„Ganz offensichtlich eine politische Grundeinstellung hinter diesen Verfahren“

Die Rede von Dieter Reicherter, Vors. Richter a.D., auf der heutigen 209. Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen “Stuttgart 21″ (S21). Titel der Rede: “Im Zweifel für den Angeklagten?”. Die 209. Montagsdemo steht unter dem Motto “Im Zweifel gegen den Angeklagten!” und begann um 18 Uhr auf dem Stuttgarter Marktplatz.

Liebe Freundinnen und Freunde des Rechtsstaats,
wieder hörten wir von einem Verfahren in der Strafjustiz, bei dem man sich an den Kopf fassen muss. Und wieder steht hinter dem Verfahren Oberstaatsanwalt Häußler, der auch nach seiner Pensionierung immer noch für Empörung sorgt und für die Nachfrage, ob er seine Arbeitskraft nicht besser für die zügige Verfolgung der Täter von Sant´ Anna di Stazzema eingesetzt hätte. Und wieder diskutieren wir darüber, ob die Verfolgung tatsächlicher Krimineller zu kurz kommt und Schwerstkriminelle aus der Haft entlassen werden müssen, weil ihnen nicht rechtzeitig der Prozess gemacht werden kann. Auch bei der Justiz herrscht Personalnot und soll weiter gespart werden. Da nehmen Verfahren gegen kritische Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht alles gefallen lassen, einfach zu viel Zeit und Arbeitskraft in Anspruch, vor allem im Verhältnis dazu, dass es sich zumeist um Bagatellvorwürfe handelt. Wenn man weiß, dass von der Staatsanwaltschaft Stuttgart beispielsweise Ermittlungsverfahren wegen Ladendiebstahls in aller Regel wegen Geringfügigkeit eingestellt werden und auch ein bekannter Bischof aus Limburg für eine falsche Eidesstattliche Versicherung mit einer Einstellung gegen Geldauflage belohnt wurde, versteht man den unnachgiebigen Kurs gegen Menschen unserer Bewegung erst recht nicht.

Da dieser Kurs von den Spitzen unserer Justiz bis hin zu Justizminister Rainer Stickelberger gestützt wird, steht ganz offensichtlich eine politische Grundeinstellung hinter diesen Verfahren. Besser als im Schreiben eines Rechtsanwalts, der auch im Namen seiner Ehefrau, die als Amtsrichterin in Stuttgart mit Prozessen gegen S21-Gegner hervorgetreten ist, kann man diese verfassungswidrige Denkweise nicht ausdrücken. Der Rechtsanwalt wünschte auch im Namen seiner Ehefrau zwei Wochen nach dem Schwarzen Donnerstag im Brief an Stefan Mappus, dieser solle sich vom Getöse der Straße nicht beirren lassen. Die überwiegende Zahl jedenfalls der arbeitenden Stuttgarter Bevölkerung habe keine Zeit zu demonstrieren. Die dahinter stehende Ablehnung der Grundrechte auf Demonstrations-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit ist so offensichtlich, dass ich mir weitere Ausführungen dazu sparen kann.

Damit sind wir auch beim eigentlichen Problem: Theoretisch müssen Staatsanwälte und Richter objektiv und neutral ihre Entscheidungen fällen. Andererseits handelt es sich auch nur um Menschen mit Fehlern und Irrtümern. Leider ist es nicht so wie viele glauben, dass nämlich die Gesetze alles genau regeln und es immer nur eine richtige Entscheidung geben kann. Nein, die Gesetze lassen sehr viel Spielraum für Auslegungen und Abwägungen. Das aber ist auch ein Einfallstor für persönliche Überzeugungen und Werturteile der entscheidenden Personen, die zum Beispiel beurteilen müssen, ob eine Nötigung verwerflich ist, ob das Anketten an einen Baum Gewalt ist, ob eine abfällige Äußerung über einen Anderen noch freie Meinungsäußerung oder schon Beleidigung ist, ob abwaschbare Totenkreuze an zum Fällen bestimmten Bäumen im Rosensteinpark das Gesamtbild des Naturdenkmals für Spaziergänger erheblich beeinträchtigen.

Spielen hier schon persönliche Meinungen eine nicht zu unterschätzende Rolle, darf man auch den Einfluss anderer Faktoren nicht vergessen. Wer von der Arbeitslast fast erdrückt wird, neigt dazu, kurzen Prozess zu machen. Wer dauernd Verfahren im Zusammenhang mit S21 bearbeiten muss, wird sich entweder über das Projekt oder aber über die Arbeit, die ihm die Gegner machen, ärgern. Wer sich als Richter oder Staatsanwalt in einer Verhandlung von aufgebrachten Zuschauern persönlich beschimpfen lassen muss, wird nicht unbedingt ein offenes Ohr für unsere Anliegen haben. Besonders abschreckend fand ich die Äußerung eines Zuhörers beim Amtsgericht, der entscheidenden Richterin müsste man den Hals abschneiden.

Hinzu kommt die enorme Arbeitslast bei Gerichten und Staatsanwaltschaft. Wie bei der Fallpauschale im Gesundheitswesen gibt es einen Durchschnittswert für die Arbeitszeit der Bearbeitung eines Falles, welcher der Berechnung des erforderlichen Personals zugrunde gelegt wird. Der Aufwand für Bearbeitung und Verhandlung eines Verfahrens mit kritischen Bürgern ist natürlich weit höher als bei einem reumütigen geständigen Dieb. Der ehemalige Präsident des Oberlandesgerichts und jetzige Präsident des Staatsgerichtshofs hat auf die Klage über die hohe Arbeitslast uns Richter des Landgerichts Stuttgart einmal aufgefordert, die Fälle mit geringerer „Durchdringungstiefe“ zu bearbeiten, man könnte auch sagen, nicht mehr so gründlich. Auch dies fördert nicht gerade die Bereitschaft, sich genügend Zeit für Verfahren mit nicht unterwürfigen Angeklagten zu nehmen.

Man muss auch wissen, dass Richter einen Fall immer bearbeiten müssen, wenn die Staatsanwaltschaft das so will. Nur wenn die Staatsanwaltschaft mit einer Einstellung wegen Geringfügigkeit einverstanden ist, kann man den Aktendeckel schließen. Leider wird aber diese Zustimmung von der Staatsanwaltschaft oft aus Gründen verweigert, die in einer Disziplinierung der Angeklagten zu suchen sind. Stoff zum Überdenken dieser Problematik findet sich reichlich in unserem Buch „Politische Justiz in unserem Land“.

Zum Hauptproblem komme ich aber erst noch: Das ist der Umstand, dass inzwischen der Verlauf von Strafverfahren hauptsächlich durch unkontrollierte und nicht hinterfragte Ermittlungen – oft auch unterbliebene – Ermittlungen der Polizei vorbestimmt wird. Da fließen oft persönliche, aber nicht offen gelegte Überzeugungen und Mutmaßungen ein. Das gilt übrigens für alle Ermittlungsverfahren, nicht nur bei S21. Dazu empfehle ich dringend die Lektüre des Buchs „Der Richter und sein Opfer“ von Thomas Darnstädt. Zitat daraus:

„Tatsächlich bestimmen allzu oft die Jäger die Regeln. Und in der Justiz wächst in den letzten Jahren die Sorge, dass die Wahrheitsfindung dabei außer Kontrolle gerät.“

Dazu ein kleines praktisches Beispiel aus einem aktuellen Ermittlungsverfahren, das bei mir zu einer Hausdurchsuchung geführt hat: Allein weil eine Bekannte in unserem Bürgertribunal zum 30.9.2010 mitarbeitet und an der Herausgabe des Buches des Tribunals beteiligt war, wird sie ohne jegliche weitere Anhaltspunkte in einem Ermittlungsbericht als „Hardlinerin und Führungskraft“ der Widerstandsbewegung bezeichnet. Staatsanwaltschaft und Gerichte übernehmen das kritiklos und erklären ihren unschuldigen Ehemann zum Geheimnisverräter, weil ihm das zuzutrauen sei.

Erschreckend, wenn allein aus der Gesinnung und Indizien, die auf zahlreiche andere Menschen genauso passen würden, auf die Begehung von Straftaten geschlossen wird. Eine gefährliche Entwicklung in der Rechtspolitik, der entschieden entgegen gewirkt werden muss, und zwar auf allen Ebenen, aber vor allem auch in den Organen der Justiz. Ganz so düster wie viele von Euch sehe ich die Sache aber nicht: Gute und mutige Entscheidungen von Richtern und Staatsanwälten gerade in jüngster Zeit zeigen doch, dass es auch anders geht und man Verstand und Unabhängigkeit bei der Einstellung in die Justiz nicht abgeben muss, sondern richtig und gerecht entscheiden kann.

Wir sind dankbar, dass dies so ist, und wünschen uns für die Zukunft viele Mitglieder der Justiz, die in allen Verfahren und allen Zweigen der Gerichtsbarkeit frei, gerecht und ohne Vorurteile entscheiden, damit alle, die freiwillig oder gezwungenermaßen mit der Justiz zu tun haben,

OBEN BLEIBEN!

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