CIA: Staatsaffäre erschüttert Schweiz

Der Bundesrat versucht über “Notrecht” die brisanten “Tinner-Akten” bezüglich einer Verwicklung in internationalen Atomschmuggel zu vernichten. Parlament und Justiz wehren sich und verlangen Aufklärung.

Die Schweiz erlebt zur Zeit eine Staatsaffäre, wie sie die Eidgenossenschaft seit ihrer neuen Verfassung von 1999 nicht erlebt hat.

Zuerst ist es wichtig, für Aussenstehende die politische Struktur der Schweizer Republik ein wenig zu beleuchten.
In der Schweiz gibt es keinen Kanzler, “Regierungschef” oder Staatsoberhaupt.
Die Schweizer Regierung bildet der aus 7 gleichrangigen Vertretern zusammengesetzte Bundesrat, dessen Mitglieder nach der Wahl der Parlamentskammer Nationalrat für 4 Jahre in der Vereinigten Bundesversammlung gewählt wird. Einer dieser 7 Vertreter wird zum Bundespräsidenten gewählt, dessen Votum bei Stimmengleichheit im Bundesrat den Ausschlag gibt. Ansonsten hat der Schweizer Bundespräsident keinerlei Regierungsvollmachten.

Die Tinner-Affäre

Am 23.Mai 2008 hatte der Schweizer Bundespräsident, Pascal Couchepin, vor der Presse bestätigt, dass die nach einem im Oktober 2004 eröffneten Ermittlungsverfahren festgenommenen CIA-Agenten Friedrich Tinner, sowie seine beiden Söhne Marco und Urs, als Teil eines weltweiten Atomschmuggler-Netzwerkes des pakistanischen “Vaters der Atombombe” A.Q.Khan operierten. Bei ihnen wurden nach offizieller Darstellung u.a. detaillierte Pläne zum Bau von Atomwaffen und Gaszentrifugen zur Anreicherung von waffenfähigem Uran gefunden.
Die Unterlagen über die Tinners seien, so Couchepin, zusammen mit weiteren 100 Bundesordnern voll Beweisen und Belegen auf Antrag des damaligen Justiz- und Polizeiministers Christoph Blocher im November 2007 durch die Schweizer Regierung vernichtet worden Radio Utopie berichtete, 1 .

Allerdings: laut der Enthüllungs-Story der Schweizer “Blick”-Zeitung vom 7.Februar 2008, welche die die Affäre ins Rollen brachte, waren die Unterlagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht beseitigt. 2

Der Entscheid zur Aktenvernichtung vom November 2007 sei gefällt worden, so Couchepin am 23.Mai 2008, um zu verhindern, dass die Informationen in den sichergestellten Dokumenten und Datenträgern “in die Hände einer terroristischen Organisation oder eines unberechtigten Staates” gelangen könnten. Diese Begründung mutete einigermassen seltsam an.

Denn laut der Enthüllungs-Story des “Blick” besassen die CIA-Agenten der Tinner-Familie “Protokolle, Pläne, Zeichnungen”, welche vorher ohne irgendeine Gegenmassnahme der Schweizer Geheimdienste nach Libyen geliefert worden waren. Im Jahre 2003 hatte dann der libysche Machthaber Gaddafi der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA Pläne eines Atomsprengkopfes übergeben, welche ihm vorher mit Hilfe des international agierenden Khan-Netzwerkes geliefert worden waren, ebenso angereichertes, atomwaffentaugliches Uran.

Involviert waren waren “Geschäftsleute” aus Malaysien, Südafrika, Grossbritannien, Deutschland und der Schweiz, u.a. der in Deutschland geborene Schweizer Ingenieur Gotthard Lerch, ehemals leitender Angestellter der Firma “Heraeus-Leybold” in Hanau am Main.

Laut Aussage des Mannheimer Staatsanwaltes Peter Lintz gegenüber der Presse im April 2004 hatten Lerch, der Schweizer Urs Tinner, der Brite Peter Griffin, sowie der in Malaysien ansässige Finanzchef A.Q.Khans, Buhary Seyed Abu Tahir, bei der Erstellung einer kompletten Atomanlage in Libyen zusammengearbeitet. Sie hätten die Produktionsstätten nach Südafrika, Malaysien, die Türkei und die Schweiz ausgelagert, so Staatsanwalt Lintz.

Der 2004 in Malaysien festgenommene Finanzchef Khans, Buhary Syed Seyed Abu Tahir, hatte nach seiner Festnahme nicht nur die Lieferung von atomwaffentauglichem Uran an Gaddafi bestätigt, sondern auch die Lieferung von Material zur Herstellung von Atomwaffen in den Iran. Bereits 1994/1995 sei er genau dahingehend beauftragt worden. Ein “ungenannter” Iraner habe 3 Millionen Dollar in bar in zwei Briefumschlägen für 2 Container mit Zentrifugen zur Urananreicherung gebracht, die in einem Appartment in Dubai aufbewahrt worden seien, welches bei konspirativen Treffen regelmässig als “Gästehaus” für den pakistanischen Atomexperten gedient habe.
Sehr wahrscheinlich, dass es sich bei diesem Gästehaus um die Residenz des Briten Peter Griffin handelte, der ebenfalls mit diversen Geheimdienstkontakten für das Khan-Netzwerk arbeitete.

Die malaysische Polizei gab 2004 überdies bekannt, dass Khans Finanzexperte Tahir die in den Iran gelieferten Zentrifugen von der Firma Scope erhalten habe, welche u.a. von Kamaluddin Abdullah, dem Sohn des malaysischen Ministerpräsidenten kontrolliert wurde.

Auf einem unter deutscher Flagge fahrenden Containerschiff ‘BBC China’, was 2003 auf dem Weg nach Libyen gestoppt wurde, hatte man ebenfalls Gaszentrifugen zur Urananreicherung malaysischer Herkunft gefunden. Danach war dann 2004 Tahir in Malaysien verhaftet worden.

Am 5.Juni 2008 überraschte der für gewöhnlich gut informierte deutsche Geheimdienstexperte Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom gegenüber dem Schweizer Magazin “10vor10? 3 mit der Aussage , dass Atombomben-Baupläne von Lerch und den Gebrüder Tinnern nicht nur nach Libyen, sondern auch in den Iran gelangt seien. Doch die Pläne seien von der CIA und anderen westlichen Geheimdiensten manipuliert worden, bevor diese an den Iran weitergereicht wurden.

Wie Radio Utopie bereits berichtete 4 , war bereits im März 2003 in der Presse offen über eine Unterwanderung des Khan-Netzwerkes durch westliche Geheimdienste wie den CIA und den britischen MI6 gesprochen worden.

Der Brite Griffin wurde durch französische Dienste verhört, lebte zumindest bis 2008 in Frankreich und war laut Medienberichten britischer MI6-Agent. Er wurde nie inhaftiert.

Röhren der deutschen Firma Pfeiffer Vakuum wurde in das US-Atomzentrum in Los Alamos geliefert, nicht an Iran oder Libyen. Dort tauchten sie aber anschliessend auf.

Urs Tinner wurde vor März 2006 in Deutschland festgenommen und inhaftiert. Was er aussagte, blieb geheim. Die Akten kam nie beim damals laufenden Prozess gegen Lerch an. Auch Khans Finanzexperte Tahir sagte gegenüber der deutschen Bundesanwaltschaft aus – doch nur mit dem Hinweis, er würde dies nicht vor Gericht wiederholen. Dabei blieb es; weder Tahir, Griffin, einer der Tinner-Familie, noch andere Zeugen wie der Deutsche Gerhard Wisser oder der Schweizer Daniel Geiges sagten im damaligen Prozess gegen Lerch aus.

Im Juli 2006, knapp 2 Monate nach der Stellungnahme von Staatsanwalt Lintz gegenüber der Presse, platzte der damalige Prozess gegen Lerch dann plötzlich, wegen “unerklärlichen” Verhaltens der deutschen Bundesanwaltschaft, so der Richter. Dabei gab es bereits damals Informationen, dass Lerch bereits in den 80ern bei Leybold-Heraeus Pläne für Gerätschaften zur Urananreicherung kopiert und in die Schweiz verkauft haben soll. Offenbar war er damals bereits Spion.

Erkenntnisse des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND fehlten in den Gerichtsakten. Ermittlungsakten gegen Lerch wurden nicht vorgelegt. Insgesamt 13 Mal wurden von der Bundesanwaltschaft widerwillig Akten nachgeliefert und auch nur auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts.
Bundesanwaltschaftssprecher Ullrich Schultheis damals: das sei alles ganz normal. Schliesslich habe man 2005 das gesamte Verfahren und angeblich alle Akten nach Mannheim abgegeben – obwohl man später 13 Mal hatte nachliefern müssen.
Die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts sei damals weggefallen, so der Sprecher Schultheis, weil bei der Auslieferung des Verdächtigen aus der Schweiz der Vorwurf des Landesverrats ausgeklammert worden sei. Teile der Akten seien aber beim Bundeskriminalamt BKA und beim Zollkriminalamt ZKA geblieben.

Letztes Jahr wurde Lerch dann am 16. Oktober 2008 Lerch vom Oberlandesgericht Stuttgart wegen Verstosses gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.

In der Zeitlinie des Plots, zusammengefasst im Schweizer “20 Minuten Radio” 5 , kann man den ab Mitte 2008 ein weiteres Jahr dauernden quälenden Zusammenbruch der Vertuschungsaktionen des Schweizer Bundesrates und seines “Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement” EJPD nachlesen.

Das Justiz- und Polizeiministerium hatte am 1. April 2009 schliesslich damit herausgerückt, dass man “Kopien” der Tinner-Akten besässe, die man eigentlich gar nicht mehr haben dürfe, dies sei alles nur ein Zufall gewesen. Es war wie in Deutschland: die Regierung und ihre Behörden logen dass sich die Balken bogen, und alle anderen sassen dumm rum und jammerten ein bisschen.
Das änderte sich dann – 5 Jahre nachdem Festnahme der Tinner-Familie – vorgestern am 9.Juli des Jahres 2009.

Auf Beschluss des Bundesstrafgerichts in Bellinzona durchsuchte das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt URA mit Unterstützung der Berner Kantonspolizei die Gebäude des Bundeskriminalpolizei und des Schweizer Inlandsgeheimdienst “Bundessicherheitsdienst” und beschlagnahmte einen Tresor mit Schlüsseln zu den Tinner-Akten. 6

Unfassbar: die Tinner-Akten selbst beschlagnahmten die Untersuchungsbehörden nicht, sichteten sie nicht einmal, sondern liessen sie einfach da.

Jetzt spielt sich eine surreale Szene ab: die 7 Mitglieder des Bundesrates wollen das Notrecht erklären, was die Verfassung nur in äussersten Notfällen und während einer Bedrohung der inneren und äusseren Sicherheit des Staates zulässt. Mit Hilfe dieses Notrechtes, was Parlament und Justiz vollständig umgeht, will man nun doch die Tinner-Akten dem Zugriff der Untersuchungsrichter entziehen. Nun ist unklar, wer darüber entscheidet wann und wie das Notrecht aktiviert werden darf.

Wie jede Regierung weltweit verwechselt hier auch der Schweizer Bundesrat eine Bedrohung der Sicherheit des Staates mit der Bedrohung der eigenen politischen Stellung – oder die von guten Freunden. Heute zog der “Blick” 7 einen Zusammenhang mit der UBS-Affäre in den USA und legte nahe, dass die dortige Korruptionsaffäre und eine mögliche Beschlagnahme von UBS-Vermögen in der Schweiz dazu benutzt werden könnte, den Schweizer Bundesrat zu einer Vernichtung der “Tinner-Akten” zu erpresssen.

Die “Tinner-Akten” hat bis jetzt noch nie ein Mensch gesehen. Zuerst hat die Regierung behauptet sie vernichtet zu haben, dann existierten plötzlich, nach jahrelangem Rausgerede, “Kopien” davon. Diese Kopien aber weigert sich die Schweizer Regierung ganz offensichtlich erstens rauszurücken und zweitens einfach physisch zu vernichten. Denn dazu hatte sie jahrelang Gelegenheit.

Das Einzige, was der Schweizer Bundesrat will, ist der offizielle Kniefall von Parlament, Justiz und Staat vor ihrer ehrenwerten Person und das zugestandene Recht Akten zu vernichten und zurückzuhalten wann immer sie will. Denn das ist der einzige Weg für die Schweizer Regierung aus dem ganzen Dilemma raus zu kommen, wenn die “Tinner-Akten” nämlich in Wirklichkeit längst verschwunden, kopiert, an andere Geheimdienste weitergegeben worden, oder die umkämpften Aufbewahrungsstätten der Akten schicht leer sind.

Irgendwann im Jahre 2004 hatten nach Informationen des “Blick” 8 ein halbes Dutzend CIA-Agenten in aller Ruhe die Wohnung eines Mitglieds der Schweizer Tinner-Familie durchsucht. Die CIA kopierten und entwendeten dem Bericht zufolge bei ihrem illegalen Einbruch kistenweise Dokumente und hielten sich stundenlang in der Wohnung auf. Angeblich bekam der Schweizer Bundessicherheitsdienst von der ganzen Aktion nichts mit.

Was auch immer nun in diesen “Tinner-Akten” noch zu finden ist – und sei es gar nichts mehr – Untersuchungsbehörden, Justiz, Parlament und die Schweizer insgesamt müssen jetzt endlich unerbittlich gegen Regierung und Geheimdienste durchziehen und klarstellen, dass die Schweiz immer noch die Schweiz ist, und nicht Deutschland, die EU oder die USA.

Berichte zum Thema:
06.06.2008 Operation Merlin
24.05.2008 CIA-Atomschmuggel-Affäre in der Schweiz: Tinner-Familie besass Baupläne für Atomwaffen

Quellen:
1 http://www.radio-utopie.de/2008/06/06/operation-merlin/
2 http://www.blick.ch/news/schweiz/atom-tinner-82741
3 http://tagesschau.sf.tv/nachrichten/archiv/2008/06/05/schweiz/gingen_manipulierte_bauplaene_an_den_iran
4 http://www.radio-utopie.de/2008/05/24/cia-atomschmuggel-affaere-in-der-schweiz-tinner-familie-besass-bauplaene-fuer-atomwaffen/
5 http://www.20min.ch/news/dossier/atomschmuggel/story/Die-Affaere-Tinner-im-Zeitraffer-14154609
6 http://www.drs.ch/www/de/drs/nachrichten/schweiz/131025.der-streit-um-die-tinner-akten-ist-eskaliert.html
7 http://www.blick.ch/news/schweiz/politik/geht-es-um-die-cia-oder-die-ubs-123386
8 Operation Merlin
24.05.2008 CIA-Atomschmuggel-Affäre in der Schweiz: Tinner-Familie besass Baupläne für Atomwaffen
Quellen:
1 http://www.radio-utopie.de/2008/06/06/operation-merlin/
2 http://www.blick.ch/news/schweiz/atom-tinner-82741
3 http://tagesschau.sf.tv/nachrichten/archiv/2008/06/05/schweiz/gingen_manipulierte_bauplaene_an_den_iran
4 http://www.radio-utopie.de/2008/05/24/cia-atomschmuggel-affaere-in-der-schweiz-tinner-familie-besass-bauplaene-fuer-atomwaffen/
5 http://www.20min.ch/news/dossier/atomschmuggel/story/Die-Affaere-Tinner-im-Zeitraffer-14154609
6 http://www.drs.ch/www/de/drs/nachrichten/schweiz/131025.der-streit-um-die-tinner-akten-ist-eskaliert.html
7 http://www.blick.ch/news/schweiz/politik/geht-es-um-die-cia-oder-die-ubs-123386
8 http://www.blick.ch/news/schweiz/cia-illegale-razzien-in-der-schweiz-91151

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