„Es ist Zeit, Stuttgart 21 endlich als Lehrstück für die internationalen Finanzmachenschaften zu begreifen.“

Dokumentation: Die Rede von Joe Bauer, Kolumnist und Publizist, am 29. September auf der Stuttgarter Großdemonstration gegen das Industrie- und Immobilienprogramm „Stuttgart 21“ (S21).

Willkommen auf dem Schlossplatz, hier im Vorhof des Neuen Schlosses und der geballten Provinzmacht. Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag. An diesem 29. September, rechtzeitig zur Erinnerung an den Schwarzen Donnerstag, erleben wir in Stuttgart, wie uns die Straße als wichtigstes Forum des Protests eine neue politische Perspektive öffnet.

Nach jahrelangem Kampf gegen ein schwachsinniges Großprojekt zur Bereicherung von Immobilien-Spekulanten haben viele Menschen in dieser Stadt begriffen, dass Stuttgart 21 nicht nur ein lokaler Sündenfall ist. Vielmehr ist S 21 ein Symptom für das organisierte Zusammenspiel der Finanzindustrie und ihrer Politiker. Das heißt: Es ist Zeit, Stuttgart 21 endlich als Lehrstück für die internationalen Finanzmachenschaften zu begreifen.

Diese Demonstration heute trägt zu einer politischen Bewusstseinserweiterung bei. Darauf können wir ein wenig stolz sein – auch auf die Solidarität mit anderen Demos heute in der ganzen Republik zum Thema „UmFAIRteilen – Reichtum besteuern“.

Unsere Kundgebung richtet sich nicht allein gegen das Stuttgarter Milliardengrab. Doch wehren wir uns nach wie vor gegen den Verlust der bürgerlichen Rechte, gegen den Verlust des Respekts, und wir wehren uns dagegen, dass die Reichen auf Kosten der Armen immer reicher werden. Deshalb geht es heute gegen Bankendiktatur, gegen Spekulantengier, gegen Justizwillkür. Und wir denken über den Kessel hinaus, der Druck im Kessel ist hoch.

Vergessen wir nicht: Schon zur großen Zeit des Stuttgarter Protestes, als zigtausend Menschen auf die Straßen gingen, versuchten Politiker und Medien die Motive der Demonstranten lächerlich zu machen. Ihre Bewegung zu verhöhnen – als einen Haufen Sektierer, als Ewiggestrige, die sich gegen einen neuen Bahnhof wehren. In Wahrheit aber ging es darum, die Regierungsmacht als Lobby der Wirtschaft zu zementieren. Und leider waren auch wir, die Protestierenden, lange nicht gut genug informiert. Trotzdem wussten wir: Es liegt etwas in der Luft. Etwas stimmt nicht in dieser Stadt, in diesem Land.

Und dann wurde uns klar: Die Politiker rauben den Menschen ihre Würde als Bürger. Die Bürger begriffen, dass sie von arroganten Landes- und Rathauspolitikern übergangen, ignoriert und getäuscht werden. Dass sie nach Strich und Faden belogen wurden.

Die Politiker in ihrer Überheblichkeit reagierten erst verunsichert, als sie von ihren Spitzeln erfahren mussten, dass bei diesen Stuttgarter Demos nicht die üblichen Verdächtigen unterwegs sind. Rasch begannen sie deshalb, auch jene Bürger zu verhöhnen, die arbeiten, Steuern zahlen, womöglich sogar vermögend sind. In den Medien verspottete man sie als Protest-Methusalems, als Luxus-Demonstranten mit zu hoher Renten. Als spießige Wutbürger.

Erst neulich habe ich ein kleines Buch über Stuttgart 21 gefunden, es stammt aus dem Jahre 1996, herausgegeben hat es Winnie Wolf, der nachher auf dieser Demo sprechen wird. Einer der Autoren war der Architekt Utz Rockenbauch, der Vater von Hannes Rockenbauch. Schon damals, vor sechzehn Jahren, war zu lesen, dass Stuttgart 21, ich zitiere, „weitgehend unter Ausschluss einer demokratischen Öffentlichkeit entwickelt“ wurde. Der damalige Bundesverkehrsminister Wissmann bezeichnete mit üblichem Größenwahn S 21 als Modell für ganz Deutschland. Prompt formulierte das Magazin „Focus“ eine Jubelüberschrift, Zitat: „Das Mega-Milliarden-Ding – das 41 000 Kilometer lange Schienennetz ist als Immobilie pures Gold.“

Von Anfang an war also klar, dass es auch bei Stuttgart 21 um Bodenspekulationen ging – und nicht um Verkehrs- und Stadtplanung. Mit den Schmierenshows des Schlichtungsfernsehens versuchte man den Bürgern später vorzugaukeln, man löse mit diesem Großprojekt Verkehrsfragen. So hat man versucht, das Immobilien-Geschacher zu vertuschen. Und leider haben Leute des Protests bei diesem Täuschungsmanöver mitgemacht, manche wohl aus Geltungssucht.

Dennoch ging der demokratische Lernprozess weiter, wenn auch nicht ohne Enttäuschungen. Nachdem die Pforzheimer Machtbacke Mappus eine Polizei-Armee mit Wasserwerfern auf die Demonstranten gehetzt hatte, hofften die Bürger wie so oft, die Dinge mit Wahlen verändern zu können. Die Folgen sind bekannt. Der neue Ministerpräsident Kretschmann ignoriert den Bürgerprotest genauso arrogant wie sein Vorgänger und gefällt sich in der Rolle als Grüß-Gott-August am Hosenzipfel von Frau Merkel oder als Schusters Zapfhahn auf dem Cannstatter Wasen. Er schweigt im wahrsten Sinne des Wortes staatstragend, nämlich um der Macht willen – und verschanzt sich hinter der mit reichlich Wirtschaftskohle beeinflussten Volksabstimmung.

Wir müssen aufpassen, der Kulturabbau hat bereits begonnen: Gestern zum Beispiel wurde die Fusion der Radio-Sinfonierorchester von Stuttgart und Freiburg beschlossen. So wird gewachsene Kultur zerstört. Die außerparlamentarische Opposition ist also notwendiger denn je. Und es spielt keine Rolle, wenn Initiativen wie Occupy die Luft ausgeht. Es wird neue geben. Und die Stuttgarter Bewegung lebt. Sie ist groß.

Meine Damen und Herren, es mag vielleicht nicht motivierend sein, auf Protestkundgebungen den Protest selbst zu kritisieren, ich mache es heute trotzdem: Bei den Stuttgarter Kundgebungen hat man das Großprojekt S 21 viel zu oft isoliert betrachtet, zu häufig allein die planerischen Katastrophen angeprangert. In Teilen der Bewegung herrscht politische Engstirnigkeit. Es war sogar schwierig, verschiedene Kräfte der Bewegung heute von dieser thematisch erweiterten Kundgebung zu überzeugen.

Es hat doch keinen Sinn, sich auf den immer gleichen Aspekt eines Themas zu versteifen. In Wahrheit geht es um den Kampf gegen den Wahnsinn kapitalistischer Zockerei und Profitmaximierung. Der soziale Frieden ist in Gefahr.

Wir wissen es doch längst: Die heilige deutsche Ingenieurskunst hat sich als so glaubhaft erwiesen wie die Unsinkbarkeit der Titanic. Man muss nicht unablässig über technischen Murks reden – und auch nicht den Berliner Flughafen als Paradebeispiel für die Großkotzigkeit deutscher Weltenplaner benennen. Es reicht bereits, sich das Stuttgarter Staatstheater anzuschauen. Ein läppischer Routine-Umbau wurde zum Desaster.

Allenthalben heißt es, den Bürgern von Stuttgart gehe es zu gut, sie hätten kein Recht zu protestieren. Auch dies ist ein Versuch der Propaganda, den Bürger zu entmündigen, ihn als übersättigten Tunichtgut darzustellen. Wie der wahre Bürger auszusehen hat, führt man uns derzeit ja im OB-Wahlkampf vor. Motto: Eine Brezel als Oberbrezelmeister.

Nach allen Versuchen, dem Bürger die Würde zu nehmen, wird jetzt sogar das Wort Bürger als Reklamefloskel missbraucht. Über diese Peinlichkeit aber müssen wir uns nicht weiter empören. Vielmehr muss uns klar sein, warum es gilt, weiterhin die Demonstrationsfreiheit zu verteidigen und wahrzunehmen: Würde es die Straße als Forum der Opposition nicht mehr geben, kämen die Schweinereien der Abzocker überhaupt nicht mehr ans Licht.

Unterdessen wird die Stadt mit hässlichen Investoren-Bauten verschandelt, mit Konfektionskästen, die den Leuten ihre Wohnungen nehmen und immer mehr Autos in die Innenstadt bringen. Wir kämpfen deshalb nicht nur gegen den Stuttgarter Tiefbahnhof, sondern gegen einen Tiefbahnhof als Symbol einer groß angelegten Stadtzerstörung zugunsten des Investoren-Profits. Wir kämpfen gegen eine Politik, die rücksichtslos von oben nach unten regiert, die den Bürger entmündigt, ihn nur noch als Kostenfaktor betrachtet.

Man muss die Zusammenhänge sehen: Es ist doch kein Zufall, wenn die Landesbank zum Baubeginn von Stuttgart 21 für eine Milliardensumme Wohnungen an einen Immobilienkonzern verkauft und damit dem Mietwucher ausliefert. Was ist das für eine Politik, Mietern wie etwa den Leuten am Nordbahnhof ihren Lebensraum zu nehmen. Wohin der Weg von Stuttgart städtebaulich geht, kann man im neuen Buch der StZ-Kritikerin Amber Sayah nachlesen, es heißt „Architekturstadt Stuttgart“ – ich zitiere:

„Auf dem Vormarsch ist die kalte Beliebigkeit schnell hochgezogener Büro- und Geschäftshäuser, dazu schreitet im Zentrum die Ausweitung der Konsumzone mit immer mehr immer gleichen Shoppingmalls fort, an den Rändern das gesichtslose Nebeneinander von Gewerbebauten, Discountmärkten, Tankstellen und Fertighäusern wie überall.“

Ich füge hinzu: Doch nicht überall wird geschwiegen. Deshalb sind wir heute auf dem Schlossplatz, in der Nachbarschaft regierender Lobbyisten. Der Protest ist und bleibt erste Bürgerpflicht.