der vermeintliche „Krieg gegen den Terror“ ist nur eine Ausrede. Es geht nicht um den Sieg gegen einen Fantomfeind, den Sieg gegen selbst erschaffenen und finanzierten Attentats-Gruppen und Netzwerke, es geht um den geistigen, emotionalen, kulturellen und moralischen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Diese soll gebrochen, in die Knie gezwungen und zum Aufgeben ihres geistigen, emotionalen, kulturellen, politischen, verfassungsrechtlichen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Besitzes gebracht werden, um wie vorgesehen die Transformation ihres Gemeinweisens in ein autoritäres Gebilde zu akzeptieren, bei gleichzeitiger Eskalation der Ausbeutungsmechanismen des Finanzsystems.
Die Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“ vom 5.April 2010, der Mitschnitt eines Videos vom Mord an irakischen Reuters-Journalisten durch eine us-amerikanische Hubschrauberbesatzung, war ein sehr effektiver Schritt, die grundgütig-naive Öffentlichkeit über die Natur eines ganz normalen Krieges aufzuklären. Meiner bescheidenen Meinung nach versuchte die Gegenseite – nach alter Taktik – sich entsprechend der eigenen geistigen Doktrin der Unbesiegbarkeit und Überlegenheit diese Niederlage zu Nutze zu machen und umzudrehen. Fortan wurde eine Strategie entwickelt, selbst über Wikileaks zu veröffentlichen und davon zu profitieren. Genau dies ist meiner Einschätzung nach im Falle der Unterlagen der US-Militärspionage auch geschehen.
Der Angehörige des Geheimdienstes der US Army, Bradley Manning, soll nach Behauptungen vorliegender Anklage das Hubschrauber-Video an Wikileaks weiter gegeben haben. Doch keineswegs ist sicher, dass er auch die am 25.Juli von Wikileaks veröffentlichten Daten der US-Militärspionage aus Afghanistan weiter gab. Ebenso wenig ist sicher, dass er die 391.000 Dokumente des US-Militärs zum Irak-Krieg aus den Jahren 2004-2009 an Wikileaks schickte, welche diese am 22.Oktober veröffentlichte. Und ebenso wenig ist in irgendeiner Weise klar, wer nun die 251.287 Protokolle des US-Aussenminsiteriums an Wikileaks über deren kompliziertes Kommunikationssystem zugesendet hat, welches eben verhindern soll, dass der Absender identifiziert werden kann.
Die Behauptungen von US-Militär und Regierung, dass der Militäragent Bradley Manning in einem „Hacker-Chat“ mit der Weitergabe irgendwelcher Informationen geprahlt haben soll, ist für jeden, der nur einen Funken Ahnung von der Ausbildung in Nachrichtendiensten hat, schlicht lächerlich. Kein Agent würde so dumm sein Ähnliches zu tun. Auch ist das Ausmaß der Überwachung des (zivilen) Internets, sowie der Gesamtbevölkerung durch staatliche und kommerzielle Organe scheinbar den Wenigsten so richtig klar. Noch während ich diesen Artikel schreibe, wird er bereits mitgelesen und nach Informationen durchsucht.
Das Bundesverfassungsgericht, damals noch ernstzunehmen, schuf in seinem Urteil 1 BVR 370/07 zur Änderung des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen vom 27. Februar 2008 das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ und benannte höchst selbst genau die alltägliche Spionage-Methodik, der ganz sicher auch Angehörige von Nachrichtendiensten selbst ausgesetzt sind.
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der hier behandelten Ausprägung schützt insbesondere vor einem heimlichen Zugriff, durch den die auf dem System vorhandenen Daten ganz oder zu wesentlichen Teilen ausgespäht werden können. Der Grundrechtsschutz umfasst sowohl die im Arbeitsspeicher gehaltenen als auch die temporär oder dauerhaft auf den Speichermedien des Systems abgelegten Daten. Das Grundrecht schützt auch vor Datenerhebungen mit Mitteln, die zwar technisch von den Datenverarbeitungsvorgängen des betroffenen informationstechnischen Systems unabhängig sind, aber diese Datenverarbeitungsvorgänge zum Gegenstand haben. So liegt es etwa bei einem Einsatz von sogenannten Hardware-Keyloggern oder bei einer Messung der elektromagnetischen Abstrahlung von Bildschirm oder Tastatur.„
Niemand, aber auch wirklich niemand, hat die Bildschirm-Überwachung oder das simple Mitlesen von Tastatur-Bedienung bisher in der Öffentlichkeit angemessen zum Thema gemacht, obwohl derartige Spionage (über Hunderte von Metern hinweg) technisch problemlos möglich ist, bereits als „Van-Eck-Phreaking“ bekannt wurde und bereits auf der Defcon Hackerkonferenz in Las Vegas in 1996 erfolgreich demonstriert wurde. Und das ist nur das, was zivile Aktivisten selbst entwickelt und heraus gefunden haben. In den Ingenieurs-Stuben des US-Militärgeheimdienstes National Security Agency (NSA) denkt man weiter, hat alle Kapazitäten, alle Druckmittel und staatlichen Gelder zur Verfügung die man dort haben will. Und nicht eine Regierung, nicht ein Partei-Witz im US-Einflußbereich wagt es dagegen den Mund aufzumachen.
Doch wie das Orwellsche Vorbild der totalitären Gesellschaft von 1984 hat auch diese informelle Überwachung der Bevölkerung eine entscheidende Schwäche, die das gesamte System zum Kollabieren bringen kann: die Kapazität. Und zwar die humane Kapizität.
Selbst wenn man automatisiert Kommunikation, Datenverkehr, Finanztransaktionen weltweit abfängt, ist irgendwann kein Mensch mehr in der Lage all diese Daten zu sichten und zu analysieren. Selbst wenn man in Echtzeit die wenigen relevanten – d.h.: unabhängigen, also unkontrollierbaren – Journalisten und Multiplikatoren der Öffentlichkeit überwacht und entsprechende Gegenmaßnahmen gegen ihrer Veröffentlichungen organisiert, so scheitert das ganze, scheinbar allmächtige System in dem Augenblick operativ, taktisch und schließlich strategisch, wo einfach zu viele Menschen ihre Möglichkeiten wahrnehmen.
Es muss hier schlicht wieder einmal daran erinnert werden, dass in Orwells „1984“ die totalitäre Gesellschaft in drei grobe Klassen unterteilt war: in die Innere Partei (2 %), die Äußere Partei (13 %) und die Proles (85 %). Was nun wie vieles Andere ebenfalls bisher – selbst in intellektuellen Zirkeln – offenbar nicht verstanden worden ist: per „Televisor“ überwacht wurden in dieser totalitären Gesellschaftsstruktur nur die 13 % der Äußeren Partei. Auftraggeber war die winzige Oberschicht. Die Proles waren sowieso irrelevant. Sie mussten nicht überwacht werden, sondern folgten ihrem primitiven Lebenswandel und den angelernten Gewohnheiten, ganz von alleine.
Exakt diese Paralelle ergibt sich nun in unserer Gesellschaft. Überwacht, gekauft, erpresst, unterwandert, gesteuert, manchmal vernichtet, aber immer kontrolliert werden sollen die gehobenen Funktionäre, die Entscheider, die Multiplikatoren, die Dissidenten, die Denker, die Künstler und Sportler und zu allererst die Prominenten darunter. Diese gilt es im Griff zu behalten, dann fügt sich der Rest der Hammelherde – so die alte Theorie. Und genau diese Theorie erreicht nun im Digitalen Zeitalter ihren systemischen Bruchpunkt, an dem das alte Kontrollsystem selbst außer Kontrolle und alles aus den Fugen gerät.
Im September dieses Jahres musste Daniel Domscheit-Berg Wikileaks leider verlassen. Die Welt trauerte. „Daniel Schmitt“ schenkte nun der Welt wertvolle Informationen darüber, wie bei Wikileaks alles begann. Nun, genau genommen begann es nach der Gründung 2006. Aber so richtig in Fahrt, sagt Daniel, kam es erst in Berlin. Und zwar als der finanziell unabhängige Domscheit-Berg (damals einfach Berg) den unkontrollierten (und natürlich ohne Finanzquellen ausgestatteten) Julian Assange mal beiseite nahm und ihn ein wenig unterstützte. Zuvor hatte der gesamte Chaos Computer Club (CCC) Assange und Wikileaks abblitzen lassen. Kein Wunder, wenn man weiss, wo wiederum die Aktivisten des CCC ihre Geldquellen hatten bzw. haben und welche inneren Parteifritzen und ihre Handlanger davon wissen.
Nun, ahnungslos und ungebildet wie ich bin – also arm, Sie verstehen das – gehe ich einmal davon aus, dass der Verlust von Daniel Berg, alias Daniel Domscheit-Berg, alias Daniel Schmitt, für Wikileaks nicht ganz so tragisch sein muss. Wikileaks, so könnte man sagen, ist in der Tat ein wenig außer Kontrolle geraten. Die Veröffentlichung der Akten des US-Außenministeriums war ein begrüßenswerter Schritt, immer im Bewusstsein, dass es sich hierbei um Akten der US-Regierung handelt. Hier ist der Vorhang aufgegangen vor den Stuben und Hinterzimmern der großen Koalition von Inneren Parteien, die sich die Welt gütlich aufgeteilt haben.
Und diese Welt wollen We, The People, nun wieder haben. Und zwar ein bisschen plötzlich.
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Die Grafik „Ich bin Wikileaks“ ist öffentliches Allgemeingut und kann von jedem verwendet werden. Die Webseite I am Wikileaks auf Facebook.