Bundesverfassungsgericht setzt EFSF-Sonderparlament im Bundestag außer Kraft

Swen Schulz, Bundestagsabgeordneter der SPD
Swen Schulz. Bild: parlamentarische-linke.de

Das Bundesverfassungsgericht stoppt das EFSF-„Vertrauensgremium“ im Bundestag nach einer Organklage von MdB Swen Schulz und MdB Peter Danckert und setzt das EFSF-Gesetz (Stabilisierungsmechanismusgesetz) teilweise außer Kraft. Das ist eine Sensation und markiert eine Zeitenwende in Deutschland hin zu mehr statt immer weniger parlamentarischer Demokratie.

Am 29.September erteilte der Bundestag der Regierung die direkte Ermächtigung das Parlament zu entmachten. Alle 620 Abgeordneten wussten das. Nur zwei handelten: Swen Schulz und Peter Danckert, beide SPD.

Am 29.September segnete der Bundestag mit dem „Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus“ (1) nicht nur die Erhöhung der Finanzermächtigung für das Finanzministerium und damit den luxemburgischen EFSF-Fonds auf eine Höhe von 211 Milliarden Euro deutscher Staatsgelder plus Zinsen ab. Er beschloss auf Empfehlung des Haushaltsausschusses (2) in einem anschließenden Änderungsgesetz auch, wer wann wie über die Ausgabe dieser Gelder bestimmen sollte. § 3 Absatz 3 des so ergänzten Stabilisierungsmechanismusgesetzes (3) löste den „Parlamentsvorbehalt“ de facto in Luft auf und ersetzte ihn durch den Vorbehalt von ganzen neun Abgeordneten, die in Fragen der „besonderen Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit“ anstelle des Haushaltsausschusses und des gesamten Bundestags über die Operationen der Aktiengesellschaft entscheidungsbefugt gewesen wären. Und das im Geheimen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und selbst der 611 anderen Abgeordneten des Parlamentes von Deutschland.

Das Gesetz definierte dann in einem Querverweis auf § 1, wann „besondere Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit“ regelmäßig vorlägen: nämlich auf „Antrag eines Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebietes“. Jede Regierung eines Staates innerhalb des Euro-Währungsgebietes, natürlich auch die Regierung von Deutschland, konnte also durch eigenen Beschluss diese „besondere Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit“ verfügen und somit im Geheimen Bundestag und Haushaltsausschuss bei Beschlüssen umgehen, die im Zweifel Billionen von Euro an Kapital in Bewegung gesetzt und über 211 Milliarden Euro deutscher Staatsgelder plus Zinsen verfügt hätten.

Zusätzlich vermerkte das Gesetz in § 3, daß auch „in allen übrigen Fällen“ die Regierung und damit das Finanzministerium von Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Schäuble „die besondere Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit einer Angelegenheit geltend machen“ könne.

Einen Widerspruch gegen diese Entmachtung hätte dem Wortlaut des EFSF-Gesetzes entsprechend nicht etwa der Bundestag selbst stellen können, sondern nur „die oben genannten Mitglieder des Haushaltsausschusses“, also die neun privilegierten und eingeweihten Abgeordneten des Sonderparlamentes selbst.

Zur Kenntnisnahme: genau diese Selbstentmachtung unseres Parlamentes, zugunsten der Regierung und den Machenschaften einer luxemburgischen Aktiengesellschaft, war mit Zustimmung und Wissen aller Fraktionen und aller restlichen 618 Abgeordneten des Bundestages auf den Weg gebracht und bewusst so formuliert und vorbereitet worden.

Alle wussten davon. Keiner kann sich drücken. (20.September, Das neue Parlament des Kapitals, 20.September)

Daß der Bundestag dabei war ein verfassungswidriges Sonderparlament einzusetzen, muss allen Abgeordneten spätestens nach einem entsprechenden Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages klar gewesen sein, welches am 16.Oktober bekannt geworden war (4). Wer hatte das Gutachten in Auftrag gegeben? MdB Swen Schulz.

Vorgestern am Mittwoch, dem 26.Oktober, weigerte sich nun zwar der Bundestag, nach fortgesetztem Betrugsversuch durch Finanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel über die Dauer der Vorbereitung und Durchführung von zwei Gipfeln der „Europäischen Union“, der Regierung eine „Carte Blanche“ für den EFSF zu erteilen. (Bundestag entscheidet noch einmal nach EU-Gipfel über EFSF-Leitlinien, 25.Oktober)

Stattdessen jedoch wurde am Mittwoch seitens der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ein rechtlich unverbindlicher Entschließungsantrag verabschiedet, um der Regierung eine Blamage zu ersparen, die ihr nicht erspart werden kann, genauso wenig wie allen Fraktionen des Bundestages. Denn diese wählten am Mittwoch ebenfalls, in aller Stille, eben jenes neunköpfige Sonderparlament, das Vertrauensgremium, was das Bundesverfassungsgericht nun mit seiner Eilentscheidung auf Eis legte, kurz bevor es sich heute am Freitag konstituieren wollte. Die Namen der am Mittwoch in das EFSF-„Vertrauensgremium“ gewählten Abgeordneten (5):

– Norbert Barthle (CDU/CSU)
– Bartholomäus Kalb (CDU/CSU)
– Michael Stübgen (CDU/CSU)
– Lothar Binding (SPD)
– Carsten Schneider (SPD)
– Otto Fricke (FDP)
– Michael Link (FDP)
– Priska Hinz (Bündnis 90/Die Grünen)
– Dietmar Bartsch (Die Linke)

Am Donnerstag reichte Abgeordneter Swen Schulz gemeinsam mit Abgeordnetem Peter Danckert beim Bundesverfassungsgericht Organklage gegen das EFSF-Sondergremium des Bundestages ein (4). Entsprechend dem Bundestagsgutachten argumentierten sie, daß die Haushaltshoheit des Parlamentes insgesamt durch das Sondergremium verfassungswidrig eingeschränkt werde. Auch die geplante selektive Informierung der Bundestagsabgeordneten sahen die Abgeordneten als Verstoß gegen das Grundgesetz. Die Abgeordneten Schulz und Danckert reichten in Karlsruhe neben der Organklage auch einen Antrag auf einstweilige Anordnung ein. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte den Eingang der Klage und kündigte an, zur einstweiligen Anordnung schon am gestrige Tage eine Entscheidung zu fällen. (6)

Diese erging nun (7). Bis zum Entscheid im Hauptverfahren ist das EFSF-Sonderparlament außer Kraft gesetzt, ebenso die entsprechenden Passagen im EFSF-Stabilisierungsmechanismusgesetz.

Anzunehmen, daß durch diese Entscheidung des im Zweifel höchsten deutschen Staatsorgans irgendwelche Gesetze, Maßnahmen oder Entscheidungen für „Rettungsmaßnahmen“ des deutschen Staates zugunsten notleidender Finanzgläubiger europäischer Demokratien auch nur eine Sekunde verzögert werden könnten, ist irrational. Der Haushaltsausschuss, der im Grundgesetz nicht einmal erwähnt wird, muss mit seinen 41 Mitgliedern und 41 Stellvertretern schlicht arbeiten und kann nicht mehr weglaufen oder/und bei der Zersetzung unserer Demokratie mitwirken.

Diesbezüglich gilt: Wer nichts macht, macht keinen Unterschied. Ergo kann sich die Republik bei ihren genau zwei verfassungstreuen Abgeordneten des Volkes im Bundestag bedanken: Swen Schulz und Peter Danckert.

Ergänzung 14.50 Uhr

In seiner Begründung für den positiven Entscheid des Antrags zur einstweiligen Anordnung führt das Verfassungsgericht in seinem Entscheid 2 BvE 8/11 aus (8):

„Erginge die einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich das Organstreitverfahren in der Hauptsache als begründet, würden zwischenzeitlich die Rechte der Antragsteller als Abgeordnete aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG irreversibel verletzt. Denn im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache könnte das Gremium nach § 3 Abs. 3 StabMechG Entscheidungen treffen, die Statusrechte der Antragsteller im Hinblick auf die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages berühren – etwa indem es die Zustimmung zu einem Beschlussvorschlag zur Vereinbarung einer Notmaßnahme der EFSF auf Antrag eines Mitgliedstaates der Euro-Zone gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 StabMechG erteilte. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache könnte diese Rechtsverletzungen nicht mehr rückgängig machen. Denn nach erfolgter Zustimmung der Bundesregierung beziehungsweise des deutschen Vertreters zu einem solchen Beschlussvorschlag wäre die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich bindende Verpflichtungen eingegangen.

Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erginge, in der Hauptsache aber dem Antrag im Organstreitverfahren der Erfolg zu versagen wäre. Im Falle des Erlasses einer einstweiligen Anordnung könnte das Gremium, das in § 3 Abs. 3 StabMechG vorgesehen ist, bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache keine Beschlüsse fällen und es wäre einstweilen nicht Adressat der Unterrichtungen durch die Bundesregierung (vgl. § 5 Abs. 7 StabMechG). Dies führte allerdings nicht dazu, dass die erforderliche Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in diesem Zeitraum nicht gewährleistet wäre. Vielmehr kann die Bundesregierung jederzeit notwendige Zustimmungen gegenüber dem Deutschen Bundestag beantragen. So war der Deutsche Bundestag, schon vor Inkrafttreten der Änderungen des Stabilisierungsmechanismusgesetzes am 14. Oktober 2011, in der Lage, auch in Eilfällen binnen kurzer Frist zusammenzutreten und Vorlagen der Bundesregierung zu beraten.

Ergänzung 17.15 Uhr

Um einmal zu verdeutlichen, welcher Verfall auf der geistig-moralischen, gesellschaftlichen, parlamentarischen, juristischen, politischen und publizistischen Ebene in der Republik bereits eingesetzt hat: auf „Tagesschau.de“ (9) gibt der neue Garderobenständer der ARD in Karlsruhe, der Jurist und Fernsehjournalist Frank Bräutigam, ein Interview. Darin tätigt er folgende Aussage:

„Bräutigam: In der heutigen Presseerklärung des Gerichts steht ausdrücklich, dass bis zum endgültigen Urteil das Plenum des Bundestags über alle Fragen im Zusammenhang mit möglichen Ansteckungsgefahren für andere Euro-Länder beraten muss.

tagesschau.de: Also hat das Gericht die Rechte von Abgeordneten gestärkt?

Bräutigam: Ja, das kann man so sehen.“

Mal abgesehen, von letztgenannter sternhellen und blitzgescheiten Schlussfolgerung des hart arbeitenden ARD-Gutverdienbürgers: die Aussage zur weiteren Kompetenz von Bundestag und Haushaltsausschuss ist falsch.

Zitat Presseerklärung des Verfassungsgerichts (10):

„Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Wege der einstweiligen Anordnung entschieden, dass bis zur Entscheidung im Organstreitverfahren die Beteiligungsrechte des Bundestages nicht durch das neu konstituierte Gremium wahrgenommen werden dürfen.“

Wir verstehen: nicht durch das Sondergremium. Daß die Rechte des Haushaltsausschusses irgendwie tangiert werden, steht weder in der Pressemitteilung, noch im Entscheid.

Bis zum endgültigen Entscheid gelten also weiter die ganz normalen Beteiligungsrechte des Bundestages und seines Haushaltsausschusses. Und wie ich jetzt mal kühn mutmaße: auch danach.

17.30 Uhr

Ein anderes Beispiel: die Immobilien-Bank „Hypo Real Estate“, für die zwecks Verstaatlichung von Geschäftsschulden in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Euro zum ersten Mal in der Geschichte des Grundgesetzes Artikel 15 angewandt wurde, erklärt heute, sie habe sich im Duett mit der EU-Statistikbehörde Eurostat um schlappe 56.000.000.000 Euro verrechnet. (11)

Deutschland habe also 56 Milliarden Euro verstaatlichte Banker-Schulden weniger, erklärt die staatliche Schrottbank FMS der HRE. Ausgerechnet jetzt.

Wir verstehen: das kann ja mal vorkommen. Nicht daß da einer bei diesen Wahnsinnigen, die unsere Gesellschaft gekapert haben, mal zwischendurch auf den Zettel guckt. Sonst müsste sich ja im Bundestag irgendjemand Arbeit machen. Und da weinen sie ja jetzt schon vor Schmerzen.

Quellen:
(1) http://dip.bundestag.de/btd/17/069/1706916.pdf
(2) http://dip.bundestag.de/btd/17/070/1707067.pdf
(3) http://www.buzer.de/gesetz/9885/index.htm
(4) http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,791964,00.html
(5) http://dip.bundestag.de/btd/17/074/1707454.pdf
(6) http://de.reuters.com/article/domesticNews/idDEBEE79Q08L20111027
(7) http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/verfassungsgericht-stoppt-deutsches-sondergremium-zur-euro-rettung/5764860.html
(8) http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20111027_2bve000811.html
(9) http://www.tagesschau.de/inland/braeutigam110.html
(10) http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg11-068.html
(11) http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/24/0,3672,8364216,00.html

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