Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheidet die 5-Prozent-Hürde bei der Wahl des EU-Parlaments („Europawahlen“) als verfassungswidrig. Es erkennt damit in einem sensationellen Geistesblitz an, daß auch bei Rechtsgültigkeit des gleichen Grundgesetzes Westdeutschland im Jahre 1979 nicht Deutschland im Jahre 2011 und die vollkommen machtlose „parlamentarische Versammlung“ der westeuropäischen „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ EWG nicht das machtlose Parlament der „Europäischen Union“ ist.
Die Entscheidung im Zweiten Senat fällt mit 5 zu 3 Stimmen. Die beiden Verfassungsrichter Udo di Fabio und Rudolf Mellinghoff begründen in einer abweichenden Meinung, warum sie für die Beibehaltung der 5-Prozent-Hürde bei EU-Wahlen gestimmt haben und leisten sich dabei eine veritable Blamage.
Eine Zusammenfassung.
Tor. Eigentlich mit Ausrufezeichen. Die Fankurve der Demokratie jubelt. Der Trainer nimmt es stoisch zur Kenntnis.
Schon der Leitsatz des Urteils 2 BvC 4/10 hat es in sich.
„Der mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen.“
Dieser vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Unterschied zwischen den „rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen“ eröffnet einen gewaltigen Spannungsbogen zwischen dem 1949 geschaffenen Verfassungsanspruch der Bürger und der müden Wirklichkeit des Jahres 2011, die durch die real existierenden Bundestagsparteien in langen Jahrzehnten im Schweiße unseres Angesichts geschaffen wurde. Zu dieser Wirklichkeit zählt auch die in 1979 durch SPD, CDU, CSU und FDP, in Anlehnung an das entsprechende Gesetz aus den 50er Jahren für Bundestagswahlen, geschaffene 5-Prozent-Hürde für die ersten Wahlen zur „parlamentarischen Versammlung“ der westeuropäischen „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (der Name “Europaparlament” wurde erst 1986 offiziell). Bis 1979 war die „parlamentarische Versammlung“ noch von den Parlamenten der EWG-Mitgliedsstaaten gewählt worden.
Für unvereinbar mit dem Grundgesetz als mittlerweile gesamtdeutsche Verfassung einer souveränen Republik entschieden die Richter die noch immer geltende 5-Prozent-Hürde bei den Wahlen zu einem Parlament, daß zwar fast nichts zu sagen hat, aber immerhin für mittlerweile 27 Staaten. Das Bundesverfassungsgericht entschied nun mehrheitlich, daß die Bedeutung des heutigen EU-Parlamentes gestiegen sei und es mit „Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar“ sei, den Wählerwillen von 2.8 Millionen Menschen, bzw. 10 Prozent aller bei der EU-Wahl 2009 abgegebenen Stimmen, einfach so unter den Tisch fallen zu lassen, weil sich das die westdeutsche Nomenklatura einmal so ausgedacht hatte, weil das seinerzeit VERNÜNFTIG war.
Sonst könnte ja die Demokratie ausbrechen. Und Westeuropa im Meer untergehen. Und der Asteroid auf die Erde knallen, mitten ins Bonner Kanzleramt. Und der Kommunismus, der könnte kommen. Ja.
Verfassungsrichter Udo di Fabio und Rudolf Mellinghoff waren auch heute wieder VERNÜNFTIG. Die Demokratie könnte ausbrechen. Europa im Meer untergehen. Der Asteroid auf die Erde knallen, mitten in den Brüsseler Rat. Und der Nationalismus, der könnte kommen. Ja.
„Ein Parlament, das in einem solchen Ausmaß in der politischen Verantwortung steht wie das Europaparlament, benötigt Handlungsfähigkeit auch und gerade dort, wo es in einem verhandelnden Mehrebenensystem etwa im Verfahren der Mitentscheidung, dem jetzt ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1 AEUV), eine Position durchsetzen will.“
Das ganze Ausmaß politischer Verantwortung des EU-Parlaments beschränkt sich darauf „aua“ zu sagen, wenn es mal wieder überfahren wurde. Selbst dieser Klagelaut aus dem Niemandsland zwischen Anspruch und Wirklichkeit der „Europäischen Idee“ dünkt Professor Doktor Doktor Di Fabio und Professor Doktor h.c. Mellinghoff offensichtlich immer noch so laut, daß er die Handlungsfähigkeit all der überragenden Genies unserer Zeit in „Europäischem Rat“, zehn Ministerräten und Myraden von Plutokraten in der EU-Kommission bei ihrem so erfolgreichem Tun potentiell durcheinander bringen könnte.
„Die schon früher in der Wissenschaft geäußerte Ansicht, dass große Fraktionen mit der Fähigkeit zum übergreifenden Konsens notwendig sind, um politische Stärke zu entwickeln (vgl. Neßler, Willensbildung im Europäischen Parlament – Abgeordnete und Fraktionen zwischen Konsens und Dissens -, ZEuS 1999, S. 157 <181>), wurde in der mündlichen Verhandlung durch Abgeordnete des Europaparlaments nachdrücklich bestätigt.“
Offensichtlich sind den Verfassungsrichtern Di Fabio und Mellinghoff hier die politischen Gene durchgegangen. Genau an solchen selbstverstandenen wissenschaftlichen Veranlagungen gesellschaftlicher Kretins ist bereits die Sowjetunion eines grausamen Todes nach grausamer Existenz gestorben, trotz wahrlich übergreifendem Konsens, um politische Stärke zu entwickeln. Wenn die Summe der einzelnen Teile größer und im gesellschaftlichen Sinne produktiver, prosperierender und nicht zuletzt gerechter und freier ist als das gebildete Ganze, dann spricht dies das historische Urteil über jede Form der politischen Union. Dementsprechend sind nicht nur die „Europäische Union“ und deren IdeologieträgerInnen zu beurteilen, sondern jede Form der politischen Zwangsgemeinschaft, die sich längst überlebt hat.
„Dem Gesetzgeber muss, gerade vor dem Hintergrund, dass sich das Europaparlament nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon in einer neuen Phase seiner Entwicklung befindet, ein Spielraum für die Beurteilung von Funktionsrisiken zugebilligt werden; zumal dann, wenn die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht ergibt, dass alle erschienenen Vertreter des Europaparlaments diese Einschätzung teilen.“
Wenn alle über die (in anderen Ländern nicht existierende) 5-Prozent-Hürde in Deutschland gehüpften und in Karlsruhe erschienenen „Vertreter“ des EU-Parlaments die Auffassung der über die 5-Prozent-Hürde gehüpften „Vertreter“ des Bundestages teilen, wieso dann mit 62 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland überhaupt noch ein EU-Parlament wählen, was sich wie der Bundestag vor allem anderen dadurch auszeichnet die Auffassung der deutschen Regierung zu teilen, deren Vertreter wiederum nicht vom Volk und bis auf den Bundeskanzler überhaupt nicht gewählt worden sind, aber zusammen mit den Regierungen aus 27 anderen Staaten in Brüssel als Regierungsrat bereits Gesetzgeber spielt?
Warum überhaupt noch wählen? Seid doch VERNÜNFTIG, liebe Kinder, wenn WIR sowieso schon alle einer Meinung sind, in Regierung, Parlament, Verfassungsgericht und EU-Parlament, auch wenn WIR es nicht sind. Lasset uns teilen die Meinung, nur nicht die Gewalten, amen.
„Kleinere Parteien, die auch aus der Regierungsverantwortung heraus das Wahlrecht regelmäßig mitgetragen haben, sind bereits selbst „Opfer“ der Sperrklausel geworden; man sollte nicht ohne Weiteres mit dem Verdacht arbeiten, hier wollten etablierte Parteien, in einem Kartell organisiert, die Konkurrenz fernhalten.“
Aha.
Welche „kleineren Parteien“, die selbst zum Opfer der „mitgetragenen“ Sperrklausel geworden sind, meinen die Herren Di Fabio und Mellinghoff hier in ihrem Sondervotum?
Offensichtlich ist keine andere Abhilfe möglich, als einen kurzen Blick in die deutsche Geschichte zu werfen. (Die Außerparlamentarische Demokratie)
Bei der Wahl des ersten Bundesparlamentes Westdeutschlands im Jahre 1949 gab es keine Erst- oder Zweitstimme. Es gab nur die Stimme eines Wählers. Auch gab es nur eine jeweils bundeslandbezogene Fünf-Prozent-Hürde, also zog eine Partei bereits dann entsprechend ihrer errungenen Stimmenzahl auf Bundesebene in den Bundestag ein, wenn sie in einem einzigen Bundesland mehr als fünf Prozent der gültigen Stimmen erhalten hatte. Auch wurde selbst diese bundesländliche Fünf-Prozent-Hürde außer Kraft gesetzt, wenn man stärkste Partei in einem einzigen Wahlkreis geworden war und diesen gewonnen hatte. Dementsprechend demokratisch und repräsentativ setzte sich das westdeutsche Bundesparlament damals auch zusammen.
Doch die Regierung Konrad Adenauer, aus CDU, CSU, FDP und DP („Deutsche Partei“) räumte nach 1949 schnell auf mit der Demokratie. Durch einfache Änderung des Bundeswahlgesetzes am 25.Juni 1953 wurden Erst- und Zweitstimme eingeführt. Dadurch galt die 5-Prozent-Hürde nun bundesweit, rechtzeitig zur zweiten Bundeswahl am 6. September 1953.
Durch diese einfache Gesetzgebung, gekoppelt an weitere Maßnahmen, wurden mit einem Schlag drei Parteien Westdeutschlands ausgeschaltet. Die KPD, die vor allem in industriellen Regionen verankert war, verlor alle ihre 15 Bundestagsmandate. Nun ohne Vertretung im Bundesparlament wurde sie 1956, noch in der gleichen Legislaturperiode, zum zweiten Mal verboten, nur 11 Jahre nach Hitler. Auch die CSU-Konkurrenz Bayernpartei wurde ausgeschaltet, sie sank von 17 auf Null Mandate.
Doch der Zentrumspartei gelang der Sieg in einem Wahlkreis durch das Erringen der höchsten Anzahl der neuen Erststimmen, ein sogenanntes Direktmandat. Entsprechend der ursprünglichen Regelung bezüglich des Sieges in einem Wahlkreis reichte 1953 noch ein gewonnenes Direktmandat aus, um mit der bundesweit errungenen Anzahl der Zweitstimmen die dadurch gewonnenen Mandate wahrnehmen zu können.
Doch auch das war der Adenauer-Regierung immer noch zuviel Demokratie.
Die Anzahl der notwendigen Direktmandate für Inanspruchnahme der sogenannten “Grundmandate” zur Überwindung der 5-Prozenthürde wurde bis zur nächsten Wahl im Jahre 1957 von einem auf drei erhöht – abermals durch einfache Gesetzgebung der Regierungsparteien mit absoluter Mehrheit im Bundestag. So wurde letztlich auch die Zentrumspartei ausgeschaltet.
Nachdem also die „Deutsche Partei“ DP bei der Ausschaltung von drei Parteien, der KPD, der Bayernpartei und Zentrumspartei, geholfen hatte und bei rund 3 Prozent Wähleranteil nur durch einen schmutzigen Deal mit der CDU über die selbst mit aufgebauten Hürden der 5-Prozent-Klausel und der drei notwendigen Direktmandate gehoben worden war, wechselten 1960 in einer politischen Intrige plötzlich neun der fünfzehn DP-Bundestagsabgeordneten zur CDU. So beerdigte sich auch die DP selbst, durch ihren eigenen Verrat an Republik und Demokratie.
Und diese Partei dient nun offenbar den Herren Di Fabio und Mellinghoff als Begründung gegen den Verdacht, daß „etablierte Parteien, in einem Kartell organisiert, die Konkurrenz fernhalten.“
Aber damit noch nicht genug. Veni, vidi, ich traue meinen Augen nicht.
„Wie das spontane Auftreten von neuen Parteien oder Wählervereinigungen zeigt, bildet die Fünf-Prozent-Hürde heute nicht mehr das Hindernis, das sie noch vor drei Jahrzehnten war, als eine neue Gruppierung wie die „Grünen“ noch einen langen Anlauf nehmen musste, um allmählich in den Kreis der etablierten und das heißt auch zur Überwindung der Fünf-Prozent-Sperrklausel fähigen Parteien aufzurücken. Heute ist das anders. Selbst neue Gruppierungen, deren Parteiprogramm kaum jemand kennt oder die erst nach der Wahl ihre Meinung zu politischen Themen erarbeiten wollen, sind fähig, aus dem Stand heraus bei einer Landtagswahl oder auch bei Bundestagswahlen die Sperrklausel zu überwinden.“
Ausgerechnet der erste Einzug einer neuen Partei ins Berliner Abgeordnetenhaus seit dem 2.Dezember 1990, namentlich der Piratenpartei, dient also den Verfassungsrichtern zur Begründung für die Beibehaltung eines auf Ebene der EWG bzw EU seit drei Jahrzehnten existierenden Hindernisses für die parlamentarische Demokratie? Mit solcher Argumentation wird jeder Schmerz ein notwendiger Härtetest, jede Gemeinheit zur natürlichen Auslese, jeder Verrat zur Durchsetzungsfähigkeit, jede Manipulation der im freien und fairen Wettbewerb Unterlegenen zur zitierten „notwendigen Stärke“ und jede Lüge zur operativen Information.
Dazu passt folgende Posse wie maßgeschneidert. Am 31.Oktober sitzt der ehemalige Richter Dieter Wiefelspütz – von 1998 bis 2011 „innenpolitischer Sprecher“ der SPD-Bundestagsfraktion und mitverantwortlich für jedes einzelne in dieser Zeit vom Bundestag beschlossene Spionage- und Überwachungsgesetz – zusammen mit dem DPolG-Vorsitzenden Rainer Wendt, Andreas Bogk vom Chaos Computer Club und dem Sprecher der Piratenpartei Nordrhein-Westfahlen, Achim Müller, in einer vom „Handelsblatt“ organisierten Podiumsdiskussion zum Thema „Staatstrojaner“ und Online-Spionage ohne Rechtsgrundlage.
Nach Vorratsdatenspeicherung (verfassungswidrig), BKA-Gesetz (Entscheid anhängig), Elena-Datenbank (gescheitert), Zwang zur Abgabe von Fingerabdrücken für Passdokumente (gescheitert) versuchter Verfassungsänderung für Militäreinsatz im Inneren (gescheitert), Terror-Gesetzen seit 2001 (bis heute ungeprüft), Internet-Sperren (nach drei Jahren Kampf von Bürgerrechtsbewegungen und Dissidenten gegen anfangs alle Parteien schließlich aufgehoben), Online-Durchsuchung, flächendeckender Kamera-Überwachung, etc, etc, etc – was fällt Dieter Wiefelspütz als einzige Begründung dafür ein, daß der Rechtsstaat funktioniert, den er und seine Verräterpartei nach Kräften sabotiert hat?
Der Einzug der Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus.
„Ich sage, das ist ein Sieg des Systems. Sie sind der Beweis dafür, dass das System funktioniert.„
Eigentor der gegnerischen Mannschaft. Eigentlich mit Ausrufezeichen. Die Fankurve der Demokratie jubelt. Der Trainer nimmt es stoisch zur Kenntnis.
Epilog: Die werten Verfassungsrichter Di Fabio und Mellinghoff müssen uns übrigens demnächst verlassen. Sie gehen in den Ruhestand – auch ohne 5-IQ-Punkte-Klausel, über deren Einführung für Verfassungsrichter, und ganz allgemein in Staatsdiensten befindliche Empfänger gesellschaftlicher Transferleistungen, vor Amtsantritt noch zu diskutieren wäre.