„Es geht hier nicht um einen Bahnhof, sondern um ein neoliberales Schlüsselprojekt“

Dokumentation: Die Rede von Pfarrer. i. R. Friedrich Gehring bei der heutigen 107. Montagsdemonstration gegen das regionale und verkehrsindustrielle Umbauprogramm “Stuttgart 21″ (S21):

Liebe Kopfbahnhoffreunde,

ich bin gebeten worden, zum drohenden Abriss des Südflügels unseres Kopfbahnhofs als Pfarrer einige tröstende Worte zu sprechen.

Ich werde keinen Trost spenden, indem ich bagatellisiere, wie manche Christen sagen: Es ist doch nur ein Bahnhof. Wenn es nur um den Bahnhof ginge, dann könnte der Abriss ja noch lange warten. Es geht aber hier nicht um einen Bahnhof, sondern um ein neoliberales Schlüsselprojekt und um das Brechen unseres Widerstands gegen diese zerstörerische Ideologie, die Jesus in seiner Muttersprache den Mammon nennt. Der Mammon ist unvereinbar mit dem Gott der Barmherzigkeit. Jesus sagt: Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen (Mt 6,21). Deshalb stehe ich heute hier.

Ich werde auch keinen Trost spenden, indem ich auf ein besseres Jenseits verweise, wie das Christen immer wieder tun, die sich mit dem Elend unserer Welt so abfinden wie es eben ist. Jesus will diese Welt verändern, hier und jetzt, und er ruft uns dazu auf, ihm darin nachzufolgen. Auch deshalb stehe ich heute hier und gebe zwei Worte Jesu zu bedenken, die uns von ihm überliefert sind auf dem letzten Stück seines Leidenswegs.

Lk 19,41-42: Als Jesus näher kam und die Stadt vor sich liegen sah, weinte er und sagte: „Wenn du doch heute erkennen wolltest, was dir Frieden bringt! Aber du bist blind dafür“.

Jesus ahnt in diesem Augenblick wohl, dass sie bei seinem Einzug Hosianna schreien werden, aber bald danach: Kreuzige ihn. Dennoch gerät er nicht in Wut, er bittet Gott nicht, Feuer auf die Stadt fallen zu lassen. Er erträgt den Schmerz, er flieht nicht, und er schämt sich seiner Tränen nicht. Deshalb schlage ich auch hier und heute vor: Wir weigern uns standhaft, uns unserer Tränen zu schämen. Wir suchen Schultern, um uns auszuweinen, und wir bieten unsere Schultern anderen zum Ausweinen an. Wir verkriechen uns nicht, um unsere Tränen zu verstecken, wir tragen unsere Trauer öffentlich. Wir lernen von Jesus und von Gandhi und von Martin Luther-King, dass unser öffentlich gemachter Schmerz eine politische Wirkung hat. Das öffentlich gemachte Leiden der Demonstranten am 30. September 2010 hat seine Wirkung gehabt, nicht nur am 27. März 2011, sondern auch in den letzten Tagen.

All denen, die nach dem Volksentscheid ihre Häme über uns ausgegossen haben, sagen wir: „Wir weinen über euch, weil diese Stadt mehrheitlich nicht erkennen will, was ihr Frieden bringt, weil sie sich mehrheitlich hat blind machen lassen durch die irreführenden Heilsversprechungen des Mammon.“ Als Jesus über die Stadt weint, sagt er ihr das Unheil voraus, dass sie belagert und dem Erdboden gleichgemacht wird, was Jahrzehnte später auch geschieht. Sein Weinen bewahrt ihn vor hasserfüllter Schadenfreude. Nehmen wir uns ihn darin zum Vorbild. Auch wir müssen der Stadt und dem Land Schlimmes voraussagen. Lasst uns aber unser Mitgefühl bewahren!

Nachdem Jesus über die Stadt geweint hat, geht er in den Tempel.

Lk 19, 45-46: Jesus ging in den Tempel und fing an, die Händler hinauszujagen. Dazu sagte er ihnen: „In den heiligen Schriften steht doch, dass Gott erklärt hat: ’Mein Tempel soll eine Stätte sein, an der man zu mir beten kann!’ Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.

Jesus war nicht das Lamm, das sich widerstandslos zur Schlachtbank führen ließ, wie nicht wenige Christen behaupten. Er ist im Tempel handgreiflich geworden. Das könnte diejenigen ermutigen, die mit Schuhen handgreiflich werden möchten. Ich gebe aber zu bedenken, dass Jesus nicht durch Handgreiflichkeiten für die Herren im Tempel gefährlich wird, sondern dadurch, dass er ihnen mit seinen Worten die fromme Maske der scheinbaren Menschenfreundlichkeit vom Gesicht reißt und ihr wahres Gesicht, die blanke Gier sichtbar macht. Ich glaube, dass auch wir die stärkste Wirkung haben, wenn wir unablässig die Heilsversprechen der Stuttgart-21-Profiteure, sie würden uns mehr Wohlstand bringen, entlarven als die blanke Gier, für die wir alle teuer bezahlen müssen. Sprechen wir es immer wieder deutlich aus: Ein Bahnhof soll den Menschen dienen, er darf keine Räuberhöhle werden.

Auch den Regierenden im Land müssen wir immer wieder sagen: Wenn Ihr dieses Mammonsprojekt weiterhin unkritisch begleitet, unterstützt ihr die Gier, die mit unverschämter Erpressermanier in die öffentlichen Haushalte greift und sich einen Dreck schert um die Verschuldungsprobleme der öffentlichen Hände. Wenn Ministerpräsident Kretschmann sagt, wir müssten die Mehrheitsentscheidung beim Volksentscheid respektieren, dann müssen wir ihn daran erinnern, dass das Volk sich mehrheitlich für ein Kosten gedeckeltes Projekt entschieden hat.

Wir müssen die grünrote Regierung an ihre eigene Koalitionsvereinbarung erinnern. Wenn sie das Projekt Stuttgart 21 konstruktiv begleiten will, dann muss sie sich jetzt um die Finanzierung kümmern. Ich schlage vor: Der Bundesrechnungshof macht eine aktuelle Kostenschätzung unter Berücksichtigung der von Herrn Azer aufgelisteten Risiken und es gibt einen neuen Volksentscheid mit der Frage: Soll die Schuldenbremse zugunsten von Stuttgart 21 gelockert werden? Dann wäre unmissverständlich ein „Ja“ wirklich ein Ja zu Stuttgart 21, und ein „Nein“ ein Nein. Wir werden dann ja sehen, ob das Quorum erreicht wird für eine Räuberhöhle Stuttgart 21.

Amen.

Anm.d.Red.: Die ursprünglich veröffentlichte Vorabversion wurde durch die den Wortlaut der später gehaltenen Rede ersetzt.

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