Live Bilder aus Ägypten: Einem Land platzt der Kragen
Volksaufstand in Ägypten: Ticker
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Öffentlich zugängliche Quellen:
Live TV Stream Al Jazeera: http://english.aljazeera.net/watch_now/
Twitter Al Jazeera: http://english.aljazeera.net/news/middleeast/2011/01/201112523026521335.html
Ticker Al Jazeera: http://blogs.aljazeera.net/middle-east/2011/02/04/live-blog-feb-5-egypt-protests
Samstag, 5.Februar. Tag 12 im Volksaufstand Ägyptens.
Es ist Mitternacht in Mitteleuropa und ein Uhr nachts in Kairo. Auf dem Tahrir Platz übernachten abermals Tausende von Ägyptern. Es sind so viele Menschen wie nie auf dem Platz geblieben. Es ist eine Atmosphäre zwischen ihnen, die Beobachter als „Festival“ beschreiben. Viele von ihnen harren seit mehreren Tagen auf dem „Platz der Befreiung“ im Herzen ihrer Hauptstadt aus, den die Dissidenten der Diktatur am Nil gegen anrückende regimetreue Kräfte des Diktators Husni Mubarak standhaft gehalten und tapfer verteidigt haben.
In der ganzen Welt spricht man jetzt anders über die Ägypter. Man spricht von ihnen als einem Volk, was den Mut hatte ohne jede Chance, ohne Unterstützung, ohne Erfahrung und ohne andere Mittel als den felsenfesten Willen zur Freiheit sich gegen die Unterdrückung eines feudalen Systems zu erheben, dessen Ungerechtigkeit, dessen Heuchelei und dessen geistiges Gefängnis sie einfach nicht mehr aushielten. Die Ägypter, eine uralte Kultur in einem uralten Land, sind zu einem Leuchtturm der Welt geworden, der höher hinaus ragt als jede Pyramide jedes Pharao, der sie auf allen Seiten im Buch ihrer langen Geschichte jemals unterdrückte.
Diese Tage sind ein vom ägyptischen Volk errichtetes Denkmal unserer Zivilisation. Und dieses Denkmal kann nie mehr eingerissen, nie mehr zerstört und nie mehr vergraben werden. Und es wird nie vergessen.
Die Ereignisse von Tag 11 rauschten gestern derart vorbei, dass es manchen den Mantel der Geschichte ins Gesicht wehte. An seinem Ende war der Diktator immer noch im Amt. Doch welche Macht ist Husni Mubarak noch geblieben?
Nach dem durch Tricks und Manipulationen hinter den Kulissen verhinderten Marsch auf den Palast Mubaraks, zu dem sich eine Million Menschen zum „Tag der Abreise“ Husni Mubaraks auf dem Tahrir Platz versammelt hatten, herrschte unter den Aktivisten der ägyptischen Freiheitsbewegung nicht etwa Defätismus oder Resignation. Zuviel haben die Menschen dot schon für ihre Freiheit, für ihre Demokratie, für ihre Neue Republik Ägypten durchgemacht. Zuviele Opfer hat dieser Kampf um Befreiung die Ägypter schon gekostet. Zuviel haben sie bereits gelitten, gekämpft, zuviele sind gestorben, als jetzt auch nur einen Millimeter nachzugeben.
Noch am Abend feierten die Menschen in Kairo ihr Fest. Ein seltsames, eigenes Fest, ohne Sieg im Kampf gegen die Diktatur, aber in der Gewissheit ihn weiter führen zu werden.
Derweil verhaften „Sicherheitskräfte“ des Regimes den Leiter des Al Jazeera Büros in Kairo, Abd al-Fattah Fayed, und den Journalisten. Ein Journalist stirbt an seinen Schusswunden, die er in den letzten Tagen erlitt.
Es ist Nacht in Kairo. Ein neuer Tag bricht an. Und ob er besser ist oder nicht, die Ägypter werden sich ihm stellen. Und die Welt wird mit ihnen sein.
Mit ihnen.
03.25 Uhr
Amnesty International meldet, zwei ihrer Mitarbeiter, die festgenommen worden waren, sind wieder frei.
08.30 Uhr
Es kommt auf der Sinai Halbinsel zur Explosion. (Wie später bekannt wird, erfolgt laut Quellen von Al Jazeera die Explosion in der jordanischen Abteilung des Kontrollbereichs einer Gas-Pipeline bei El-Arish, die von Ägypten nach Israel (andere Pipeline-Strecke) und Jordanien führt. Die Gas-Pipeline wird dabei nicht beschädigt, es tritt lediglich eine kleine Menge Gas aus. Wer die Verursacher der Explosion in der jordanischen Abteilung des Kontrollbereichs sind, heisst es, sei völlig unklar.)
10.25 Uhr
Mouin Rabbani, engagierter Bürgerrechtler vom Middle East Report, schätzt, dass der Aufstand der Ägypter die Bündnis-Architektur der Region um den Suezkanal verändern wird.
12.00 Uhr
Die Mubarak-Diktatur stellt die Gas-Lieferungen über (die laut Berichten nicht beschädigte) Gas-Pipeline nach Jordanien ein und beschuldigt „Terroristen“ für die Explosion verantwortlich zu sein. Bebobachter auf Al Jazeera sehen das als Schritt Jordanien zu destabilisieren.
Analyse: Diese Explosion in einem hochgesicherten Bereich auf dem Territorium Ägyptens könnte auch sehr gut dazu gedacht sein Ägypten weiter zu destabilisieren. Jedenfalls nutzt das Kairoer Regime im Kampf gegen die Bevölkerung nun die (visuell fimlreife, aber folgenlose) Explosion, um eine nicht beschädigte Pipeline abzuschalten. Quasi mal ein neuer Einfall, um Mubarak nicht nur ungesetzlich, sondern unersetzlich zu machen.
12.10 Uhr
Bilder aus Kairo (Datum unklar).
12.25 Uhr
Auf einem zur Zeit in Deutschland laufenden Treffen der priviligierten Kreise der „bedrohten Weltwirtschaft und Weltordnung“ (Nato-Generalsekretär Rasmussen, wir berichteten) wird die Richtung der internationalen kapitalistischen Nomenklatura hinsichtlich des Volksaufstands in Ägypten deutlich. Auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ – beim jährlichen kommerziellen Treffen von Rüstungs-, Spionage- und Kriegskonzernen, zu der die entspechenden Regierungs-Kunden anrücken – erklärt Angela Merkel, Kanzlerin Deutschlands zur Situation in Ägypten:
„Die ganz schnelle Wahl als Beginn eines Demokratisierungsprozesses halte ich für falsch“
Kommentar: Wer jetzt immer noch nicht begriffen hat, welche Heuchler diesen Planeten beherrschen und ihn gewissenlos ausbeuten, dem empfehle ich ein anderes Kino als seinen Kopf.
12.45 Uhr
Auf der ganzen Welt demonstrieren die Menschen für das Volk von Ägypten, in seinem Kampf um Freiheit und eine echte Demokratie.
13.00 Uhr
Heute vorm „Spiegel“: laut der Redaktion des Spiegels, die sich auf einen Bericht von „Fakt“ beruft, die sich wiederum auf ein „vertrauliches Papier“ des Berliner Aussenministeriums vom 4.Februar berufen soll, sollen in den letzten Tagen mehrere Deutsche in Ägypten festgenommen worden sein, darunter auch Agenten des Bundesnachrichtendienstes (BND). Sie wurden demnach vom Regime wieder freigelassen. „Fakt“ berichtet über seinen eigenen Bericht jedoch nicht auf der eigenen Webseite. Die Redaktion des „Spiegel“ kontaktierte das Aussenministerium, das den Bericht nicht kommentierte.
13.10 Uhr
Berichte über ein Attentat auf Mubarak-Vize Omar Suleiman am Freitag Abend, bei dem zwei Leibwächter Suleimans getötet worden sein sollen, dringen an die Öffentlichkeit; sie erscheinen zuerst beim berüchtigten neokonservativen Nachrichtensender „Fox News“ in den USA. Indirekt werden sie von US-Aussenministerin Hillary Clinton bestätigt, indem sie in München äußert:
„Diese Berichte werfen ein Schlaglicht auf die Herausforderungen, denen wir uns stellen, während wir durch diese Zeitspanne navigieren.“
Bemerkung: Bereits vorgestern hatte die US-Regierung über die „New York Times“ ihre Vorstellungen über einen Machtwechsel im Regime Ägyptens bekannt gegeben: Übergangsregierung unter Spionage-Chef und Vize-Präsident Omar Suleiman, gestützt von Verteidigungsminister Marshal Mohamed Tantawi (der gestern in der Nähe des Tahrir-Platzes Soldaten besuchte) und Generalstabschef Sami Enan (der in der Woche zu Beginn des Aufstandes in Washington zu Besuch war.
Laut Aussagen vom Umfeld des Weissen Hauses soll das Attentat bereits am 29.Januar verübt worden sein – Blödsinn. Das Ganze ist offensichtlich ein Märchen, was Suleiman beliebt und bekannt machen soll.
Armee geht gegen Barrikaden der Demokratie-Bewegung in der Nähe des Tahrir Platzes vor
Wie Reporter über den Al Jazeera Ticker berichten, sind gegen 12.00 Uhr Soldaten der Armee in den Sicherheitsbereich der Pro-Demokratie-Aktivisten beim Tahrir-Platz vorgerückt und haben sich zwischen den Schutzbarrikaden am Nationalmuseum und dem Versammlungsort auf dem Platz positioniert. Sie haben so die Aktivisten an den zum Schutz vor Regimekräften errichteten Barrikaden vom Versammlungsort abgeschnitten.
Gegen 12.34 Uhr rollten dann zwei Panzer der Armee auf die Barrikaden der Freiheitsbewegung am Nationalmuseum zu. Kommentar eines Al Jazeera Korrespondenten per Twitter:
„Die werden schon nicht feuern, aber es ist der Einschüchterungsfaktor“
Die „Süddeutsche“ zeigte ein Foto von Ägyptern, die mit ihren Körpern die Panzer blockieren und machte daraus eine Blockade, die das Militär am Verlassen des Areals hindern solle.
Gegen 13.30 Uhr wird gemeldet, dass 20 Soldaten an den Barrikaden der Demokratie-Bewegung mit den Dissidenten verhandeln.
Aktivisten der Freiheitsbewegung bestätigen, die Armee habe mit ihnen seit dem Morgen über die Beseitigung der Metallbarrikaden am weiter nördlich gelegenen Nationalmuseum verhandelt.
Die Armee hat alle Zufahrtswege zum Tahrir Platz blockiert und läßt keine Menschen mehr zu der dortigen Versammlung.
Das Fernsehstudio Al Jazeeras sendet keine Live-Berichterstattung vom Ort des Geschehens.
Analyse: Nimmt man nun die Drohung der internationalen Nomenklatura in München, addiert dazu den Blödsinn über angebliche Attentate auf Spionage-Chef Suleiman, den Stellvertreter Mubaraks und designiertem Nachfolger mit Washingtons Segen, summiert dazu Berichte von Zeugen, denen von Soldaten gesagt worden ist dass die Armee heute die Ausgangssperre unbedingt durchsetzen wolle, so muss hier von einer internationalen Absprache mit dem Mubarak-Regime ausgegangen werden, den Aufstand der Ägypter für Freiheit und Demokratie nun endlich loszuwerden.
Einschätzung: Dabei sollen zunächst „nicht-tödliche“ Taktiken angewendet werden. Letztlich hat das Ziel aber höchste Priorität: die Niederschlagung der demokratischen Volksbewegung. Sie darf entsprechend dem Dogma der Nomenklatura „Führe oder folge“ niemals Erfolg haben, weil so der Beweis erbracht würde, dass das herrschende Weltbild der Herrscher der Welt eine Lüge ist.
Eine Gruppe von Soldaten mit roter Kopfbedeckung betritt gegen 14 Uhr den Tahrir-Platz. Die Demonstranten brechen in Jubel aus.
14.25 Uhr
Die Armee treibt eine Gruppe „Zuschauer“ in der Nähe der Brücke des 6.Oktobers (beim Nationalmuseum) zurück. (Wer diese Menge bildet, ist unklar.)
Al Jazeera berichtet ausführlich aus München, aber nicht mehr live aus Kairo.
14.50 Uhr
Wieder Live-Berichterstattung durch das Al Jazeera Fernsehstudio vom Tahrir Platz. Dazu lautstarkes Gejammer von „Ökonomen“ und Interview-Gästen, wie schädlich doch diese Freiheitsbewegung für die Wirtschaft der Diktatur sei. Man solle doch endlich mal nach Hause gehen.
Tausende Ägypter sind anderer Meinung und demonstrieren auch an Tag 12 des Volksaufstandes auf dem Platz der Befreiung (Tahrir Platz). Auch Tausende in Alexandria sind anderer Meinung als die freie Wirtschaft freier Diktaturen und beerdigen heute einen Landsmann, der seinen Verletzungen vom 28.Februar erlegen ist.
Mal etwas für die „bedrohte Weltwirtschaft und Weltordnung“ (Nato-Generalsekretär Rasmussen auf der „Sicherheitskonferenz“ der internationalen Nomenklatura in München):
15.20 Uhr
Eine Gruppe von Ausländern betritt den Platz, verteilt Blumen unter die Demonstranten der Freiheits- und Demokratiebewegung.
15.50 Uhr
Die internationale Nomenklatura, die sich zur Zeit in München versammelt hat, versucht das Schicksal Ägyptens dem Volk mit allen Mitteln aus den Händen zu reissen, um die vielen anderen Völker der Welt dazu zu bringen, endlich nicht mehr auf Kairo, sondern auf sie zu schauen. Der „Stern“ hat unter der Überschrift „Benehmt Euch, Revolutionäre!“ eine kleine Bedienungsanleitung geschrieben:
„Bei der Sicherheitskonferenz in München skizzierten Clinton und Merkel nun, wie die Strategie aussieht, auf die sich die westlichen Spitzen geeinigt haben: Einerseits bietet der Westen den Demonstranten warme Worte und Verständnis, gepaart mit einem Versprechen, dass es einen demokratischen Wandel gebe werden…Andererseits dämpfen Washington, Brüssel und Berlin den demokratischen Eifer, warnen vor vorschnellen Wahlen und dringen auf einen Übergangsprozess, der vor allem den mächtigsten und gefährlichsten Spieler in Ägypten mit einbezieht: das Militär. Der Westen setzt auf schrittweise Reformen am Nil, aber auch in anderen arabischen Staaten, nicht auf einen radikalen Bruch. Es ist eine Strategie, die im Kern auf einen Wandel von oben abzielt, bei dem die Bevölkerung mitmacht.“
Wir verstehen das jetzt: einen Wandel der Mächtigen zur Abgabe ihrer Macht. Schon Jahrtausende erzählen die Römer so einen Dreck.
16.00 Uhr
Der Zentralkommandeur der ägyptischen Armee, Hasan El Rawini, ist auf dem Tahrir-Platz. Er spricht zu den Zehntausenden, die sich dort wieder versammelt haben und fordert sie auf den Platz zu verlassen. Diese antworten in Sprechchören: „Wir gehen nicht“.
Analyse: Es ist das gleiche Szenario wie nach dem letzten sabotierten Marsch auf den Palast des Diktators. Nachdem der „Marsch der Millionen“ am Dienstag nicht auf Mubaraks Präsidentenpalast marschierte, versuchte das Regime am Mittwoch Morgen eine „Konterrevolution“ (Brookings Analyst Shadi Hamid um 13.29 Uhr während des Überfalls der Regime-Kräfte auf den Tahrir-Platz). Die Armee hatte sich unmittelbar vor dem Angriff vom Platz zurückgezogen und hatte laut Zeugenaussagen nur den Befehl gegen Personen mit Schusswaffen einzuschreiten.
Nun lässt die Armee ihre Panzer vor den Barrikaden auffahren, die die Dissidenten unter großem Mut und Verlusten an Menschenleben gegen die Angriffe der Regime-Kräfte erfolgreich errichten konnten – einen Tag nachdem von Strippenziehern vor Ort auf dem Tahrir Platz der Marsch auf den Mubarak-Palast schon wieder verhindert wurde. Unmittelbar zuvor waren Bilder von hochrangigen Personen zu sehen, die in Begleitung von Soldaten am Rande des Tahrir-Platzes einen Bus bestiegen, offensichtlich zu Verhandlungen.
Die Aktivisten der Freiheits- und Demokratiebewegung vor Ort auf dem Tahrir Platz müssen jetzt begreifen, dass man manchmal einen Schritt nach vorne machen muss, um voran zu kommen.
16.25 Uhr
Der Sohn des Diktators, Gamal Mubarak, ist als Vorstandsmitglied (nicht als Chef, Korrektur) der Nationalpartei NDP entmachtet worden. Neuer General-Sekretär ist Hossam Badrawi.
16.30 Uhr (17.30 Uhr ägyptischer Zeit)
Der Abend bricht an in Kairo, es wird dunkel. Im Zwielicht der Abenddämmerung stehen Zehntausende. Der Gesang von muslimischen Abendgebete klingt über den Platz. Für den morgigen Sonntag haben auch christliche Gruppen eine Messe auf dem Tahrir Platz angekündigt.
16.40 Uhr
Hochinteressantes Telefoninterview auf Al Jazeera, auf der vor einiger Zeit offensichtlich eine neue Schicht der TV Redaktuion hre Arbeit aufgenommen hat.
Hassan Nafaa, Professor an der Kairoer Universität und ohne Zweifel Teil der ägyptischen Oberschicht, berichtet von seinem Rücktritt als Sprecher der „Nationalen Koalition für Wandel“. Wandel. Wandel. Wie war das mit dem Wandel der Mächtigen, den Clinton und Merkel propagieren?
Aber weiter: Naffaa, geschwätzig und ausschweifend, wie Professoren nun mal sind, erzählt unter viel Gewimmer und Gebrumm, dass ihm die Richtung innerhalb der Koalition nicht mehr passe.
Ach – Sie haben keinen Blassen, wer diese Koalition ist? Na dann lesen Sie mal unsere vorhergehenden Artikel, ich hab keinen Bock hier alles hundert Mal zu schreiben. (Anmerkung: die „National Coalition for Change“ hat sich mittlerweile umbenannt in „National Association for Change“.)
Also, da ist also der Herr Professor Nafaa am Rohr und wird vom neuen Al Jazeera Moderator, der einen recht bissigen Eindruck macht (Kompliment), kompetent ausgefragt. Zu Auseindersetzungen innerhalb der Koalition – die wie berichtet aus ehrenwerten Persöhnchen reicher Ägypter ein sagenhaftes „Komitee“ gebildet hat und hinter dem Rücken der Freiheitsbewegung mit dem Regime über ihr Schicksal verhandelt – will Nafaa nichts sagen. Aber er spricht davon, dass es falsch sei, einem mit autoritären Vollmachten ausgestatteten Vize-Präsidenten (Suleiman) als Führer einer Übergangsregierung zu akzeptieren.
Unmittelbar nach dem Interview mit dem zurückgetretenen Sprecher der Koalition der „Oppositionsparteien“, Professor Hassan Nafaa, kommentiert ein kompetenter Gast die Situation, der bereits vorher (wir berichteten) zutreffende Analysen auf Al Jazeera gab: Omar Ashour vom “Institut für Arabische und Islamische Studien” der britischen Exeter Universität.
Er berichtet über einen entscheidenden Artikel in der ägyptischen Verfassung: Artikel 136. Sollte der Diktator mittels dieses Artikels Macht an eine Übergangsregierung abgeben – etwa unter seinem jetzigen Vize-Präsidenten Suleiman – so könne er diese jederzeit wieder an sich reißen, solange er im Amt sei.
Er beschreibt ein Beispiel. Gamal Abdel Nasser nach dem Militärputsch 1952 an die Macht gekommen, benutzte Artikel 136 für exzessive Vollmachten seiner Exekutive. Schnell wurden die damaligen Hoffnungen auf Demokratie in einem autoritären Regime erstickt. 1955 schliesslich demonstrierten die Ägypter, in einer ganz ähnlichen Situation wie heute, für Demokratie und Freiheit und zogen vor den Präsidentenpalast Nassers.
Das Nasser-Regime verhandelte hinter dem Rücken mit politischen Führern der Demonstration und gab mittels seiner Sondervollmachte in Artikel 136 Teile seiner Macht ab. Einer von seinen Verhandlungspartnern aus der Opposition stellte sich vor die Demonstranten und überredete sie nach Hause zu gehen. Als das geschehen war, ließ Nasser genau diesen Politiker erschiessen und zog per Artikel 136 die Macht wieder an sich.
Ashour verlautbarte, solange der Diktator Mubarak noch im Amt sei, gäbe es keine Veränderung zum Besseren. Sollte Mubarak aber zurücktreten, wären – wie in Tunesien – durch das Momentum der siegreichen Freiheitsbewegung auch Mubaraks Seilschaften dabei zu einzubrechen, einer nach dem anderen.
17.45 Uhr
Auf Al Jazeera zu Gast: Abdel-Rahman Youssef, hat bereits mit der Regierung verhandelt. Grobe inhaltliche Mitschrift:
Darauf angesprochen, dass laut Artikel 84 Verfassung der Diktator die Macht nur an den Parlamentspräsidenten, aber nicht an den Vize-Präsidenten oder Premierminister abgeben kann, schweigt Youssef. Dann: das sollen Rechtsexperten beurteilen.
Nachfrage: Das müssen sie doch wissen.
Anrwort: Da müssen Sie den Premierminister fragen.
Anmerkung: Al Jazeera liegt da falsch. Artikel 84 der Verfassung Ägyptens besagt, dass nur in Abwesenheit eines Vize-Präsidenten die Macht an den Parlamentspräsidenten abgeben kann. Nun hat aber Mubarak Suleiman schon vor einer Woche zum Vize gemacht. Er könnte also jederzeit die Macht legal an Suleiman abgeben. Stattdessen Blabla von den Bonzen und Tote auf den Straßen.
Frage an Youssef: Repräsentieren Sie überhaupt die Demonstranten?
Antwort: Wir repräsentieren die Association / Koalition, da sind viele Gruppen drin. Es gibt keinen Widerspruch zwischen uns und den Demonstranten.
Dann: Wir können nicht verhandeln, solange Mubarak noch im Amt ist. (Er hat bereits verhandelt, offensichtlich seit Tagen.)
Dann:
Die Menschen in Ägypten haben den Preis für die Freiheit bereits bezahlt.
Bemerkung: Ach nee.
18.45 Uhr
Seit einer Dreiviertelstunde ist die Ausgangssperre in Kraft. Beachten tut sie niemand. Der Tahrir-Platz ist wieder voll mit Menschen. In Al Jazeera interviewen sie irgendwelche Leute aus Boston, die echt mürrisch aussehen.
Irgendwer verhandelt immer. Doch die Armee hat es aufgegeben mit der Demokratiebewegung über einen Abriß der Barrikaden zu verhandeln.
Am Nil nichts Neues.
19.10 Uhr
Noch keine gesicherten Informationen über die vielen widersprüchlichen Meldungen über einen angeblichen Rücktritt von Diktator Husni Mubarak als Chef der Staatspartei NDP. Zumindest die alte Führungsriege, darunter Mubaraks Sohn Gamal, ist entmachtet worden. (wir berichteten 16.25 Uhr)
Informationsindustrie und internationale Staatsmedien sprechen zwar einer Implosion des Mubarak-Regimes. Fest steht aber: der Diktator ist noch im Amt.
19.30 Uhr
Die Strategie der US-Regierung unter Barack Obama und Hillary Clinton outet sich: ihr Sonderbeauftragter Frank Wisner verlautbart, Diktator müsse an der Macht bleiben – um die Abgabe seiner Macht zu sichern. Zitat Wisner:
„Wir brauchen einen nationalen Konsens über die Vorbedingungen für den nächsten Schritt vorwärts. Der Präsident muss im Amt bleiben um diese Änderungen zu lenken.“
Anmerkung: Die US-Regierung hat Angst vor einem „perfekten Sturm“. Nun wird sie den perfekten Preis bezahlen.
Zu dem Schurken Wisner, dessen Diplomatenfahrzeuge aus der US-Botschaft (selbstverständlich gestohlen) Dutzende von Ägyptern auf ihren Straßen über den Haufen fahren, lässt sich nur sagen: es liegt nicht alles im Blut. Aber manches in der Familie. Schön, wenn man immer gemacht hat, was Daddy einem gesagt hat, was?
Franky ist übrigens mit der ex-Schwiegermutter von Nicolas Sarkozy verheiratet. Man kennt sich da oben, in der feinen Gesellschaft.
20.25 Uhr
Zehntausende demonstrieren in Alexandria für den sofortigen Rücktritt des Diktators.
Inzwischen wird in Jordanien offen über eine bewusste Sabotage des Mubarak-Regimes in der Gas-Anlage bei El-Arish gesprochen. Die Mubarak-Behörden änderten mittlerweile ihre Darstellung: das Feuer sei nicht durch eine Explosion, sondern ein „Gas-Leck“ entstanden.
20.38 Uhr
Ein Bild von sonst kleinen Problemen, deren Lösung in Ägypten aber derzeit im Zweifel über vieles entscheiden kann: Aktivisten sind auf dem Tahrir Platz um einen Mehrfach-Steckdose versammelt, um ihre Mobiltelefone aufladen zu können.
Nach Gerüchten über eine mögliche Räumung des Tahrir Platzes durch die Armee sind weitere Tausende auf den Platz der Befreiung geströmt.
Inzwischen hat die Staatspartei gegenüber Reporter Adam Makary bestätigt: Diktator Mubarak bleibt auch als Chef der NDP im Amt.
20.45 Uhr
Artikel in „Forces“ über das Treffen der „Oppositionsparteien“, der „National Association for Change“, mit der Regierung des Diktators:
Laut Abdel-Rahman Youssef fand das Treffen am Freitag Abend statt, also direkt nach dem zum zweiten Mal abgewürgten Marsch auf den Palast des Diktators.
21.05 Uhr
Neuigkeiten: Ein leitendes Mitglied der US-Regierung unter Barack Obama und Hillary Clinton anonym zu „Reuters“: Frank Wisner spricht nur für sich selbst, aber nicht für die Regierung. Zitat:
„Frank Wisner sprach als eine Privatperson..Analyst..nicht als ein Repräsentant der US-Regierung“
Frank Wisner war vor dem für Dienstag (1.Februar) angekündigten „Marsch der Millionen“ auf Mubaraks Palast am Montag Abend in Kairo eingetroffen. Am Dienstag, als der Marsch zum ersten Mal abgewürgt wurde und tags darauf die mörderischen Angriffe gegen die Demokratiebewegung auf dem Tahrir-Platz begannen, traf sich Wisner mit Mohammed El Baradei.
Wisner ist inzwischen wieder in Washington.
22.22 Uhr
Analyse: Es ist spät, ich weiss. Aber es ist an der Zeit für ein kleines Essay.
Wie wir nun vielleicht alle verstanden haben, ist die Definiton der Aufgabe von „Politikern“: ich tu einen Dreck und kann davon leben. Die Definiton der Aufgaben von „Medien“ ist: ich erzähle Dreck und kann davon leben.
Nun ist auffällig, dass in den letzten Stunden weder Dreck gesagt, noch gemacht wurde – jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Nun stellt sich die Frage: wo sind denn die ganzen Schurken? Und was machen die?
In Kairo hocken die US-Problemlöser, die immer mal wieder chinesisch dreingucken, mit den Verbrechern der Mubarak-Diktatur zusammen und suchen irgendeinen Doofen, der sonst noch mit ihnen reden will.
Natürlich soll der Diktator im Amt bleiben. Hat er gesagt, der Franky. Wisner. Hat sie auch gesagt, die Hillary. Hat er, Franky, aber nicht für Washington, aber aus Washington gesagt. Nach München. Wo die Hillary ist.
Alles klar soweit? Gut.
Sitzen die da also in Kairo und suchen die „Opposition“. Anstatt sich irgendeine Schaufel zu suchen und mal im Keller Mubaraks und Suleimans nach einer 30 Jahre alten Sammlung von Leichen zu buddeln, sitzen sie da und suchen sich einfach irgendwelche Schlipsträger, die „hier, hier“ rufen. Das langt natürlich irgendwie nicht. Oops, da haben wir ja doch noch etwas Dreck gefunden – und dann noch aus der Stadt der Engel:
„Die entscheidenden Spieler sind immer noch nicht aufgetaucht. Aber sie müssen die Bereitschaft der Regierung testen enscheidenden Wandel zu machen…Die Beweislast ist bei der Opposition.“
Verstehen Sie. So redet man als „Diplomat“ der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn man gerade von irgendwelchen Nobodys plattgemacht wird, um die sich noch vor Wochen kein Leistungsträger geschert hat.
Tja. Die Welt ist doch nicht mehr was sie war, nich´. Wo ist nur die schöne alte Neue Weltordnung hin.
22.42 Uhr
Bestätigt (welch Überraschung): Teile der „Oppositionsparteien“ verhandeln entgegen aller Versprechen mit der Mubarak-Diktatur, namentlich seinem Stellvertreter Omar Suleiman. Wie oben berichtet, fehlen leider die „entscheidenden Spieler“.
Guter Rat: anderes Spielfeld suchen.
23.00 Uhr
Zu den vom Mubarak-Regime, mit dem zur Zeit „Oppositionelle“ verhandeln, Verschleppten gehört auch ein Angestellter von Google, Wael Ghonim, der zu einer Konferenz in Kairo war. Seit Donnerstag dem 27. Januar in der Nacht nach Los Angeles Zeit (bzw Freitag Morgen Kairoer Zeit) ist der Kontakt zu ihm abgebrochen.
Nun ist ein Video seiner Festnahme durch die Staatssicherheit Omar Suleimans aufgetaucht. Nur falls das irgendwelche „Diplomaten“ kümmert, die derzeit nach der Opposition bzw der Schaufel suchen.
24.00 Uhr
Mitternacht. Es ist still auf dem Tahrir Platz, auf dem das Auge der Welt ruht.
Die Nacht ist am Tiefsten. Der neue Tag ist am Nächsten.