Dokumentation: Die Einladung von Aktivistinnen und Aktivisten der Stuttgarter Bürgerbewegung gegen das regionale Industrieprogramm „Stuttgart 21“ (S21) zu einem Konvent zur Gründung eines städtischen BürgerInnenparlaments am 19. Januar 2013 im Rathaus Stuttgart, sowie Erläuterungen und Klarstellungen zur Stuttgarter Rathaus-Besetzung am 10. November.
Wir Aktivistinnen und Aktivisten möchten uns ausführlicher zu der Aktion „Rathaus-Besetzung“ und ihren Anliegen (siehe auch Pressemitteilung vom 10. November 2012) äußern:
Zur Klarstellung
Wir sind weder – wie von den ,,Stuttgarter (sogenannten) Nachrichten“ fälschlich gemeldet – in das Rathaus eingedrungen, noch haben wir das Sicherheits-Personal in seiner Bewegungsfreiheit gehindert. Es besteht daher kein Anlass, an der Offenheit des Rathauses etwas zu verändern.
Unsere Motivation
Ziel der Aktion war es, der Bürgerschaft in aller Dringlichkeit die immer weiter fortschreitende Stadtzerstörung und die bevorstehenden Eingriffe in den Rosensteinpark vor Augen zu führen.
Das brachten wir mit den beiden Transparenten „Stadtzerstörung endlich stoppen“ und „Hände weg vom Rosensteinpark“ klar und deutlich sichtbar zum Ausdruck. Wir erleben das, was derzeit in Stuttgart geschieht, als Stadtzerstörung und eben nicht mehr als Um- oder Neugestaltung.
Auch die Forderung an den OB, sein Vetorecht im Lenkungskreis zu Stuttgart 21 auszuüben, zielt darauf ab, die Stadt- und Parkzerstörung zu stoppen. Der Zeitpunkt der Aktion musste aus unserer Sicht zwingend vor möglichen ersten Fällarbeiten im Rosensteinpark sein.
Das Parlament der Bürgerinnen und Bürger
Mit der Forderung nach einem „entscheidungsbefugten Parlament der Bürgerinnen und Bürger“ wollen wir den Anstoß zu einer echten Vertretung von Bürgerinteressen geben.
Wir werden einen Konvent einberufen, in dem möglichst viele an ihrem Gemeinwesen interessierte Bürgerinnen und Bürger zusammenkommen, um über die Einsetzung des zu gründenden BürgerInnenparlaments zu beraten. Wir sehen darin ein Demokratieexperiment, dessen Gestalt und Form unter möglichst vielfältiger Beteiligung entwickelt wird.
Ein Beispiel
Beispielhaft für ein solches Demokratieexperiment steht der G1000-Prozess, welcher in Belgien anlässlich der Zeit ohne Regierung initiiert wurde, und in dem eine immer wieder wechselnde Bürgerschaftsvertretung in einem dreistufigen Prozess sehr wohl auch komplexe Themenstellungen abarbeiten und Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls treffen konnte. Korruption und Lobbyisten-Einfluss wurden durch die wechselnde Zusammensetzung des Gremiums verhindert.
Der auf ein Jahr angelegte Prozess startete im November 2011 und endete im November 2012. Die Schlusserklärung wurde am Sonntag nach der Rathaus-Besetzung abgegeben und veröffentlicht.
Kritik am Gemeinderat und OB
Daraus, wie sich hier in Stuttgart – im Großen wie im Kleinen – in der Vergangenheit begangene Fehlleistungen und Täuschungen zum Nachteil der Stadt angesammelt haben, lässt sich ohne weiteres die Politikerverdrossenheit und der Verlust des Vertrauens in die bestehenden Entscheidungsgremien und der sich in fortdauernden Protesten artikulierende Bürgerzorn erklären.
Partei- und Fraktionszwänge verhindern Entscheidungen, welche der Vernunft und dem Allgemeinwohl folgen. Interessen(schief)lagen entstehen überdies bei Amtsträgern durch ihre Mitgliedschaft in Gremien von Aktiengesellschaften, Banken und Medien-Konzernen.
So sind diese Personen nicht mehr ihrem Gewissen allein verpflichtet, sondern einer ganzen Reihe von Interessenkonflikten ausgesetzt, die sich aus ihren Nebentätigkeiten ergeben. Das ist nicht gut für die Demokratie. Wir werfen daher dem Gemeinderat, vor allem aber dem bisherigen OB, fortgesetztes verantwortungsloses Handeln im Amt vor.
Als Beispiele um Stuttgart 21 seien hier genannt:
– November 1995: Unterschrift der Stadt Stuttgart unter den Rahmenvertrag zu Stuttgart 21, ohne je selbst konzeptionelle Alternativen zu entwickeln, zu prüfen und durchzurechnen.
– Der Bahn wird darin bereits der Erlös aus den Grundstücksverkäufen garantiert, so dass die Stadt in ihrer städtebaulichen Planung auf eine „Mindestverwertbarkeit“ festgelegt wird.
– März 1997: Die ,,offene Bürgerbeteiligung“ zu Stuttgart 21 täuschte Beteiligung vor, war aber alles andere als offen, und erlaubte keine grundsätzliche Infragestellung des Projekts.
– 2002: Aussparung des Tiefbahnhoftroges aus der Heilquellen-Schutzzone im Schlossgarten Mutmaßlich, um Stuttgart 21 überhaupt erst planen zu können.
– 2006: Kauf des Mineralbades Berg, mutmaßlich um bei zu erwartenden baubedingten Schädigungen der Mineralquellen gegen Schadenersatzklagen gefeit zu sein.
– Am 04.10.2007 beschließt der Gemeinderat eine Vertragsermächtigung für OB-Schuster, um die Finanzierung von Stuttgart 21 auch durch eine erhöhte Risikoabsicherung sicherzustellen. Kurz darauf unterschreibt OB Schuster die Finanzierungsverträge.
Weitere Beispiele sind
– 1999-2003: Verkauf der Klärwerke, des Wasser- und des Abwassernetzes an US-Investoren als sogenannte Cross-Border-Leasing (CBL)-Geschäfte, allesamt mit Verlusten für die Stadt
– 2009: Während der Finanzkrise erhöht die Stadt ihre Beteiligung an der LBBW um 946 Millionen Euro um deren Pleite abzuwenden. Weitere 611 Millionen Euro sollen nun folgen. Der Beschluss hierzu wurde am 22.11.2012 im Gemeinderat gefasst!
– Mit der Ablehnung des Bürgerbegehrens „Energie- & Wasserversorgung Stuttgart“ als „rechtlich unzulässig“ durch den Gemeinderat am 6.12.2012 bleiben die kommunalen Versorgungsgrundlagen weiterhin der demokratischen Mitbestimmung entzogen.
Die Liste ließe sich noch fortsetzen.
Bezeichnend ist, dass im Gemeinderat stets um jeden Euro gerungen werden muss, wenn es um relativ kleine Beträge für Kunst, Kultur und Bildung oder Soziales geht. Wenn es aber um zwei- oder dreistellige Millionenbeträge für Banken oder Immobilien-Geschäfte geht, dann wird immer höchste Eile und Alternativlosigkeit vorgeschoben!
Die Bürgerinnen und Bürger können zu Recht erwarten, dass der Gemeinderat in der aktuellen chaotischen „Bau-„Situation um das Immobilienprojekt Stuttgart 21 bei der DB AG interveniert, um die ungeklärten zentralen Themen wie Sicherheit von Fahrgästen und Passanten im Umfeld der Baumaßnahmen am Kopfbahnhof, Grundwassermanagement sowie zum geplanten Brandschutz beim künftigen Kellerhaltepunkt faktenbasiert zu klären. Es ist absolut unzureichend, sich darauf zu beschränken, die DB AG im Umwelt- und Technikausschuss ihre Planungen darstellen zu lassen.
Der Zustand unserer Demokratie
Es ist ganz offensichtlich nicht gut für ein Gemeinwesen, wenn Menschen über längere Zeiträume Ämter und Posten innehaben. Die Gefahr der Einfluss- oder Vorteilsnahme, der Kungelei, der Interessenkonflikte ist größer, als dass ein Mensch dagegen dauerhaft bestehen kann. Viele lebensnahe Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung bleiben unberücksichtigt.
Wir betrachten es als zwingend notwendig, dass sich in unserer Demokratie etwas verändern muss, da unter ihrem Deckmantel durch bestimmte Interessengruppen eine skrupellose, wirtschafts- und damit machtorientierte Vermögensumverteilung sondergleichen betrieben wird.
Für die Folgen und finanziellen Schäden haftet einzig die Allgemeinheit (siehe Finanz-, Banken-, Eurokrise). Der Souverän, von dem nach der Verfassung „alle Macht“ ausgeht, ist in Wahrheit machtlos ausgeliefert. Das ist kein Zufall, das ist auch kein missliches Schicksal, sondern das hat Methode und ist so gewollt.
Fazit
Den aktuellen Zustand bezeichnen wir als „Demokratiemissbrauch“, der das Gemeinwohl akut gefährdet und uns als Bürgerinnen und Bürger dazu zwingt, zu handeln.
Mit der Besetzung des Rathaussaales wählten wir den einzig richtigen Ort, denn hier wurden und werden unter dem Diktat der Tagesordnung im Eiltempo scheinbar alternativlose Entscheidungen getroffen, die sich auf die Stadt langfristig schädigend auswirken werden.
Zeit zu handeln
Die uns in der Verfassung garantierte Demokratie wollen wir mit Leben erfüllen, unsere Verantwortung wahrnehmen: „Stuttgart selber machen“.
Wir laden daher ausdrücklich ALLE interessierte Mitbürgerinnen und Mitbürger zu einem Gründungs-Konvent ein, um das Parlament der Bürgerinnen und Bürger Wirklichkeit werden zu lassen:
Samstag, 19. Januar 2013, 11 – 17 Uhr im Rathaus Stuttgart, Großer Sitzungssaal