Der Krieg in Afghanistan eskaliert immer weiter, auch im deutschen Verantwortungsbereich.
Die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße zwischen dem afghanischen Widerstand und westlichen Truppen („Sicherheitsvorfälle“) stieg laut UN-Angaben von 11.500 (2009) auf knapp 20.000 (2010) an und hat sich im ersten Quartal 2011 noch einmal um 50% erhöht.[1] Natürlich sind die westlichen Besatzer daher bestrebt, die eigenen Verluste soweit als möglich zu reduzieren. Ungeachtet aller vollmundigen Bekundungen bedeutet dies jedoch noch lange nicht, dass man bereit wäre, komplett aus dem Land abzuziehen.
Inzwischen wird immer offensichtlicher, dass man gewillt ist, sich weit über das angebliche Abzugsdatum 2014 hinaus dauerhaft im Land einzurichten. Den Großteil der Kampfhandlungen sollen jedoch in Zukunft die afghanische Armee und Polizei schultern, die für diesen Zweck derzeit massiv ausgebaut werden, womit bewusst ein lang andauernder Bürgerkrieg in Kauf genommen wird. Darüber hinaus kursieren im Vorfeld der im Dezember 2011 in Bonn stattfindenden Petersberg-II-Konferenz, auf der die Weichen für die künftige Afghanistan-Politik gestellt werden, nun allerlei Vorschläge, welche Maßnahmen nun zu ergreifen seien: sie reichen von der Überführung des Landes in ein UN-Protektorat bis hin zur seiner Parzellierung.
Nebelkerze Truppenabzug
Gegenwärtig sind etwa 130.000 NATO-Soldaten in Afghanistan stationiert (Stand: 20. Juli 2011), was enorm kostspielig ist. Allein die US-Regierung hat im Jahr 2011 für den Krieg offiziell knapp 120 Mrd. Dollar im Haushalt eingeplant. Deutschland rechnet offiziell mit etwas mehr als 1 Mrd. Euro. Berücksichtigt man jedoch alle relevanten Posten, die bewusst unter den Tisch gefallen lassen werden, summieren sich die jährlichen Kriegskosten Berechnungen des „Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung“ zufolge auf 2,5 bis 3 Mrd. Euro.[2]
In Zeiten extrem knapper Kassen sind das enorme Beträge, weshalb möglichst große Truppenteile tatsächlich sukzessive bis 2014 abgezogen werden sollen. An diesem Datum sollen die Kampfhandlungen, dann allein von der afghanischen Armee und Polizei geschultert werden, so jedenfalls der Plan. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass zu diesem Zeitpunkt sämtliche westlichen Soldaten das Land verlassen werden, das Abzugsgerede dient vor allem dazu, einer zunehmend kriegskritischen westlichen Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen. Inzwischen ist die Katze mehr oder minder aus dem Sack, dass keinerlei Absicht besteht, sich komplett aus dem Land zu verabschieden. So war am 17. Juli 2011 im Tagesspiegel zu lesen: „Nach Medienberichten wollen die Amerikaner fünf riesige Militärbasen in dem Land, das unter anderem an den Iran, China und Pakistan grenzt, dauerhaft nutzen. Dass 20 000 US-Soldaten in Afghanistan bleiben sollen, sei ‚nur das bescheidenste Szenario‘, schreibt der indische Politiker und Außenpolitik-Experte Shashi Tharoor.“[3] Bereits Mitte Juni 2011 meldete der Guardian, die USA hätten mit Afghanistan Geheimverhandlungen über die dauerhafte Stationierung von Truppen und die Errichtung permanenter Basen aufgenommen. Deshalb sei davon auszugehen, dass „US-Truppen noch für Jahrzehnte in dem krisengeschüttelten Land bleiben werden.“[4] Schon im Februar 2011 hatte der afghanische Präsident Hamid Karzai bei einer Pressekonferenz implizit das amerikanische Interesse an permanenten Militärbasen sowie die Aufnahme dieser Geheimverhandlungen bestätigt.[5]
Konsequenterweise versicherte der jüngst aus dem Amt geschiedene Oberkommandierende der Afghanistan-Truppen David Petraeus Ende Juli 2011, für eine Beendigung des NATO-Einsatzes im Jahr 2014 gebe es „keine Garantien“.[6] Auch der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière verkündete zeitgleich, er beabsichtige keineswegs, „einseitig eine Zahl des Abzuges zu nennen.“[7] Ähnlich wie am Beispiel Irak vorexerziert wurde, werden also auch in Afghanistan noch lange Zeit substanzielle Truppenteile stationiert bleiben. Sie sollen von dort die Fähigkeiten zur Machtprojektion in die geostrategisch wichtige, weil ölreiche kaspische Region verbessern und den Fortgang des (Bürger)Krieges zwischen den Kräften der Regierung und dem Widerstand beaufsichtigen. Abziehen möchten die Besatzer also nicht, kämpfen und sterben, aber ebenso wenig. Geht es nach den gegenwärtigen Plänen, sollen das zunehmend die Afghanen gefälligst selbst erledigen.
Afghanisierung des Krieges
Beginnend mit der Neuausrichtung der Afghanistan-Strategie kurz nach dem Amtsantritt der Obama-Administration im Jahr 2009 ist man mittlerweile dazu übergegangen, den Aufbau der afghanischen „Sicherheitskräfte“ massiv zu forcieren. Obwohl oder wohl gerade weil die korrupte „Regierung“ um Hamid Karzai immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung genießt, wurden die Zielgrößen der afghanischen Armee und Polizei seither mehrfach angehoben; zuletzt im Januar 2011 von 171.600 auf 195.000 (Armee) bzw. von 134.000 auf 170.000 (Polizei).[8]
Das hiermit verfolgte Ziel ist klar. Ein im Dezember 2010 erschienener Bericht des „Center for a New American Security“, eine Denkfabrik mit besten Kontakten zur jetzigen US-Regierung, forderte etwa, man müsse zwar auch nach 2014 Truppen im Land belassen, ansonsten aber dennoch versuchen, den Großteil der Kampfhandlungen auf afghanische Einheiten abzuwälzen: „Diese Verlagerung dient dazu, die größten von der Region ausgehenden Bedrohungen einzudämmen und vitale US-Interessen zu sichern, während sie gleichzeitig nur die minimal erforderlichen Kosten in Form von Truppen, Dollars und Leben verursacht.“[9]
Apropos Kosten: Woher die Gelder für diesen gigantischen Repressionsapparat stammen sollen, ist unklar, aus dem gegenwärtigen (und künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht, soviel ist sicher. Noch für die mittlerweile angehobenen alten Zielgroßen errechnete der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses jährliche Kosten des anvisierten Sicherheitsapparates in Höhe von 2.2 Mrd. US$, der afghanische Haushalt umfasst nicht einmal die Hälfte dieses Betrages![10] Eher früher als später wird dieser gigantische Repressionsapparat deshalb mehr und mehr dazu übergehen, sich mittels Raub an der Bevölkerung zu finanzieren. Um präzise zu sein, haben die „Sicherheitskräfte“ hiermit bereits seit längerer Zeit begonnen. Armee und Polizei sind demzufolge ein (großer) Teil des Problems, nicht der Lösung. Beide sind hoffnungslos korrupt und in zahlreiche Menschenrechtsverletzungen involviert, so etwa das Fazit der Mitte Mai 2011 veröffentlichten Oxfam-Studie „No Time to Lose. Promoting the Accountability of the Afghan National Security Forces“.[11] Afghanistan wird sich somit nahezu unweigerlich zu einem totalitären Militärstaat entwickeln – aber immerhin zu einem pro-westlichen und das scheint schließlich das Ziel der Übung zu sein.[12]
Dauerbürgerkrieg unter westliche Beaufsichtigung
Eine weitere Studie des „Center for a New American Security“ verdeutlicht sowohl die düstere afghanische Zukunft als auch den menschenverachtenden Zynismus, mit dem der Westens durch die gegenwärtige Strategie einen lang andauernden Bürgerkrieg sehenden Auges in Kauf nimmt. Ganz dem Titel – „Afghanistan 2011: Three Scenarios“ – folgend, werden darin drei unterschiedliche Zukunftsperspektiven nebst Eintrittswahrscheinlichkeit erörtert. Möglich aber eher unwahrscheinlich seien sowohl eine nachhaltige Stabilisierung des Landes als auch der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung und die Etablierung neuer, dezidiert anti-westlicher Machthaber.
Vermutlich werde die Entwicklung deshalb in folgende Richtung gehen: „Im wahrscheinlichsten Szenario wird die Obama-Regierung vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt.“ Der Großteil der Kampfhandlungen würde zwar von der afghanischen Armee und Polizei übernommen, eine ausreichende westliche Militärpräsenz wäre aber gewährleistet, was folgenden Vorteil habe: „Dieses wahrscheinlichste Szenario erlaubt es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern.“ Recht unverblümt wird in der Studie zudem darauf hin beschrieben, was ein solches Szenario für Afghanistan bedeuten würde: „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“[13]
Planspiele: UN-Protektorat oder Komplettzerschlagung?
Wie erwähnt kursieren im Vorfeld der Petersberg-II-Konferenz im Dezember 2011 allerlei Vorschläge für die Neuausrichtung der westlichen Afghanistan-Strategie. Einer davon stammt vom „Institute for Security Studies“ (ISS), der wichtigsten hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union. In der Studie „Afghanistan 2011-2014 and beyond“ vom Juni 2011 wird überraschenderweise gefordert, den NATO-Einsatz baldmöglichst zu beenden. Was sich auf den ersten Blick gut und sinnvoll anhört, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als perfider westlicher Versuch, sich des selbstverschuldeten Schlamassels zu entledigen. „Der Schlüssel liegt darin, das, was im Wesentlichen augenblicklich eine ausländische Militäroperation ist, in einen Friedensbildungseinsatz umzuwandeln, geführt von der afghanischen Regierung sowie den Vereinten Nationen, aber mit Unterstützung, einschließlich militärischer Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, stets jedoch unter zivilem Kommando.“[14]
Allerdings steht zu hoffen, dass die Vereinten Nationen sich davor hüten werden, die Suppe auszulöffeln, die sich die NATO selbst eingebrockt hat. Zumindest spricht einiges dafür, dass die Veto-Mächte Russland und China dies zu verhindern wissen werden. Zumal sich die Probleme des Landes nicht dadurch erledigen, dass dann formal unter UN-Kommando und Flagge gekämpft würde. Ein wesentliches Hindernis für die Beilegung des Konfliktes ist das Beharren auf pro-westlichen Machthabern in Kabul sowie das Bestreben, dauerhafte Militärbasen im Land zu unterhalten. Beides macht es unmöglich, einen „Friedendeal“ mit dem Widerstand auszuhandeln, für den damit zwei rote Linien überschritten sind, doch auch hierfür gibt es „kreative“ Lösungsvorschläge. Verglichen mit den Vorschlägen, mit denen Robert D. Blackwill, der ehemalige Chefberater des letzten republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain, derzeit hausieren geht, erscheint die ISS-Studie sogar noch regelrecht sympathisch. Zuerst veröffentlichte er seine Überlegungen im Juli 2010 im Magazin Politico, danach in der Financial Times und schließlich in „Foreign Affairs” (Januar/Februar 2011), der wichtigsten außenpolitischen Zeitschrift der USA.[15]
Auch wenn der Krieg gegenwärtig schlecht verlaufe, ein Sieg sei immer noch möglich, so Blackwills Einschätzung. Hierfür müsse aber „die US-Regierung aufhören über Exit-Strategien zu reden, sondern die USA auf die Übernahme einer langfristigen Kampfmission von 35.000 bis 40.000 Mann für die nächsten sieben bis zehn Jahre orientieren.“ Dies allein sei jedoch noch nicht ausreichend, nötig sei darüber hinaus die Parzellierung des Landes in „handliche“ Teile: „Die Aufstandsbekämpfungsstrategie der Obama-Regierung in Afghanistan ist dabei zu scheitern. Angesichts der Alternativen besteht die beste zur Verfügung stehende Politikoption der USA darin, Afghanistan aufzuteilen.“ Ein „Rest-Afghanistan“ solle die nördlichen und westlichen Regionen umfassen und von den mehrheitlich paschtunisch bewohnten Gebieten, aus denen sich das Gros des Widerstands speist, abgespalten werden. Dieses, von Blackwill als „Paschtu-Afghanistan“ bezeichnete Gebilde müsse dann aus der Luft überwacht und mit Krieg überzogen werden: „Der Himmel über dem Paschtu-Afghanistan wäre dunkel von bemannten und unbemannten Flugzeugen der Koalition. Man würde nicht nur nach Terroristen suchen, sondern, soweit erforderlich, auch die neue Taliban-Regierung in all ihren Facetten überwachen. Beamten, Gouverneure, Bürgermeister, Richter und Zöllner würde jeden Morgen aufwachen, ohne zu wissen, ob sie den Tag in ihren Büros überleben.“
Auch wenn sich bislang noch kein Entscheidungsträger der Obama-Regierung für diesen „Plan“ ausgesprochen hat, dass sie ihn womöglich doch übernehmen könnte, sollte Afghanistan weiter der westlichen Kontrolle entgleiten, ist keineswegs ausgeschlossen. Schließlich ist die Zerschlagung von „Problemländern“ in den letzten Jahren zu einer gängigen westlichen Praxis geworden, sollte keine andere Option bestehen, die eigenen Interessen durchsetzen zu können – siehe etwa den Kosovo und oder den Süd-Sudan.
Anmerkungen:
[1] The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, Report of the Secretary-General (S/2011/120), 09.03.2011.
[2] Amy Belasco, Amy: The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror Operations Since 9/11, CRS Report for Congress, 29.03.2011; Brück, Tilman u.a.: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan, Wochenbericht des DIW Berlin 21/2010, S. 2-11.
[3] Abzugsbeginn aus Afghanistan wird zum Problem, Tagesspiegel, 17.07.2011.
[4] Burke, Jason: Secret US and Afghanistan talks could see troops stay for decades, The Guardian, 13.06.2011.
[5] Ditz, Jason: Karzai Admits US Seeks Permanent Military Bases in Afghanistan, antiwar.com, 08.02.2011.
[6] Petraeus: „Keine Garantien“ für Afghanistan-Abzug 2014, AFP, 20.07.2011.
[7] Bundeswehrabzug aus Afghanistan von Verbündeten abhängig, Deutsche Welle, 19.07.2011.
[8] Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction: Quarterly Repo rt to the United States Congress, 30.04.2011, S. 54.
[9] Barno, David W./Exum, Andrew: Responsible Transition. Securing U.S. Interests in Afghanistan Beyond 2011, Center for a New American Security, December 2010, S. 6.
[10] Bowman, Steve/Dale, Catherine: War in Afghanistan: Strategy, Military Operations, and Issues for Congress, Congressional Research Service, 08.06. 2010, S. 64.
[11] No Time to Lose. Promoting the Accountability of the Afghan National Security Forces, Oxfam, Joint Briefing Paper, 10.05.2011.
[12] So hieß es in einem kritischen Kommentar in der taz: „Das Maximum, das der Westen in Afghanistan noch erhoffen kann, ist, einen autoritären Potentaten zu hinterlassen, der getreu dem US-amerikanischen Bonmot ‚Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn‘, der die Regierung auf prowestlichem Kurs hält. Sicherheitspolitisch könnte das sogar funktionieren, weil dessen Terror sich dann ‚nur‘ gegen die eigene Bevölkerung und vielleicht noch gegen Nachbarstaaten, nicht aber gegen den Westen richtet.“ (Hansen, Sven: Letzte Hoffnung Diktatur, taz, 13.09.2009)
[13] Exum, Andrew: Afghanistan 2011: Three Scenarios, CNAS Policy Brief, 22.10.2009.
[14] Peral Luis/Tellis, Ashley J.: Afghanistan 2011-2014 and beyond: from support operations to sustainable peace, Institute for Security Studies, June 2011, S. 3.
[15] Blackwill, Robert D.: A de facto partition for Afghanistan, Politico, 07.07.2010; ders.: America must give the south to the Taliban, Financial Times, 21.07.2010; ders.: Plan B in Afghanistan, Foreign Affairs, Januar/Februar 2011.
Jürgen Wagner