Analyse zur Ernennung von Enrico Letta (P.D.) durch Präsident Giorgio Napolitano (P.D.) zum Präsidenten des Ministerrats / Ministerpräsidenten.
In meinem Ticker zum 6. Wahlgang der Präsidentenwahl am Samstag, vor dem nach einer gemeinsamer Absprache der Nomenklatura in der Nacht zum Samstag plötzlich der amtierende Napolitano aus dem Hut gezogen worden war, sprach ich von zwei Möglichkeiten: entweder würde Napolitano das Parlament intakt lassen, dann müsse es endlich Ausschüsse und eine Parlamentskommission bilden (was seit den Parlamentswahlen im Februar durch die etablierten Parteien sabotiert worden war), oder der neue alte Präsident würde das Parlament erneut auflösen. Ich schätzte, dass Napolitano das Parlament auflösen, die „Mitte-Links“-Partei Partito Democratico P.D. bei den Wahlen eine vernichtende Wahlniederlage erleiden und großer Profiteur die Ein-Mann-Partei Silvio Berlusconi würde, ebenso die Fünf Sterne Bewegung von Beppe Grillo, die bei Einbindung der zerstreuten linksdemokratischen Kräfte eine Chance hätte in der Abgeordnetenkammer vor Berlusconis Parteien-Listen-Koalition zu kommen und damit den bizarren Bonus des italienischen Wahlrechts von garantiert 340 der 630 Sitze einzufahren. Ich schätzte, dass der mittlerweile zurückgetretene und abgetauchte P.D.-Generalsekretär Pier Luigi Bersani durch die zusammen mit Mario Monti und Silvio Berlusconi in der Nacht zum Samstag in Rom organisierte präzedenzlose Wiederwahl eines Präsidenten mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent nicht nur Napolitano wieder zum Staatsoberhaupt, sondern Berluconi zum Ministerpräsidenten gemacht hat.
Napolitano entschied sich anders. Er löst das Parlament nicht auf, sondern ernennt einen blassen Mann aus der zweiten Reihe der P.D., ex-Minister Enrico Letta, zum Präsidenten des Ministerrats, der vor allem im Ausland allgemein Ministerpräsident oder „Regierungschef“ genannt wird. Was hat das nun zu bedeuten?
I Das Parlament
Die Partito Democratico („Demokratische Partei“) P.D. ist bereits soweit erodiert, dass sie in der Tat eine Parlamentswahl als existentielle Bedrohung auffassen muss. Worauf ich bereits am Samstag hinwies: die P.D. ist ein Scheinriese, der in der Abgeordnetenkammer, vergleichbar mit dem Bundestag, bei der Parlamentswahl gerade einmal auf 25,4 Prozent kam, aber dank des Listenverbindungen massiv bevorteilenden Wahlrechts 292 Abgeordnete bekam. Zum Vergleich: die Fünf Sterne Bewegung kam ohne Listen-Verbündete auf 25.6 Prozent, also mehr als die P.D., bekam aber nur 108 Abgeordnete (hier noch einmal das Endergebnis der Parlamentswahl auf der Webseite des italienischen Innenministeriums.)
Ich verwies nun bereits am Samstag darauf, dass die Sinistra Ecologia Libertà (“Linke Ökologie Freiheit”) S.E.L., die wichtigste Partei der P.D.-Listenkoalition, nicht für die P.D.-Kandidaten Franco Marini und Romano Prodi gestimmt und damit erheblich zu deren Niederlage beigetragen hatte. Mittlerweile hat sich bestätigt: die linksalternative S.E.L. hat die Seite gewechselt und geht, angesichts des Bündnisses der P.D. mit Berlusconi, in die Opposition. Eine Kooperation mit der MoVimento 5 Stelle (Fünf Sterne Bewegung) hat bereits eingesetzt (schon während der Präsidentenwahl stimmte die S.E.L. für den Fünf Sterne Kandidaten Stefano Rodota). Für das Kapitalismus-Kartell ist das eine weit über Italien hinaus reichende Katastrophe. Die exzessive Plünderung und Zerstörung der europäischen Demokratien und Gesellschaft basiert fundamental auf der aktiven oder passiven Kollaboration durch alle etablierten linken, sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen, sozialistischen und kommunistischen Organisationen, für die das Euro-Finanzsystem als „antinationales“ und damit vermeintlich emanzipatorisches und fortschrittliches „Projekt“ sakrosankt ist, ganz gleich welches unbeschreibliches Elend es anrichtet.
Gerade eine Zusammenarbeit der basisdemokratischen Fünf Sterne Bewegung und der linksökologischen S.E.L. muss beim internationalen Kapitalismus-Kartell und seiner Euro-Einheitsfront quer durch alle vermeintlich gegensätzlichen Strömungen äußerste Besorgnis auslösen.
Kurz gesagt: Der Zerfall der P.D., als dem entscheidenden Topfdeckel über den linken und sozialen Spektrum in der Republik Italien, hat bereits ein solches Ausmaß angenommen, dass Napolitano (und seine Dompteure des euro-systemischen Triumvirats der „Troika“ in Berlin, Washington, Brüssel und Frankfurt) eine Parlamentswahl in Italien schlicht nicht mehr wagen.
II Der Präsident
Natürlich zeigten sich der Militärpakt N.A.T.O und die U.S.-Regierung, wie zuvor E.U.-Kommissionspräsident Barroso und E.U.-Parlamentspräsident Schulz, erleichtert über die erfolgreich organisierte Neuwahl des alten Präsidenten von Italien. Doch Napolitano ist bereits mehr als müde und hat angekündigt, nur mehr „so lange wie nötig“ als Präsident zu amtieren. Obwohl gesundheitliche Kondition in den Niederungen der Politik keine Rolle spielen sollte, muss davon ausgegangen werden, dass der 87-jährige Präsident die volle Amtszeit bis 2020 nicht durchstehen wird. Die Nachfolge des neuen alten Präsidenten ist bereits jetzt Thema, auch wenn darüber nicht offen gesprochen wird. Übrigens lehnten in einer Umfrage 78 Prozent der Italiener die Wiederwahl Napolitanos ab. Italien hat jetzt also einen Präsidenten, der noch schwächer ist als vorher. Das gilt auch für die Chancen der Agenda, die er vertritt.
III Die Regierungsbildung
Der Präsident der Republik Napolitano hat also Enrico Letta zum Präsidenten des Ministerrats ernannt. Fehlen nur noch die Minister. Letta ist zunächst einmal nur „Regierungschef“ ohne Regierung. Jetzt gegen die Verhandlungen mit Berlusconi über eine Links-Rechts-Regierung los. Und das wird erstens schwer berechenbar, zweitens noch schwieriger und drittens die Erosion der P.D. in einen offenen Zerfall übergehen lassen. Die Mehrheit aller P.D.-Wählerinnen und Wähler lehnt eine Zusammenarbeit mit der Berlusconi-Truppe ab. Im Parlament ist die P.D.-Liste de facto bereits zerfallen. Die P.D. Abgeordneten sind ohne starken Führer, was für Sozens auch in Italien bereits die denkbar größte aller Katastrophen darstellt. Grundsätzlich sind die P.D.-Abgeordneten, wie bisher, natürlich zu jedem Verrat am Wahlvolk bereit. Nichts bereitet ihnen mehr Vergnügen als Schwächere zu quälen und diesen dabei zu versichern, es sei nur zu ihrem Besten. Aber nichts ist schlimmer für real existierende „Sozialdemokraten“, also prostituierte Gläubige eines gespenstischen kapitalistischen Menschenbildes, schlimmer als festzustellen, dass sich die Schwächeren organisieren und dann plötzlich stärker sind als ihre Schinder. Das mögen Sozens nun wirklich überhaupt nicht. Es ist nämlich das Einzige, was sie noch merken – den Tritt, den Einschlag, den politischen Hammer über den Schädel.
Kurz erklärt: die P.D.-Abgeordneten werden nur unter dem Damoklesschwert von Auflösung des Parlaments und Neuwahlen funktionieren, nicht mehr aus der bräsigen Selbstsicherheit alternativloser Soziopathen und Sadisten. Das wird die Sozens sehr viel schwächer und die Lage für weitere zwecks Einsparung des Staates Italien in Abgeordnetenkammer und Senat eingebrachte „Pakete“ unberechenbar machen, von Berlusconi und seinen Kantonisten mal ganz abgesehen. Jede Regierung, die der von Napolitano ernannte Letta nun ernennen will, muss erst einmal eine Vertrauensabstimmung in Abgeordnetenkammer und Senat überstehen. Schon das wird spannend genug.
Fazit: Die Republik Italien ist eine Demokratie und wird es mit jedem weiteren Tag mehr – Kapitalismus-Kartell, „Europäische Union“ und irgendwelche „Entscheider“ hin oder her.