Die Gauck Situation

Einschätzung und Hintergründe zum Machtkampf in Berlin um die Nominierung von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten.

Zunächst zwei Ticker bzw Zeitabläufe des gestrigen Tages, einer von der „Bild“, einer von der „B.Z.“, gerade im Kontext gut zu gebrauchen, wenn man sich die Ereignisse von gestern vor Augen führen will, die ja aufeinander aufbauen.

Es gab nun schon im Vorfeld drei sehr bemerkenswerte Ereignisse, die man dabei berücksichtigen muss.

1. Merkel bringt nach dem Rücktritt von Wulff (17. Febr.) sofort einen „gemeinsamen Kandidaten“ von Regierungskoalition, sowie SPD und Bündnis 90/Die Grünen ins Spiel. (Mein Tipp am 2. Januar: Wolfgang Schäuble).
2. Die Fraktionsführer von SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellen noch am Abend des 17. eine Bedingung: kein Mitglied des Regierungskabinetts. Damit sind Schäuble, der wegen Gesundheitsproblemen Schäubles in 2010 bereits ersatzweise als Finanzminister fungierende Verteidigungsminister Thomas de Maiziere und Ursula von der Leyen aus dem Rennen. Man
3. Am 18. wird bekannt, daß Andreas Vosskuhle, Präsident am Bundesverfassungsgericht, „nach Bedenkzeit“ abgesagt hat. CDU, CSU und FDP hatten sich auf ihn geeinigt.

Und genau zu diesem Zeitpunkt beginnt nun der eigentliche Zeitdruck – explizit für Angela Merkel.

Die zentralen Ereignisse gestern:

15.00 Uhr: Telefonkonferenzen der Partei-Präsidien von CDU und FDP. Merkel redet in der Telefonkonferenz, nach Informationen der „Bild“, fünf Minuten am Stück gegen Gauck und fragt anschließend, ob irgendjemand für Gauck sei. Alle schweigen. Doch in der FDP-Telefonkonferenz spricht man sich nun, völlig überraschend, für Gauck aus. Für CDU und CSU, und ganz sicher auch für den Machtzirkel um Kanzlerin Merkel, ist das ein Schock.

Nachvollziehbar wird dies aus der Ankündigung Merkels unmittelbar nach Wulffs Rücktritt. Mit ihrer Ankündigung auf SPD und Bündnis 90/Die Grünen zuzugehen, hatte Merkel die FDP vor den Kopf gestoßen und dem Zaunpfahl „große Koalition“ gewunken.

17.30 Uhr: Vier-Augen-Gespräch zwischen Merkel und FDP-Vorsitzendem Philipp Rösler (Quelle: Bild-Ticker). Merkel setzt Rösler die Pistole auf die Brust und fragt ihn, ob die FDP ein Ende der Regierungskoalition wolle. Irgendwann im Gespräch fällt Merkel offenbar auf, daß Rösler die Pistole in der Hand hat und nicht sie.

Und siehe da: bereits um 17.37 Uhr meldet die dpa (Quelle: BZ-Ticker), daß man in der SPD davon ausgeht, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel Joachim Gauck als Kandidaten akzeptieren wird. Hier muss unmittelbar nach oder aus dem Gespräch zwischen Merkel und Rösler sofort etwas weiter gegeben worden sein. Und zwar an die SPD. Merkel selbst wird das wohl nicht gewesen sein.

In dieser Situation muss man folgendes Szenario berücksichtigen: falls die FDP-Delegierten in der Bundesversammlung mit SPD und Grünen stimmen und die Koalition platzt, könnten diese Parteien im Bundestag Merkel ohne Probleme abwählen und durch ein konstruktives Misstrauensvotum einen neuen Kanzler wählen. Nach den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag, resultieren aus der Bundestagswahl 2009, ist dies ohne weiteres möglich.

Und Neuwahlen kann nur ein amtierender Kanzler / eine Kanzlerin beantragen, keine bereits abgewählte Kanzlerin. Und vor ihrer nun plötzlich im Raum stehenden Abwahl könnte Angela Merkel Neuwahlen nur bei einem amtierenden Präsidenten beantragen, nicht etwa bei dessem kommissarischem Vertreter, Bundesratspräsident Horst Seehofer. Denn nur ein amtierender Bundespräsident kann das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. D.h.: Angela Merkel hätte auch im Vorfeld der Bundesversammlung keine Chance gehabt, Neuwahlen zu erreichen. Und nach der Wahl hätte sie dies bei einem Präsidenten tun müssen, der soeben von SPD, Grünen und FDP gewählt worden wäre, wenn sie dafür überhaupt noch Gelegenheit gehabt hätte.

19.45 Uhr: Merkel gibt sich geschlagen und akzeptiert Gauck, der zuvor erklärt hatte, er würde nur Präsident, „wenn gewährleistet sei, dass er nicht als streitiger Kandidat zwischen großen Lagern gelte.“

Kurz nach 20 Uhr: Merkel ruft Gauck auf dessen Handy an. Später wird er sagen, er sei von den Anruf „überrascht“ worden. Das ist durchaus nachvollziehbar, weil zuvor die Nachricht die Runde gemacht hatte, daß er angesichts seiner Umstrittenheit seine Kandidatur zurückzieht. Auch die eindeutige Ablehnung aus CDU und CSU konnte an diesem Tage Gauck überall nachlesen. Was Merkel ihm da nun am Telefon erzählt haben mag, wer weiss. Gauck willigt jedenfalls in die faktische Ernennung zum Bundespräsidenten ein und äußert auf der blitzschnell einberufenen Pressekonferenz mit Claudia Roth, Sigmar Gabriel, Horst Seehofer, Angela Merkel und Philipp Rösler mehrfach, daß er einigermaßen „verwirrt“ sei.

Die Pressekonferenz gegen 21.15 Uhr schließlich ist ein Potburri der blöden Sprüche und der im „politischen Berlin“ systemischen Heuchelei. Nur diesmal fällt es auch der (traditionell breiten) Öffentlichkeit in Deutschland auf. Und genau das macht in der Berliner Machtarchitektur die eigentliche Katastrophe aus: wenn ihre Heuchelei auffällt.

Wer hat nun verloren?

– Madame Alternativlos alias Angela Merkel, die gestern gemerkt hat, daß sie nicht Königin eines (Finanz)Reiches, sondern Kanzlerin einer Republik ist.

– die Kräfte, die statt der Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP eine neue „große“ Koalition aus CDU, SPD und CSU angestrebt haben, allen voran Wolfgang Schäuble und Frank-Walter Steinmeier.

Wer hat gewonnen?

– Zu allererst Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin. Diese alten Spezl aus Niedersachsen wollen eine große Koalition vermeiden und streben eine rot-grüne Koalition in 2013 an (sie tun dies natürlich aus Eigeninteresse, wie alles andere auch).

– die FDP. Sie hat ihre Position in der Regierung gesichert und ihre Position gestärkt.

– mit Einschränkung auch die Republik. Obwohl mit Joachim Gauck ein Extremist und Antidemokrat in Bellevue einziehen wird – diese Einschätzung ergibt sich aus seinen eigenen Aussagen zum friedlichen Zusammenleben der Völker und der von ihm verteidigten Unterordnung von Verfassung, Staat und Gesellschaft unter das Diktat der internationalen Geldmärkte, gerade in Europa – ist zunächst erst einmal eine drohende große Koalition abgewendet. Ganz nebenbei behalten wir auch unsere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die im laufenden permanenten Angriffskrieg gegen die Bürger- und Grundrechte immer noch die beste auf ihrem Posten ist, auch wenn ich persönlich sehr viel mehr erwartet hätte, nämlich schlicht das, was sie selbst vor ihrem Amtsantritt versprochen hat.

Am Wichtigsten jedoch ist: kein einziger Staatsbürger kann sich ab dem gestrigen Tage mehr darauf heraus reden, daß „die da oben“ sowieso machen können was sie wollen. Das können sie nicht. Keiner kann das mehr leugnen. In der Politik einer Demokratie ist nichts alternativlos, schon gar keine Kanzlerin und ihre Entscheidungen.

Aussicht

Von einem Regierungswechsel ist nicht auszugehen. Die FDP wird versuchen den Befreiungsschlag politisch umzumünzen, aber jede Gefährdung der Regierungskoalition weit von sich weisen. Die CDU wird auf ihren Lippen kauen und irgendwann merken, daß auch sie nicht alternativlos ist.

Interessant wird nun, wie sich die Dinge im systemischen Machtkampf der Pro- und Antidemokraten in der Republik weiter entwickeln, wovon ohne Zweifel der Kampf um allen anderen europäischen Demokratien unmittelbar betroffen sein wird. Kristallisationspunkt Nr. 1: die anstehende Entscheidung des Bundestages über die geplante internationale Finanzinstitution „Europäischer Stabilisierungsmechanismus“ ESM, die den Bundestag entmachten soll.

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