Der erste Republikparteitag seit 16 Jahren

Es war nicht alles gut. Dennoch war der Bundesparteitag der Piratenpartei der erste echte Parteitag in der Republik seit dem 16. November 1995, als die Delegierten des SPD-Bundesparteitags Oskar Lafontaine zum Bundesvorsitzenden wählten und ihren alten Vorsitzenden rauswarfen.

An diesem Tage, ich erinnere mich gut, hatte die ganz große Koalition aller etablierten Parteien bereits begonnen. Worte wie Reformstau wurden hin und her geschwungen, alles wurde immer schlechter, Opposition gegen den damals schon seit 13 Jahre amtierenden Kanzlermonarchen und Einheitskanzler Helmut Kohl gab es nicht. Deswegen wurde sie auch nicht gewählt. Die Delegierten der SPD, die in den Jahren zuvor rechtsradikalen Unruhen mit Dutzenden von Toten in Deutschland nicht nur zugesehen, sondern sie aktiv befördert hatte, indem sie alle von der CDU im Schatten dieser faschistischen Umtriebe geforderten Verfassungsänderungen mitmachte (welche die gerade gegründete „Europäische Union“ bis an den Rand des damals Möglichen ermächtigten und die heutigen Staatskrisen in ganz Europa ermöglichten), fühlten sich bedroht.

Sie fühlten sich nicht etwa bedroht durch das Herabsinken einer ehemals sozialdemokratischen, gar sozialistischen Partei, die in einer Diktatur gegründet worden war und nun selbst totalitäre Umtriebe beförderte. Sie fühlten sich nicht etwa dadurch bedroht, daß ein paar Leichen – Außenseiter, Ausländer, „Asylanten“, Minderheitler – auf dem Pflaster, in den Straßenbahnen oder ausgebrannten Häusern lagen.

Sie fühlten sich auch nicht nicht bedroht eingedenk der Warnungen von Juso-Mitgliedern auf Juso-Bundeskongressen, wenn die Jugendorganisation der SPD (die bis heute tatsächlich „Jungsozialisten“ heisst) die geplante Änderung von Artikel 16 Grundgesetz mitmache, werde sie mehr verlieren als nur ein paar Genossinnen und Genossen.

Nein, nein…

Sie fühlten sich bedroht, weil sie um ihre materielle Existenz besorgt waren. Weil sie Angehörige einer Partei waren, vor der sich damals noch jeder denkende Mensch ekelte – weil es damals noch denkende Menschen gab. Weil die Menschen noch keine 10 Jahre Krieg, 10 Jahre weltweite Militärlager und Geheimgefängnisse, Totalüberwachung ihrer Kommunikation (und im Zweifel ihres gesamten Lebens), sowie systematische Raubzüge der Banken und Konzerne unter Kollaboration aller relevanten politischen Organisationen hinter sich hatten und noch nicht durch täglichen Schundbewurf einer gleichgeschalteten Boulevard-Presse so versaut waren, daß sie keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen konnten.

Die Verantwortlichen für diese spätere Entwicklung hatten damals, Ende 1995, diesen Daseinszustand in einer Art mentaler Voraussicht bereits adaptiert. Die SPD-Funktionäre verstanden ihre ehemaligen Wähler einfach nicht mehr, weil diese noch nicht auf ihren Stand herabgesunken waren (was sich im Laufe der Zeit allerdings ändern sollte). Sie, die SPD-Funktionäre, konnten es einfach nicht begreifen, daß man sie so im Stich gelassen hatte. Einfach nicht mehr gewählt zu werden. Wo sie doch immer gemacht hatten, was ihnen gesagt worden war – außer vom Wähler, natürlich.

Also trafen die Delegierten des SPD-Bundesparteitags am 15. und 16. November 1995 eine Wahl. Es sollte das erste und das letzte Mal in ihrem Leben sein, einfach weil sie sonst nie eine haben wollten, sondern immer nur eines: Maul halten, zustimmen, raus. So fühlten sich die Sozens wohl. Das war ihre Welt. Das war der goldene Westen, das goldene Bonn, vorher, nachher, immerdar. So ist es noch heute. Denn wie in Bonn, so auch in Berlin. Amen.

Aber an diesem Tag: es ging nicht mehr. Man hielt es einfach nicht mehr aus. Bei aller Liebe. Bei aller Demut, vor der Partei, dem Großen, Ganzen, Vorstand, heiligen Stuhl, dem da oben, usw – man wollte ja nicht wollen, wie man will. Man wollte ja.

Aber man hielt es einfach nicht mehr aus.

Schließlich wählten die SPD-Delegierten also an jenem 16. November zwischen Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine. Warum wählten sie? Weil Lafontaine, durch einen Fehler in der Regie, einen Tag zuvor bereits auf dem Parteitag hatte reden dürfen. Man muss sich nun den Effekt in einem Leichenschauhaus vorstellen, in dem mal jemand laut sagt „HALLO?! RAUS!“. Und dann kommen sie angewankt. Einfach weil jemand mit ihnen geredet hat.

Da musste man die Parteileichen natürlich wählen lassen. Das hatte man nun davon.

Natürlich wählten die Leichen Lafontaine. Denn wenn uns doch vieles trennt – am Leben sind wir doch alle gern, oder. Und wir möchten doch auch mal erleben, daß man mit uns redet. Ob als Leichen oder nicht.

Mal abgesehen davon, daß Scharping, zur Belohnung dafür alles zu verlieren was ihm zu verlieren möglich war, später Führer der SPD-Fraktion im Bundestag werden durfte (diese Tradition wurde später fortgesetzt) und Oskar Lafontaine sich später einen neuen Haufen Leichen suchen musste: dieser Parteitag der SPD am 15./16. November 1995 war der letzte echte Parteitag, den die Bundesrepublik Deutschland seither gesehen hat.

Bis zu diesem Wochenende. Vielleicht wurde sie durch dieses endgültig zur Berliner Republik.

Es gab vieles, worüber man beim Bundesparteitag der Piraten einfach schmunzeln musste. Manches begeisterte.

Es waren an diesem Wochenende die in jahrelangem Streß zu konstruktiven Organisations-Pragmatikern geschmolzenen erfahrenen drei- und vierstelligen Mitgliedsnummer-Piraten, die den ganzen Haufen beisammen hielten. Mein klarer Favorit: Wahlleiter Stephan Urbach. Man stelle sich jetzt mal einen Heterosexuellen vor, wie er in einem Tuntenlokal aus einfachen Bargästen ein Hip-Hop-Ballett formieren soll und in geübtem Tonfall eindringlich die Tanzschritte und Gestiken erklärt („ja, die blaue Karte. DIE BLAUE KARTE!!!“). Der (gescheiterte) Abwahlantrag gereichte ihm zur Ehre.

Der ganze Parteitag zeigte auf, welchen Blödsinn Informationsindustrie und Etablierte vorher erzählt hatten (und leider auch fähige Leute, die so doof waren mit dem „Spiegel“ zu reden und dann noch über den Holocaust).

„Führerpartei! Nein, Chaoten! Da lang, nein, da lang!“

Doch alles Rumrudern half nichts. Die machten einfach was sie wollten. Und ruckzuck hatte man, neben der ganzen Infrastruktur für 2000 Leute („Unmöglich! Geht nie!“), auch die ganze Partei strukturiert und hinsichtlich der weiteren Organisationsfähigkeit effektiv aufgestellt.

Für alle Journalisten der Staatsmedien und Industrie muss es quasi eine Folter gewesen zu sein, das alles mitanzusehen. Das kannten sie nicht. Das hatten sie einfach noch nie gesehen. Das war genau das, wovor sie ihre Eltern immer gewarnt hatten. Das könne mal wieder kommen, sowas. Deren 68-Schoß – (Alles Eure Schuld!) – war fruchtbar noch. Und da kam es schon gekrochen, aus dem Grundgesetz. Igitt ih pfui! Das macht man nicht! Mach tot, Macht! Mach doch endlich tot, sowas. Macht! Macht! Macht! Muss, muss, muss! Macher tot, Macht sauber! Jawoll ja! (Und immer auf, ganz wichtig, „emanzipatorisch“ machen, das mag das Pack, zum Einschlafen gerne.)

Nun, die Wahl eines Kriminologen und Regierungsdirektors im Verteidigungsministeriums zum Bundesvorsitzenden, der sich selbst als „Koordinator und Controller“ der Partei bezeichnet und anschließend Regierungskoalitionen mit den Etablierten nicht ausschloß, war eine Wahl, die eben nicht Delegierte (also Funktionäre), sondern einfache Mitglieder trafen. Sie konnten aus einer Reihe von Kandidatinnen und Kandidatinnen wählen, die sich – gruselig oder nicht – auch alle vorstellen durften. Sie wurden teilweise sogar zum Bundesvorsitzenden gewählt.

Gelassenheit und Mut, das zeigten die Organisatoren dieses Parteitags. Ebenfalls ein Alleinstellungsmerkmal in der Parteien-Branche.

Die Wahl eines Bundesvorsitzenden durch eine bereits in Länderparlamenten vertretene (und damit für die „Machtarchitektur“ relevante) Partei ist nun, wie beschrieben, ein seit über 16 Jahren einmaliger Vorgang in der Republik.

Zur Erklärung: eine Wahl ist eine Wahl. Und nur eine Wahl zwischen zwei oder mehr Kandidaten ist tatsächlich eine Wahl. Ansonsten ist es eine Ernennung mit Stimmungsbild und eventueller Option auf Fehlschlag eines Planungsvorhabens von Vorgesetzten.

Die Wahl eines Bundesvorsitzenden war also bereits ein jahrzehntelang unvorstellbares Novum in der Parteien-Branche. Aber eine Wahl durch einfache Mitglieder auf einem Bundesparteitag, nicht durch Delegierte, das hat es, nach meinem bescheidenen Wissen, noch nie gegeben seit dem Faschismus, weder in West- noch in Ostdeutschland (für Korrekturen oder Anmerkungen bin ich wirklich dankbar, bitte in die Kommentare).

Der einzige vergleichbare Vorgang war die Urwahl eben jenes SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping durch die SPD-Mitglieder im Jahre 1993, nach deren Vorgabe dann ein Sonderparteitag (von Delegierten) entschied. Daß dieser durch die SPD-Basis gewählte Vorsitzende eine solche Katastrophe darstellte, daß er knapp zwei Jahre später in einer  Ausnahmesituation durch eben jenen Parteitag im November 1995 wieder versenkt werden musste, galt fortan als Beweis, daß Mitglieder von Parteien zur Demokratie schlicht nicht geeignet seien und man innerparteiliche Demokratie deshalb – zum eigenen Besten – mit aller Kraft unterdrücken müsse. Der Denkfehler dabei war natürlich, daß dies nur für die Mitglieder der SPD und aller anderen etablierten Parteien galt.

Die Folge dieses logischen Eisprungs der Antidemokratie war, daß man in der etablierten Partei-Oligarchie schnell zum Schluss kam, daß die erwiesene Demokratieunfähigkeit politisch „aktiver“ Partei- und Karteileichen selbstverständlich erst Recht für die gesamte Bevölkerung zu gelten habe.

Sehet her, so hieß es seit damals, das kommt dabei heraus, wenn man das Pack etwas bestimmen lässt: Untergang! Katastrophen! Erfolglosigkeit! Kinderei! Pubertät! Wir müssen führen, führen, führen! Wir müssen! Wir! Muss, muss, muss! -Ismus, -ismus, -ismus! Links, rechts, links, rechts! Schnauze halten, Ruhe im Glied!

Man konnte nun am Samstag geradewegs physisch mitfühlen, wie den seit Jahrzehnten sorgenfrei in Deutschland schaltenden und waltenden Alternativlosen der Schreck in die schrumpfenden Glieder fuhr. Simple Abstimmungen wurden zur Reuters-Meldung. Die (gewohnheitsrechtlich eigentlich zwingend vorgeschriebene) Amtsmonarchie von Funktionären über zwei Jahre – abgelehnt. Wenigstens 2 Jahre Amtszeit für den Bundesvorstand? Auch nicht. Amtsperiode von vier Jahren (was für eine Frechheit) für die Mitglieder im Bundesschiedsgericht – weg damit.

Sowas hatte man lange nicht gesehen, ganz offensichtlich. Das Flaggschiff der Möchtegern-Postdemokraten kam aus dem Spucken gar nicht mehr raus. (Gift und Galle die 1., Klappe, Gift und Galle die 2. , Klappe, im Kasten, danke, wieder ans Catering.)

So ging´s also nicht. Hmm. Es musste was geschehen.

Und was dann geschah, darüber in einem weiteren Artikel, der weniger positiv ausfallen wird.

Denn von Distanzierungen und eigentlich selbstverständlichen Grundlagen einmal abgesehen, beschloss die Piratenpartei Deutschland an diesem Wochenende des so brisanten Frühlings (zur Abwechslung auch mal) innerparlamentarischer Demokratie in der Republik keinerlei politische Inhalte. Obwohl die Piratenpartei vor zwei Landtagswahlen steht, wurde kein einziger Programmantrag auch nur abgestimmt. Unter anderem nicht behandelt wurden:

– die Aufnahme des Grundgesetzes in das Grundsatzprogramm (Programmantrag 051),

– die Säuberung der Verfassungsartikel 10 und 13 von geschwätzigen und zersetzenden „Ergänzungen“ zwecks Installierung und Durchführung von Spionage-Programmen gegen die Bevölkerung „(großer Lauschangriff“, etc), die Ende der 90er u.a. natürlich auch von der SPD Oskar Lafontaines und Gerhard Schröders betrieben wurden (Programmantrag 081),

usw, usw.

Stattdessen fand man schon am ersten Tag die Zeit, just während die Wahl zum Bundesvorstand lief und alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer abgelenkt waren, plötzlich durch einen Geschäftsordnungsantrag einen erst 13 Tage vor dem BPT eingebrachten „sonstigen“ Antrag vorzuziehen und die Gründung einer EU-Piratenpartei zu beschließen.

Artikel zum Thema folgt

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