Die Rede von Dr. Christoph Engelhardt, WikiReal.org, auf der 173. Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen das urbane Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21) am 27. Mai 2013. Die Rede erschien zuerst auf dem Portal der Bürgerbewegung Bei Abriss Aufstand
Enteignung trotz Leistungslüge? – Ich bin empört!
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Heute spreche ich zu euch als Bürger. Nicht als Wissenschaftler, der auf die Widersprüche und Fehler in der Planung von Stuttgart 21 hinweist, wie ich es auch in den nächsten Tagen in einem Brief an die Landesregierung mit „23 offenen Fragen zu Stuttgart 21“ wieder tun werde. Ich spreche hier als Bürger, der wie alle anderen ein Opfer ist der Willkür, die dieses Projekt bedeutet. Und als Bürger sage ich:
1. Die Leistungslüge hat ihre Schuldigkeit getan
Ich bin empört! … Denn über 15 Jahre lang wurden wir betrogen, 15 Jahre wurde mit der doppelten Leistung des neuen Tiefbahnhofs geworben. Und mit der noch dreisteren Behauptung der doppelten Kapazität wurde vor dem Finanzierungsvertrag der Nutzen schöngeredet und wurden bei der EU 114 Millionen Euro Förderung erschlichen!
Jetzt sagt die Bundesregierung, die doppelte Kapazität sei doch nur ein „erwartetes Ergebnis“ gewesen, dabei war sie als „Bedingung“ der Förderung angegeben worden. Das ist prima! Wenn sich der Käufer meines alten Autos beschwert, dass es statt 200 wie versprochen nur schlappe 70 Sachen macht. Dann sage ich auch, das war doch nur ein erwartetes Ergebnis!
Aber was sagt Brüssel, wenn auf der Magistrale statt der Kapazitätsverdopplung ein Engpass geschaffen wird – mit EU-Fördergeldern? Klammheimlich wurden diese Versprechen nun von den EU-Webseiten und auch aus dem Turmforum entfernt. Die Lüge hat ihre Schuldigkeit getan. Der Betrug hat sich gelohnt und niemand ist eine Erklärung schuldig!
2. Die tolerierte Lüge bei den Personenströmen
Ich bin empört, … weil die Bahn den Stuttgarter Gemeinderat zu den Personenströmen getäuscht hat. Sie berief sich auf die Richtlinie, verstieß aber dagegen und schönte die Ergebnisse. In der Realität wird S21 ein Gedrängel und Geschubse, weit weg von einem internationalen Vorbild im Komfort. Und schlimmer, der Bahnhof wird im Katastrophenfall zur Todesfalle! Und noch schlimmer: Der Gemeinderat weiß das, er weiß, dass er angelogen wurde. Aber die Mehrheit der Fraktionen will keine Aufklärung – es könnte ja den Parteispendern an den Gewinn gehen!
3. Die gefallene Bahnwissenschaft
Ich bin empört! … über die deutsche Bahnwissenschaft. Diese Fakultät hat ihre Unabhängigkeit schon vollkommen verloren. Die S21-Gutachter sagen selbst, dass ihre wesentlichen Fehlannahmen vom Auftraggeber, der Bahn, vorgegeben wurden. Wir haben es also tatsächlich mit windigen Auftragsgutachten zu tun.
Wenn es darum geht, für das Projekt zu werben, an dem sie gut verdienen, dann ist ihnen jede überhebliche Halbwahrheit und unverbindliche „Reserve“ recht. Nicht einmal Richtlinien können sie korrekt zitieren und „bürsten“ dann die Kritiker zu Unrecht ab. Aber wenn ich sie zu einer wissenschaftlichen Diskussion herausfordere, dann kneifen sie!
4. Die irrelevanten 30 vertakteten Züge vom Land
Ich bin empört! … Die grün-rote Landesregierung weiß seit langem von den Manipulationen im Stresstest und dem übersehenen Leistungsrückbau in der Planfeststellung und tut nichts. Sie ignoriert, dass die Bahn schon die wesentlichen Fehler im Stresstest eingestanden hat. Und sie rechtfertigt sich mit „30 vertakteten Zügen“, die Wachstum bedeuten sollen.
Dabei ist es egal, ob ein Zug vertaktet ist – also etwa alle ganze oder halbe Stunde fährt – das ist so nebensächlich wie etwa die Farbe des Zuges. Sämtliche Züge der Spitzenstunde sind entscheidend, egal ob vertaktet oder unvertaktet, auch laut Planfeststellung und Finanzierungsvertrag. 50% Wachstum waren vertraglich zugesichert und die müssen auch in der Spitzenstunde bewältigt werden. Stuttgart 21 ist aber laut Gutachter auf exakt 32,8 Züge pro Stunde limitiert. Das ist viel weniger als der Kopfbahnhofheute kann – und historisch war er schon bei fast 50 Zügen!
Ministerpräsident Kretschmann, Finanzminister Schmid, Verkehrsminister Hermann, stellen Sie sich den Aussagen der Planfeststellung, statt Nebelkerzen zu zünden. Um Schaden durch den Engpass Stuttgart 21 abzuwenden, muss die Rücknahme der Planfeststellung beantragt werden und der Finanzierungsvertrag gekündigt werden!
5. Der volkswirtschaftliche Irrsinn
Ich bin empört! … Inzwischen gibt es nicht einmal mehr das Versprechen von Wirtschaftlichkeit. 1995 zur Machbarkeitsstudie war Stuttgart 21 gerade eben noch wirtschaftlich. Es war von einer „schwarzen Null“ die Rede. Aktuell liegen die Kosten mit offiziell 7 Milliarden Euro bei knapp dem 3-fachen des damaligen Werts. Wer ist denn für diesen obszönen volkswirtschaftlichen Irrsinn verantwortlich?
6. Die Machtpolitik der Bundesregierung
Ich bin empört! … Die Bundesregierung zieht das Projekt gegen jede Vernunft zum schieren Machterhalt durch. Die Aufsichtsräte der Bundesregierung wurden im Kanzleramt vergattert, entgegen ihrer eigenen Kritik dem Weiterbau zuzustimmen. Die Entscheidungsvorlage im Aufsichtsrat bestand aus Luftnummern, Bahnchef Grube hätte ebenso gut frei erfundene Zahlen auf eine Serviette kritzeln können. Die Zahlen waren schon am Vortag der Entscheidung als unrichtig und der Weiterbau als unwirtschaftlich enttarnt.
Es geht nur noch um Machterhalt. Hier baut nicht die Bahn, hier baut die Kanzlerin, und sie verbrennt die Steuermilliarden, angeblich um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu beweisen. Es geht ihr einzig und allein um ihre persönliche Zukunft!
7. Die verlorene Sehkraft der Justiz
Ich bin empört! … Weil Staatsanwaltschaft und Gerichte bei Stuttgart 21 ihr Ermessen willkürlich ausdehnen. Der VGH in Mannheim sagt zur Enteignung in der Sängerstraße, er habe die Leistungsfähigkeit schon 2006 geprüft. Aber erst jetzt wurde aufgeklärt, dass der VGH damals Mittelwerte mit Maximalwerten verwechselt hatte und auch sonst in einem guten Dutzend Punkten getäuscht worden war! Weiter sagt der VGH heute, es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger 2006 diejenigen Argumente und Beweise noch nicht kannte, die damals noch nicht bekannt waren!?
Oder OStA Häußler: Er sagt, ein planerischer Missgriff sei nicht ersichtlich, da S21 doch auf bis zu 35 Züge planfestgestellt sei! In der Planfeststellung und im Finanzierungsvertrag wurden rund 50% Verkehrswachstum durch S21 versprochen, und im Kopfbahnhof fahren heute über 38 Züge pro Stunde. Ja, Herr Häußler, wenn 35 anderthalb Mal so viel sind wie 38, dann hilft auch keine Brille mehr!
Und nun soll die Enteignung in der Sängerstraße tatsächlich stattfinden, ohne dass eine vollständige Würdigung der Argumente des Anwohners durch den VGH stattgefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht sagt dazu sinngemäß: Eine Grundrechtsverletzung sei nicht ersichtlich, weil dies eine Frage der Würdigung der Argumente ist. Heißt das, dass zukünftig Grundrechte verletzt werden dürfen, sofern es ohne Begründung geschieht? Das ist schon praktisch. Wo nicht geguckt wird, ist auch nichts ersichtlich, und schon gar keine Willkürjustiz!
8. Das dunkle Zeitalter der Postdemokratie
Ich bin empört! Empört über meine Mitmenschen, über die, die hier nicht stehen wollen, über die, die nicht hinsehen, die nicht hinterfragen. Ich bin empört, dass wir verlernt haben, zu Ende zu denken! Wer sich bei Stuttgart 21 nicht empört, wer sich hier nicht empört, der lässt zukünftig alles mit sich machen! Wenn S21 durchgeht, gibt es keine Schranken mehr. Dann treten wir ein in ein dunkles Zeitalter, in die Postdemokratie, in einen neuen Feudalismus.
9. Der Samen der neuen Aufklärung
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Und Stuttgart 21 hat aus Murks und Unaufrichtigkeit auch Gutes hervorgebracht: Nämlich mündige Bürger, die hier stehen. Bürger, die Wahrhaftigkeit fordern, die sich informieren und sich eine eigene Meinung bilden. S21 hat genau jene „neue Aufklärung“ hervorgebracht, die Schlichter Heiner Geißler beschworen hatte, aber dann durch seine eigene Moderation sabotierte.
Wir nehmen die „neue Aufklärung“ in unsere eigenen Hände und fordern Antworten auf die offenen Fragen zur Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21, zu dem fehlenden Platz für die Fußgänger, zu Brandschutz und Gleisneigung und den absurden Kosten.
Ich sehe Licht am Ende des Tunnels, denn die Bahn traut sich nicht einmal mehr, den Argumenten zu entgegnen, weder vor Gericht noch auf meine Analysen, die Bahn ist nackt! Die Befürworter greifen schon zu den lächerlichsten Strohhalmen, wie den „30 vertakteten Zügen“. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand und es passt kein Blatt Papier mehr dazwischen.
Liebe Landesregierung, unser Bundespräsident hat gewarnt: „Ohne Wahrheit wird es nie eine innere Versöhnung geben.“ Meine Herren Kretschmann, Schmid und Hermann, beantworten Sie die offenen Fragen!
Wir, wir Bürger sind mehr als nur Stimmvieh und Zahlmeister! Wir sind der Souverän! Empört Euch – weiter!
Die Rede mir zahlreichen Fußnoten zu den aufgeführten Fakten als PDF