„Die in Beton und Tunnelbauten gegossenen Phantasien älterer Herren waren schon überholt, als sie im letzten Jahrhundert geboren wurden“

Die Rede von Wolfgang Isele, Bad Cannstatter gegen S21, auf der heutigen 217. Montagsdemo gegen das urbane und verkehrsindustrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21). Die Rede trägt den Titel „Großprojekte fressen Lebensqualität“. Die Demonstration beginnt um 18 Uhr auf dem Cannstatter Marktplatz.

Liebe Cannstatter und Cannstatterinnen, liebe Mitstreiter der Bewegung gegen Stuttgart 21, ihr steht hier auf dem Marktplatz von Bad Cannstatt. Er war bis vor kurzem mit dem liebsten Kind der Deutschen zugeparkt, seinem heiligen Blechle. Gegen hinhaltenden Widerstand der Autolobby konnte mit dem autofreien Marktplatz ein erster kleiner Fortschritt auf dem Weg zu einem lebenswerten urbanen Ort ohne Lärm und Blech durchgesetzt werden. Diesem kleinen Fortschritt stehen jedoch massive Rückschritte an anderen Orten gegenüber. Ich spreche von dem 200 Millionen teuren B10-Autotunnel unter dem Rosensteinpark und natürlich von Stuttgart 21.

Die Bahn beabsichtigt den Bau einer neuen Eisenbahnbrücke über den Neckar und hat im März mit dem Bau des Cannstatter Tunnels begonnen. Er soll in Zukunft mit mehreren Röhren für S- und Fernbahn unter dem Rosensteinpark von Bad Cannstatt zum Hauptbahnhof führen. An der Haltestelle Mineralbäder graben sich bereits seit Februar diesen Jahres die Bagger der Firma Wolff & Müller durch das Erdreich der Grünflächen beim Mineralbad Leuze; Bohrgeräte treiben ihre Bohrer in den Mineralwasser führenden Untergrund. Raupenfahrzeuge haben einen für die Bundesgartenschau 1977 installierten Sprudler abgetragen. Am Neckarufer und am Rande des Rosensteinparks fanden im Februar massive Abholzungsmaßnahmen statt, um dort Freiflächen für Baustelleneinrichtungsflächen und die vorgesehene Einfahrt des B10-Autotunnels zu schaffen.

Gleich zu Beginn der Bauarbeiten wurde die Verbindung über den Leuzesteg in den Rosensteinpark für Radfahrer und Fußgänger gekappt. Sie müssen seitdem erhebliche Umwege in Kauf nehmen. Anfang Mai ist ein weiterer Brückenabriss geplant: der Wilhelmasteg steht der Baustelle für die Tunneleinfahrt zum B10-Rosensteintunnel im Weg. Mit dem Wilhelmasteg fällt ein weiterer wichtiger und häufig von Fußgängern und Radfahrern genutzter Verbindungsweg zum Rosensteinpark weg.

Doch damit nicht genug: Anfang 2015 soll auch der markante, 158 Meter lange Holzsteg über den Neckar fallen. Er wurde anlässlich der Bundesgartenschau 1977 errichtet. Die Brücke zählt übrigens zu den am weitest gespannten Holzbalkenbrücken der Welt und war damals eine der Besucherattraktionen der Gartenschau. Der 37 Jahre alte Holzsteg, zuletzt 2012 für 25.000 Euro teilsaniert, steht der geplanten 355 langen und 24 Meter breiten Eisenbahnbrücke im Wege. Sie ist – legt man die Fotos der Planer zu Grunde – in ihrer Ästhetik nur als brachial zu bezeichnen.

Während der westliche Brückenkopf der Eisenbahnbrücke für einen weiteren Kahlschlag unterhalb von Schloss Rosenstein führen wird, rückt der östliche Brückenkopf der neuen Bahnbrücke dicht an die Wohnhäuser in der Schönestraße und Eisenbahnstraße auf der Cannstatter Seite des Neckarufers heran. Dort droht eine massive Lärmbelastung. Sie soll notdürftig durch Schallschutzwände und Lärmschutzfenster gemildert werden. Besonders heikel beim Brückenbau: Die Gründung der Pfeiler der neuen Eisenbahnbrücke greift in mineralwasserführende Schichten ein und gefährdet damit unmittelbar das Cannstatter Mineralwasser. Während der mehrjährigen Bauzeit des B10-Rosensteintunnels und der S21-Eisenbahnbrücke soll es keinen Ersatz für die Fußgänger von Bad Cannstatt über den Neckar in Richtung Rosensteinpark geben. Auch viele Besucher der Wilhelma müssen in Zukunft einen großen Umweg entlang von stark befahrenen, verlärmten und verdreckten Straßen machen. Dazu zählen viele Familien mit Kleinkindern sowie Kindergarten- und Schülergruppen.

Den Bau einer Ersatzbrücke für Fußgänger lehnen die Verfechter von Stuttgart 21 in Bad Cannstatt ab. Ihre bemerkenswert blöde Begründung:

„das Neckarknie in Bad Cannstatt habe eine hohe landschaftsprägende Bedeutung, die nicht durch eine zusätzliche Brücke beeinträchtigt werden darf“,

so Roland Schmid, CDU-Bezirksbeirat aus Bad Cannstatt in einer Presseerklärung.

Jeder, der die aktuellen Baumaßnahmen verfolgt und Fotos der neuen Eisenbahnbrücke gesehen hat, wird einsehen, dass man sich keine Gedanken mehr über die Ästhetik des Neckarufers in Cannstatt machen muss. Diese wird nämlich gerade unwiederbringlich zerstört. Das alles im Namen des Fortschritts, der in Deutschland und besonders in Stuttgart gerne als automobile Fortbewegung buchstabiert wird, aber regelmäßig und absehbar in der Sackgasse von mehr Stau auf den Straßen und mehr Feinstaub in der Luft endet.

Die Beglückung der Cannstatter mit den Verheißungen eines so gearteten Fortschritts ist damit aber noch nicht vollständig. Die geplante Unterbrechung der Stadtbahnlinien zwischen Staatsgalerie, Charlottenplatz und Hauptbahnhof wird mit den Linien U1, U2, U11 und U14 viele Fahrgäste aus Bad Cannstatt betreffen, aber auch Fahrgäste aus Münster, Fellbach, Steinhaldenfeld, Neugereut und den Neckarvororten; sie alle müssen mit längeren Fahrzeiten und Umwegen rechnen. Ferner sind natürlich auch alle Besucher des Cannstatter Volksfestes sowie von Sport- und Freizeit-Events in den Veranstaltungshallen und dem Fußballstadion am Cannstatter Wasen betroffen.

Es wundert uns deshalb nicht, dass die Stadt Stuttgart den Umbau der SSB-Haltestellen in der Innenstadt herauszögert, soll doch ein Teil der Veranstaltungen des Evangelischen Kirchentages 2015 auf dem Cannstatter Wasen stattfinden. Wir fragen uns allerdings: Wie kann es sein, dass den Verantwortlichen der Stadt Stuttgart und der SSB ein gutes Image als Gastgeber und funktionierende Nahverkehrsverbindungen für die Besucher des Kirchentages wichtiger sind als die Pendler und die Stuttgarter Bevölkerung, die täglich auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind?

Bad Cannstatt ist einer der Orte, an dem die ganze Absurdität solcher Projekte deutlich wird: Die Cannstatter sollen die Zerstörungen des Naherholungsgebietes Rosensteinpark und die Kappung wesentlicher Verbindungen für Fußgänger, Radfahrer und Stadtbahnfahrer ohnmächtig hinnehmen. Sie sollen mehr als zehn Jahre Baustellenlärm klaglos ertragen mit der Gewissheit, dass eine Realisierung der Projekte zu noch mehr Verkehr, zu mehr Feinstaub und für die Cannstatter zu deutlich weniger und schlechteren regionalen Zugverbindungen führen wird. Sie sollen es hinnehmen, dass die rücksichtslose Profitgier von Bahn und Bauunternehmen den größten Naturschatz bedroht, den Cannstatt zu bieten hat: sein Mineralwasser. Sie sollen für diesen Schwachsinn auch noch 27000 Euro – vom Baby bis zum Greis – bezahlen, Geld, das an anderen Orten weitaus besser investiert werden könnte.

Zu all diesen Zumutungen sagen wir Cannstatter entschieden: NEIN.

Die in Beton und Tunnelbauten gegossenen Phantasien älterer Herren waren schon überholt, als sie im letzten Jahrhundert geboren wurden. Deshalb müssen wir ihre Umsetzung verhindern.

Wir fordern: Schluss mit der weiteren Stadtzerstörung, Hände weg von unseren Mineralquellen, sofortiger Ausstieg aus Stuttgart 21, Einstieg in eine andere Stadt- und Verkehrsentwicklung.

Oben bleiben!