Reich und Reaktionär: Die Affäre der Sarrazin-Partei SPD und die Berliner Landtagswahl am 18.September
In einer von langer Hand geplanten Intrige schlägt die SPD-Parteiführung das Ausschlussverfahren gegen ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin nieder. Vor den Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 18.September kann man nun einen erbitterten Wahlkampf erwarten. Berlin oder die SPD – nur einer von beiden kann gewinnen.
Die SPD, vielleicht (noch) nicht hinsichtlich des machtpolitischen Status, aber inhaltlich und strukturell bereits auf den Status einer reaktionären Sekte geschrumpft, lässt in einer seit Wochen von der Führung der Bundes- und Landespartei in Berlin vorbereiteten Intrige alle Ausschlussverfahren gegen den ex-Finanzsenator der Berliner Koalition aus SPD und „Die Linke“ Thilo Sarrazin fallen. Drahzieher dabei, so ist sogar in der rechten Berliner Presse zu lesen: der Berliner SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit.
„Froh“ über den gelungenen Ablauf des angetäuschten Ausschlussverfahrens: SPD-GröKaZ (Größter Kanzlerkandidat aller Zeiten) Frank-Walter Steinmeier, dem die bereits damals längst als passive Statistentruppe fungierende Partei mitsamt ihren Bundestagsabgeordneten gestattete, sich noch am Abend der desaströsen Bundestagswahl am 27.September 2009 selbst zum künftigen SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag auszurufen. Widerspruch aus der SPD kam nur von Wenigen. (Hermann Scheer kritisiert “fast putschistische” Rochade der alten SPD-Regierungslobby, 6.Oktober 2009)
Die ganze Tragweite der menschenfeindlichen Äußerungen des Finanzsenators von SPD und „Die Linke“ in Berlin und späteren Bundesbankers gegen Rentner, Arme, Erwerbslose, Minderheiten und einfach jeden ohne Geld und Macht, soll sich jeder aus Sarrazins Wikipedia-Eintrag zusammen lesen.
Relevant ist für die aktiven Teilnehmer der Öffentlichen Meinung, die in der üblichen Betrugsmaschinerie der kommerziellen Politik nicht geübt sind, zu begreifen, was da eigentlich passiert ist.
GRUNDLAGEN
Aufgrund der Erfahrungen des Faschismus, der durch einen manipulierten Parlamentsbeschluss (Ermächtigungsgesetz) nach den ersten fragilen 15 Jahren parlamentarischer Demokratie in der Geschichte der Deutschen die unbegrenzte Macht für eine Regierung mit Zustimmung der bürgerlichen Parteien an sich riss, begrenzte das Grundgesetz den Zugriff des Staates auf die Parteien als (ursprünglich) Instrumente legislativer, also gestaltender Politik, ließ ihnen viel Spielraum, aber band sie verpflichtend an die eigenen Verfassungsordnung. Artikel 21 schreibt den Parteien vor:
„Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen.“
Wie wir alle wissen, wird kein Artikel unserer Verfassung täglich mehr mit Funktionärs-Füßen getreten als dieser. In den Parteien wird nicht gewählt, sondern ernannt. Gemacht wird, was die Führung will. Es zählt, wer die ausführende (exekutive) Macht innehat. Der Rest wird durch die Funktionäre einfach ignoriert oder aktiv bekämpft, wie Parteitagsbeschlüsse, Basis-Initiativen, etc, pp. Keine der Staatsparteien CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP oder Die Linke, haben eine innere Ordnung die demokratischen Grundsätzen entspricht – weil sie es nicht müssen. Es gibt keine Sanktionsform gegen Parteien mit undemokratischer Struktur, außer den ausbleibenden Wahlerfolg oder das Verbot. Zu Ersterem können sich die der Macht der Gewohnheit verfallenen Wähler meist nicht durchringen und Letzteres wiederum kann (mit gutem Grund) nur das Bundesverfassungsgericht.
Hier ergibt sich der entscheidende Faktor, die entscheidende Bruchstelle jeder parlamentarischen Demokratie und Verfassungsordnung: wenn sich niemand oder nur noch eine Minderheit daran hält und sie entsprechend einklagt und durchsetzt, bricht sie zusammen.
BERLINER REALITÄTEN
Nach dem einfachen Parteiengesetz, was keineswegs im Grundgesetz detailliert umschrieben ist, sondern durch die Staatsparteien in 62 Jahren (westdeutscher) Kontinuität nach eigenem Belieben genormt wurde, kann jedes Mitglied oder Organ einer Partei gegen ein (anderes) Mitglied seiner Partei ein „Parteiordnungsverfahren“, bzw Ausschlussverfahren beantragen. Die Entscheidung darüber liegt in den Händen eines „Parteigerichts“, einer Schiedskommission bzw eines Schiedsgerichts.
Zuständig ist die erste Ebene, in der Kläger und Beklagter Mitglied sind. Kommen beide z.B. aus dem gleichen Bezirksverband, ist dort das Schiedsgericht zuständig. Dann wird, z.B. im Falle eines Widerspruchs, auf Landesebene der Partei und letztendlich durch eine Bundesschiedskommission entschieden. Das kann sich hinziehen, besonders wenn, wie es bei allen Staatsparteien der Fall ist, die Führungen immer penibel darauf achten Parteigerichte / Schiedskommissionen mit ihren Leuten zu besetzen.
Während das Verfahren innerhalb der Partei läuft, bis zur letzen Instanz, dürfen reguläre Gerichte nicht eingreifen. Das hat ebenfalls durchaus gute Gründe. So ist der staatliche Zugriff auf die innere Ordnung der Parteien stark eingeschränkt. Da die Staatsparteien aber keine innere demokratische Ordnung (das Wort „Grundsätze“ wird durch das von den Staatsparteien besetzte Bundesverfassungsgericht entsprechend willkürlich ausgelegt) mehr besitzen, beginnt eine verhängnisvolle rechtliche und politische Kettenreaktion.
Praktisch ergibt sich so folgendes Bild: Jedes der Parteiführung missliebige Mitglied kann sich gegen Verleumdungen, Beleidigungen und Behauptungen nicht vor ordentlichen Gerichten verteidigen, solange das Parteiverfahren läuft. Das kann sich über Jahre hinziehen, bis die jeweilige Person in der eigenen Partei so diskreditiert ist, dass sie über keinerlei Einflussmöglichkeit mehr verfügt und meist selbst das Handtuch wirft.
Jedes der Parteiführung nahestehende Mitglied aber kann machen was es will. Parteisatzung, Grundsätze, Werte, oder gar Ethik sind dabei irrelevant. Das ist die Realität.
Auch verzichtet jede Staatspartei tunlichst darauf, in den eigenen Satzungen ihren Schiedsgerichten zwingende Entscheidungsfristen zu setzen. So kann jedes Verfahren jahrelang verschleppt und jeder Satzungsbruch erst einmal auf längeren Zeitraum gedeckt und weiter praktiziert werden. Allein dieser Umstand verdeutlicht, was die Parteisatzungen der Staatsparteien wert sind, nämlich nichts.
DIE LETZTE BERLINER ABGEORDNETENHAUSWAHL: 13.8 % „SONSTIGE“, BEI 58 % WAHLBETEILIGUNG
Ein Beispiel: als die „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) – mit deren Hilfe die in „Linkspartei“ umbenannte PDS 2005 wieder in den Bundestag eingezog – auf ihrem Bundesparteitag am 3.Juli 2005 beschloss, ab dem 1.1.2006 keine „Doppelmitgliedschaft“ von PDS-Mitgliedern in der WASG mehr zuzulassen, traten noch im Dezember 2005 demonstrativ massenweise PDS-Mitglieder in die WASG ein, speziell in die WASG Berlin. Erklärtes Ziel der PDS-Linkspartei-Mitglieder war es, einen Antritt der WASG Berlin zur Berliner Landtagswahl im September 2006 gegen den Senat von Klaus Wowereit mit seinem Finanzsenator Thilo Sarrazin und den Regierungsparteien SPD und PDS-Linkspartei zu verhindern.
Nach dem 1.Januar 2006 war nun die Mitgliedschaft der zuvor eingesickerten PDS-„Doppelmitglieder“ in der WASG illegal – aber nur nach Parteirecht. D.h., jedes PDS-Mitglied musste vor Partei-Schiedsgerichten der WASG in einzelnen Verfahren rausgeklagt werden. Ordentliche Gerichte durften nicht angerufen werden, obwohl die innere Ordnung der Partei WASG systematisch durch Mitglieder einer anderen Partei gebrochen und sabotiert wurde.
Am 1.Januar 2006 um elf Uhr morgens lag der Antrag auf Parteiausschluss gegen das frische WASG Berlin-Mitglied Gregor Gysi vor. Kläger war ein gewisser Daniel Neun. Das bin ich. Sie verstehen das.
Keine langen Reden: das vom trotzkistisch dominierten Landesvorstand maßgeblich beeinflusste Landesschiedsgericht der WASG Berlin tat damals genau das, was alle anderen WASG-Schiedsgerichte taten, nämlich nichts. Alle PDS-Doppelmitglieder blieben stimmberichtigte Mitglieder der WASG, jedes einzelne, entgegen der Parteisatzung.
Knapp fünf Monate später tagte dann am 29.April 2006 der WASG-Bundesparteitag, mit vielen illegalen PDS-Mitgliedern als WASG-Delegierten, und beschloss mit deren Stimmen und knapper Mehrheit den Anschluss der WASG an die PDS-Linkspartei. So entstand „Die Linke“.
Auf dem gleichen WASG-Bundesparteitag unter Bundesvorstand unter Klaus Ernst – ja, dem Klaus Ernst – wurde mit den Stimmen der PDS-Doppelmitglieder ebenfalls in knapper Mehrheit beschlossen, den Landesvorstand der WASG Berlin seines Amtes zu entheben und uns den zwangsverwaltenden Politkommissar Hüseyin Aydin vor die Nase zu setzen. Erst vor dem (regulären) Berliner Landesgericht bekamen wir damals Recht und konnten anschliessend zur letzten Berliner Abgeordnetenhauswahl am 17. September 2006 gegen den Senat von Wowereit und Sarrazin antreten, wo wir, nur mit Spenden finanziert, gegen den eigenen Bundesvorstand, gegen die PDS-Linkspartei und gegen die auf unserem Buckel in den Bundestag gezogene Linksfraktion, in der Hauptstadt immerhin 2.9 Prozent der Stimmen holten.
In 2007 schließlich wurde die WASG Berlin gerichtlich für aufgelöst erklärt. Alle Parteimitglieder, die nicht vorher explizit aus der eigenen Partei WASG austraten, wurden automatisch und ohne eigenen Willen Mitglied der „neuen“ Partei „Die Linke“. Jeder Jurist, der diese Geschichte zum ersten Mal hört, lacht zunächst meist laut, um dann ganz schnell bleich und stumm zu werden, wenn er die ganze Tragweite einer möglichen Anfechtung dieses in der deutschen Geschichte nicht einmaligen politischen Prozesses bewusst wird.
Ich für meinen Teil zog es vor, meinen „Austritt“ vor dem Zwangseintritt in „Die Linke“ öffentlich und deutlich zu machen. (13.Juni 2007, Daniel Neun: Mein (Aus)Trittschreiben für die „Neue Linke“ / Linkspartei)
Bis heute ist die damalige geplant und organisiert vollzogene Vernichtung einer eigenständigen linken und demokratischen Partei als Konkurrenz zu den Berliner Regierungsparteien SPD und „Die Linke“ ein Tabuthema. Wer die Geschichte der WASG kennt, muss sich entweder lebenslang schämen, läuft rot an, schweigt und dreht sich weg, oder hat soviel politische Arbeit anstatt der und gegen die hochbezahlten Verrätermaschinen SPD und Linkspartei zu erledigen, dass er meist keine Zeit hat sie zu erzählen.
Das politische Establishment der Republik weiss nur zu gut, was hier in der Hauptstadt brodelt und auf sie wartet. Selbst im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag ist den üblichen dienstbaren Schreiberlinge das Ergebnis der letzten Abgeordnetenhauswahl in 2006 so peinlich, dass 13.8 % „Sonstige“ – bei 58 % Wahlbeteiligung – nicht einmal einzeln aufgeführt werden.
In Berlin gab und gibt es jede Menge Potential für ganz normale soziale, demokratische, im ursprünglichen Sinne „linke“ und fortschrittliche Politik. Ob diese nun durch eine bereits seit Jahrzehnten existierende Staatspartei oder durch eine neue Partei mit demokratischer innerer Ordnung ausgeübt wird, spielt für die Nomenklatura, das Establishment, die Oberschicht, keine Rolle. In jedem Fall versuchen die privilegierten Schichten mit allen Mitteln die Einschränkung ihrer Macht und Profite durch demokratische Wahlen zu verhindern und sei es auch um den Preis der Selbstzerstörung der von ihnen beherrschten und kontrollierten Staatsparteien, wie etwa der SPD.
TAKTIKWECHSEL: VON DER SOZIALEN ZUR ETHNISCHEN HETZE
Gegen den kurz zuvor vom Amte des „rot-roten“ Finanzsenators zur Bundesbank gewechselten Thilo Sarrazin wurde in der SPD das erste Mal im September 2009 ein Antrag auf Parteiausschluss eingeleitet. Vorher hatte das SPD-Mitglied Sarrazin geäußert, dass Berliner ohne Geld „auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben“, sich für 3,76 Euro täglich „völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren“ könnten, die Renten „langfristig real fallen“ müssten und dafür gesorgt werden solle, dass „nur diejenigen Kinder bekommen, die damit fertig werden“. (Warm anziehen, Thilo. 28.September 2009)
Im Nachhinein muss jedem auffallen, dass das plumpe Geschwafel dieses Reaktionärs sich gegen alle in Berlin richtete, deren Einkommensquelle nicht die Selbstvermehrung von Besitz, sondern irgendeine Art der Tätigkeit ist. Die ausschließliche gezielte Hetze gegen ethnische Minderheiten und nicht mehr allgemein sozial Benachteiligte und Erwerbslose begann erst nach der desaströsen Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl im September 2009, die Sarrazins verheerenden Aussagen gefolgt war. Wer also meint, Sarrazin habe „in Treue fest“ immer Linie für die unterdrückten ethnischen Eingeborenen und ihre blitzsauberen und blitzgescheiten Blitzkrieger gehalten, hat von Politik schlicht keine Ahnung. Sarrazin und die SPD-Führung agierten, wie immer, aus kaltem Kalkül heraus. Gehetzt wurde mit dem Ziel, die eigene Partei und die von Resten der SPD vertretenen sozialen und demokratische Werte zu zerstören. Und das gelang auch, allerdings.
Aber das friedliche Zusammenleben der Völker zu gefährden, Spannungen zu schüren und für die Machenschaften der Reaktion zu nutzen, das scheiterte auf ganzer Linie.
DIE PARTEI, DIE PARTEI DIE HAT NIEMALS RECHT
Das erste Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin wurde im September 2009 vom Kreisverband SPD Spandau und dem Ortsverband SPD Alt-Pankow beantragt. Da Sarrazin Mitglied eines anderen SPD-Kreisverbandes war und ist, nämlich Mitglied der Charlottenburg-Wilmersdorf im Stadtteil Neu-Westend, mussten die SPD-Kläger ihren Antrag vor dem Parteigericht auf Landesebene, bei der Landesschiedskommission einreichen.
Ein halbes Jahr liess man sich dort Zeit. Dann lehnte die Landesschiedskommission der SPD Berlin den Ausschluss Sarrazins ab. Parteischädigendes Verhalten, so das Landesschiedsgericht, sei nicht zu erkennen. Vielmehr seien Sarrazins Äußerungen für die offiziell immer noch sozialdemokratische Partei SPD zwar „sicherlich problematisch, doch sie können zugleich auch nützlich sein, indem sie die Diskussion voranbringen.“ Die „Volkspartei SPD“, so die Berliner Landesschiedskommission müsse solche „provokanten Äußerungen aushalten“. (1)
Dem politischen Beobachter erschließt sich nun, warum dieser Witz erst im März 2010 über die Bühne ging. Am 27.September 2009, den letzten Auswürfen des reaktionären SPD-Bundesbankers Sarrafin folgend, hatte die „Volkspartei SPD“ bei der Bundestagswahl 11.3 Prozent verloren und war auf 23 Prozent abgestürzt. Also ließ man einfach, entsprechend der üblichen Gepflogenheiten, Zeit ins Land gehen.
DIE SPD SCHAFFT SICH AB
Bald danach veröffentliche das Autoren-Genie Sarrazin seine Doktorarbeit „Deutschland schafft sich ab“, die in den zurückliegenden Monaten in aller Ruhe geschrieben worden war. Der ganze irrationale Unfug über die neu entdeckte, uralte Rassentheorie der kirchlichen Gene (mutmasslich fünf Minuten nach der Konvertierung) und die vermeintlich fahrlässige Dummheit der falschen Elternwahl von eingeborenen „Ausländern“ dürfte bekannt sein.
Doch wieder versagte die Intrige. Weder nützte die (mit Billigung der SPD-Parteiführung) durch die willige Informationsindustrie hinaus geblasene reaktionäre Unlogik der SPD Parteizentrale bei der Umerziehung ihrer Mitglieder, noch klappte Plan B, der deutschen Öffentlichkeit in Zeiten der Plünderung des Gemeinwohls durch Sarrazins Bundesbank und die Geschäftsbanken einen Prügelknaben feilzubieten, noch funktionierte Plan C, das Umlenken und Assimilieren gesellschaftlichen Unruhepotentials in eine neue reaktionäre Rechtspartei nach EU-weitem Vorbild. Stattdessen fielen nach Sarrazins neuen reaktionäre Tiraden die Umfragewerte der SPD auf Bundesebene innerhalb von Wochen um drei Prozentpunkte auf 25 Prozent. (Neokonservative in der SPD halten fest an Senkblei Sarrazin, 8.September 2010)
In der SPD-Führung unternahm man nun folgendes: man stellte als SPD-Bundesvorstand selbst den Antrag auf Ausschluss Sarrazins. Der Beschluss erfolgte einstimmig. Dann fasste man drei weitere Anträge zum Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin zu einem Paket zusammen und ließ das Verfahren in Sarrazins Kreisverband eröffnen, in Charlottenburg-Wilmersdorf.
Vor der Schiedskommission des kleinen Berliner Kreisverbandes lagen ab September 2010 nun vier Anträge auf Ausschluss gegen Thilo Sarrazin: einer vom Budnesvorstand, einer vom Landesverband der SPD Berlin, ein Antrag aus einem Kreisverband in Frankfurt am Main, sowie ein Antrag des Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf selbst.
Und wieder verging, genau wie beim ersten Verfahren, ein halbes Jahr.
Am Donnerstag geschah nun folgendes: die Schiedskommission der SPD Charlottenburg-Wilmersdorf stellte das Verfahren gegen Sarrazin ein. Sarrazin habe in einer Erklärung erklärt, dass er alles nicht gemeint habe, wie er es geschrieben habe. Kreisvorsitzende Sybille Uken gab bekannt, alle vier Anträge – des Bundesvorstandes, des Berliner landesverbandes, der des Frankfurter Kreisverbandes und der ihres eigenen Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf – seien zurückgezogen worden. (2)
Frank-Walter Steinmeier tags darauf am Freitag in der Berliner „Bild“-Zeitung (4):
„Frage: Ist der Fall damit nun endgültig ausgestanden? Freuen Sie sich, dass er bleibt?
Steinmeier: Sarrazin hat in seiner Erklärung Fehler eingeräumt. So lese ich sie. Und nun ist es an ihm, durch sein Auftreten zu beweisen, dass er in der SPD noch zu Hause ist. Ich bin jedenfalls froh, dass der SPD ein jahrelanges Verfahren durch alle Instanzen erspart bleibt.“
Osterpause. Tschüss.
DIE POLITIK DER SPD-FÜHRUNG: ZEIT SCHINDEN, NIEDERSCHLAGEN, RAUSREDEN
Die „Bild“-Zeitung, als penetrante Sarrazin-Fans immer auf der Suche nach einem gefährlichen eingewanderten Gebärmaschinen-Ufo, schrieb nun gestern zur Sarrazin-Affäre, die Niederschlagung des Verfahrens sei durch führende Parteifunktionäre „sehr diskret über Wochen vorbereitet worden“ (4). Das Boulevard-Blatt nannte als treibende Akteure SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und den Berliner SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit.
So weit, so stimmig. Die kolpotierte Rechtfertigung der SPD-Zentrale war allerdings genauso unlogisch wie Sarrazins Thesen oder die Ausreden Steinmeiers..
„Ihr Ziel: Sie wollten auf jeden Fall verhindern, dass das Parteiausschlussverfahren den laufenden Landtagswahlkampf in Berlin überschattet. Dort geht es im September für die Gesamtpartei um ihre Zukunft. In Berlin droht der SPD die Schmach, ein zweites Mal nach Baden-Württemberg hinter die Grünen zu fallen. In Umfragen liegen die Grünen mit Wowereit-Herausforderin Renate Künast derzeit vorn. Ein Parteistratege: „Wir müssen alle Kraft in Berlin stecken. Geht die Wahl dort schief, wird es dauerhaft eng für die SPD.“
Das Verfahren gegen Sarrazin war durch Betreiben des SPD-Bundesvorstandes im September 2010 eingeleitet worden, offensichtlich mit dem Ziel, anderen Anträgen zuvor zu kommen, bzw diese einzubinden und abzuwürgen. Nun schlug man ein halbes Jahr später alle vier Anträge in Absprache mit Antragsstellern nieder und versucht der Öffentlichkeit das Osterei in die Hand zu legen, dass sei wegen einem laufenden Wahlkampf für eine Landtagswahl im September 2011 geschehen, quasi um die Partei vor sich selbst zu schützen. Wer so etwas glaubt, wird dafür bezahlt oder ist schon immer in der SPD gewesen und hat mit dem Stallgeruch auch das Zwiedenken mit der Parteimuttermilch gesoffen.
Auch die beachtliche Zahl der reichen und reaktionären Unterstützer des reichen und reaktionären Sarrazins aus der reichen und reaktionären Parteiprominenz zeigt deutlich: ein Ausschluss Sarrazins aus der „sozialdemokratischen“ SPD war nie geplant. Immer ging es nur darum Zeit zu gewinnen und die seit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders ab 1998 eingeschlagene Linie zu halten. Ein anderes Beispiel für die gleiche Verschleppungstaktik und Seilschaften innerhalb der SPD-Führung ist Schröders ex-Wirtschaftsminister, ex-NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement. Der wurde nach einem Wahlaufruf gegen die SPD Hessen in der SPD NRW auf Kreisebene in einem Schiedsgerichtsverfahren gerügt, dann auf Landesebene ausgeschlossen und dann auf Bundesebene wieder freigesprochen. Anschließend trat er dann selbst aus und der gedemütigten SPD unter Hohngelächter hinterher.
BERLIN ODER DIE SPD – NUR EINER VON BEIDEN KANN GEWINNEN
Die SPD Berlin hat in der neuesten Umfrage, im Vergleich zur letzten Erhebung der betreffenden Firma, innerhalb von drei Wochen 5 Prozent verloren und liegt derzeit bei 27 %. Erhoben wurde die gestern veröffentlichte Umfrage zwischen dem 8. und 14. April, also vor dem Bekanntwerden des Verbleibs der SPD als Sarrazin-Partei. In einer heute veröffentlichten Umfrage auf Bundesebene kommt die SPD auf 25 Prozent und klettert damit um zwei Prozentpunkte. Auch diese Umfrage wurde vor dem Bekanntwerden der Niederschlagung aller Partei-Verfahren gegen Thilo Sarrazin erhoben.
Die SPD-Führung wird nun gespannt sein, ob ihre Partei nun tatsächlich von dem Status einer Sarrazin-Partei profitiert und in den nächsten Umfragen zulegen wird. Aber viel wichtiger ist den zynischen Leitern der SPD-Herde, der bisherigen Doktrin zur Vernichtung sozialer und demokratischer Politik weiter zu gehorchen – koste es was es wolle, auch die eigene Partei.
Zu den Berliner Landtagswahlen am 18.September kann man jedenfalls einen erbitterten Kampf erwarten. Berlin oder die SPD – nur einer von beiden kann gewinnen.
Quellen:
(1) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,683704,00.html
(2) http://www.focus.de/politik/deutschland/spd-kein-parteiausschluss-von-sarrazin-_aid_620729.html
(3) http://www.bild.de/politik/inland/dr-frank-walter-steinmeier/freuen-sie-sich-dass-sarrazin-bleibt-17554628.bild.html
(4) http://www.bild.de/politik/inland/thilo-sarrazin/zog-wowereit-die-strippen-beim-spd-deal-17564350.bild.html