Stuttgart 21 und BER-Flughafen: Über Korruption und Manipulation der Demokratie

In Berlin erzwingt der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zum „BER-Flughafen“-Skandal die Herausgabe von jahrelang zurückgehaltenen Unterlagen durch eine Hausdurchsuchung bei Architekt Meinhard von Gerkan. In Baden-Württemberg veröffentlicht die Bürgerbewegung gegen „Stuttgart 21“ (S21) ein geheimes Dossier der Bahn AG aus 2011, die der Staatskonzern vor der Volksabstimmung in Baden-Württemberg geheimgehalten und deren Ausgang damit mutmaßlich manipuliert hatte. Erstellt hatte das Dossier der Bahn AG seinerzeit S21-Gesamtprojektleiter Hany Azer, der später von ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn in das BER-Projekt eingeladen wurde.

Ein Bericht aus dem Sumpf von Parteien, Konzernen und Korruption.

Am 5. April 2011 berichtete der „Stern“ über ein ihm vorliegendes geheimes Dossier der Deutschen Bahn AG, genauer gesagt, der DB Projektbau GmbH. In diesem wurden 121 Risiken aufgelistet, denen sich der Staatskonzern im Zuge seines regionalen verkehrsindustriellen Umbauprogramms „Stuttgart 21“ (S21) gegenüber sah – mit zu erwartenden zusätzlichen Kosten für Staat und Bürger in Höhe von, so das Dossier, 1,264 Milliarden Euro und damit insg. 5,3 Milliarden Euro, sehr viel mehr als die angebliche Obergrenze von 4,5 Milliarden Euro.

Es war klar, was daraufhin passierte. Nichts. Die Funktionäre aus Kapital und Staat funktionierten weiter wie geschmiert.

Nur der seinerzeit vom Vorstandsvorsitzender der Bahn AG Hartmut Mehdorn zum Gesamtprojektleiter von „Stuttgart 21“ berufene Hany Azer gab seine Funktion als S21-Projektleiter „auf eigenen Wunsch hin“ plötzlich ab. Natürlich hatte das alles nichts mit irgendwelchen Mehrkosten zu tun.

Später stellte sich heraus: Hany Azer persönlich hatte das Dossier verfassen lassen.

Am 21.Juli 2011 dann veröffentlichte der „Stern“ 30 Seiten des insg. 130 Seiten der „Azer-Liste“ mit dem offiziellen Titel „Großprojekt Stuttgart – Wendlingen – Ulm: Chancen und Risiken“.

Es war klar, was daraufhin passierte. Nichts. Die Funktionäre aus Kapital und Staat funktionierten weiter wie geschmiert.

Am 27. November 2011 votierten in einer Volksabstimmung 1,5 Millionen Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger gegen „Stuttgart 21“ und für ein Ausstiegsgesetz. Natürlich war dies eine absolut verheerende Niederlage der Bürgerbewegung. Denn 2,1 Millionen Menschen hatten offensichtlich die zwei Plakate mit den Parolen „1.5 Milliarden Euro für den Ausstieg verschwenden?” und “Weiter ärgern oder fertig bauen?” gesehen, die die Verbände der Kapitalisten und ihrer assoziierten „Christlich Demokratischen Union“ zu Hunderttausenden im Lande hatten verkleben lassen, während Bündnis 90/Die Grünen und S.P.D. auf ihren Händen saßen und keinen Finger rührten um der Bürgerbewegung gegen S21 zu helfen.

So kamen die Befürworter von „Stuttgart 21“ zu einer Volksabstimmung die sie ausschließlich der Bürgerbewegung verdankten und beschlossen noch mehr Milliarden Euro ihres Geldes zu versenken, was sie wiederum ausschließlich sich selbst zu verdanken hatten da sie offensichtlich zu doof waren zum Zeitunglesen.

In Berlin wiederum, gesegnet mit der immer gleichen Schurkenklientel an der Bundes-, Landes-, und (inoffiziellen) Paneuropa-Regierung (aber ohne Bürgerbewegung auf der Straße), lud schließlich der mittlerweile von den Landesregierungen von Berlin und Brandenburg zum leitenden Berater der staatseigenen Flughafen Berlin-Brandenburg GmbH ernannte Hartmut Mehdorn seinen alten Spezl Hany Azer in die Arbeitsgruppe „Sprint“ des Neubaus vom Willy-Brandt-Flughafen ein (was später an den entsprechenden Mehrkosten scheiterte).

Ob der „BER-Flughafen“ nach einem aktuellen Überholversuch (nun 5 Milliarden Euro veranschlagte Kosten) in der Hitliste staatlich-kapitalistischen Wahnsinns tatsächlich wieder vor S21 liegt, kann nicht mit an innerer Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit behauptet werden. Jedenfalls wurde heute, in einem mutmaßlichen Anfall von zivilistisch-populistisch-fundamentalischem Parlamentarismus, auf Antrag vom Untersuchungsaussschuss des Berliner Abgeordnetenhauses der Star-Architekt Meinhard von Gerkan dazu gezwungen endlich sein Gutachten aus 2010 heraus zu rücken, in dem Berichten zufolge das ganze Desaster des BER-Flughafenbaus bereits abzusehen war.

Nun, in Baden-Württemberg behauptet die von der Partei Bündnis 90/ Die Grünen geführte Landesregierung von Baden-Württemberg, mit ihrem Verkehrsminister Winfried Hermann, die seit 2011 in Teilen veröffentlichte Azer-Liste der Bahn AG bis zum heutigen Tage nie vollständig erhalten zu haben. Ja was solle man denn machen? Man sei doch nur die Landesregierung. Die Bahn AG sei doch Eigentum der Bundesrepublik, verwaltet von der Bundesregierung. Ja da könne man nichts machen. Und Untersuchungsausschüsse schon mal gar nicht. Dann lieber Hausdurchsuchungen bei Stuttgarter Journalisten, Richtern im Ruhestand, usw, usw.

Also blieb all das, wofür korrupte Staats- und Parteifunktionäre bezahlt werden (und zum Dank dafür genau dies sabotieren), an der Stuttgarter Bürgerbewegung hängen. Der zwitscherte der Wind nun kürzlich die vollständige Azer-Liste zu, die am 25. März 2011 erstellt worden war – volle 8 Monate vor der Volksabstimmung.

Um den Quellenschutz zu gewährleisten, präsentierten die Vertreter der Bürgerbewegung am Mittwoch (23.) in einer Pressekonferenz eine Abschrift (mit hinzugefügten Bewertungen der Ingenieure22) des bis heute geheim gehaltenen vollständigen Azer-Dossiers der Bahn AG, sowie diese Folien mit einigen exemplarischen Seiten aus dem Originaldokument.

Wie sich herausstellte, hatte seinerzeit die DB Projektbau GmbH im Azer-Dossier für die Mehrzahl der aufgelisteten 121 Risiken schlicht keine Kosten angegeben – mit der Begründung, die Eintrittswahrscheinlichkeit sei unter 49 % (!). Die Ingenieure22 schätzten nun die Kosten der in 2011 von der Bahn AG selbst aufgelisteten, aber nicht kostentechnisch bezifferten Risiken. Ergebnis: insgesamt 2,9 Milliarden Euro Mehrkosten. Eine Summe, die die Bahn AG – und alle Mitwisser in den Parteien – aktiv oder passiv geholfen hatten vor der Volksabstimmung im November 2011 geheim zu halten.

Zur Pressekonferenz der Stuttgarter Bürgerbewegung und der Veröffentlichung des bis dato geheim gehaltenen Azer-Dossiers schrieb „Bei Abriss Aufstand“:

„Die vom damaligen S21-Projektleiter Hany Azer erstellte Liste mit dem offiziellen Titel ‚Chancen & Risiken zu S21‘ belegt eindeutig, dass die angebliche erst Ende 2012 von Price-Waterhouse-Cooper festgestellten Mehrkosten von mehr als 2 Mrd. € dem Bahnvorstand bereits im März 2011 bekannt waren – lange bevor die ‚Projektpartner‘ Stadt und Land informiert wurden und lange vor der Volksabstimmung.

Statt die ‚Projektpartner‘ vertragsgemäß über die zu erwartenden Mehrkosten zu informieren, ‚kommunizierte‘ die Bahn diametral entgegengesetzte Aussagen: ‚Der vereinbarter Kostendeckel werde nicht überschritten‘ beteuerte die Bahn noch lange nachdem die Mehrkosten weit jenseits des Kostendeckels bahnintern bekannt waren (insbesondere im Vorfeld der Volksabstimmung) – die Bahn hat ihre ‚Projektpartner‘ Stadt und Land bewusst hintergangen und die Öffentlichkeit belogen.“

Was werden Winnie & Winnie, die Herren Ministerpräsident und Verkehrsminister Kretschmann und Hermann, in Baden-Württemberg nun wieder erzählen? Es wie Ihre Wählerschäfchen halten und – selbstverständlich unter Tränen – beichten, dass sie leider nicht lesen können?

Nun, auch dafür haben die Stuttgarter Beihelfer der Demokratie vorgesorgt: durch eine vollständige Aufzeichnung ihrer Pressekonferenz.

Zugucken werden sie doch noch können. Das jedenfalls haben sie in dieser Republik noch immer hingekriegt.

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