Am Montag, den 21.April 2014, kommt es zu einem historischen Schritt: Der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet ein Dekret, dass die Entscheidung Josef Stalins in den 1940er Jahren, die Krim-Tataren und andere ethnische Minderheiten von der Halbinsel zu deportieren, illegal war.
Genau einen Tag später, am gestrigen Dienstag, erscheint ein gefälschter Brief zu anhaltenden „russischen Repressalien“ gegen einen prominenten Krim-Tataren, auf den das Aussenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika nur gewartet hat und der wieder „ungeprüft“ für Propagandazwecke herhalten muss.
Die derzeitigen Auseinandersetzungen in der Ukraine nehmen neben ihrer Gefährlichkeit auch sehr tragische Formen an. Es ist eine menschliche Tragödie, wenn ein mit einem Menschenrechts-Preis der U.N.O. ausgezeichneter Mann jetzt seine Reputation verliert, die er sich als Widerstandskämpfer und jahrzehntelang grausam verfolgtes Opfer in der ehemaligen Sowjetunion weltweit ausserhalb des sozialistischen Ostblocks – aber vor allem um seine Verdienste für sein Volk – erworben hatte.
Es geht in diesem Fall um Mustafa Dzhemilev (Mustafa Abduldschemil Dschemilew). Dzhemilev war bis zum vergangenen Jahr der Vorsitzende der Nationalen Versammlung der Krim-Tataren Qırımtatar Milliy Meclisi (Medschlis) und ist seit 1998 ukrainisches Parlamentsmitglied der Partei Batkivshina (Vaterlands-Partei von Julia Timoschenko) in Kiew.
Am Dienstagmorgen, den 22.April 2014 veröffentlichte Dzhemilev eine Fotokopie eines „amtlichen“ russischen Schriftstücks, in dem es heisst, dass er auf der Einreiseverbotsliste der Einreisebehörde Russian Federal Migration Service (F.M.S.) Russlands stehen würde, das für ihn für einen Zeitraum von fünf Jahren, bis zum April 2019, gelten würde. Der ehemalige Krim-Tataren-Führer erklärte auf Nachfrage des ukrainischen Fernsehsenders Channel 5, er hätte das „amtliche Dokument“ von einem Unbekannten, der sich nicht ausgewiesen hätte, in die Hand gedrückt bekommen, als er vom Gebiet der Halbinsel Krim nach Kiew reisen wollte. Da die Krim nun Teil des russischen Staates ist, hätte das bedeutet, dass ihm die Rückkehr verweigert worden wäre. Am Dienstag weilte auch der Vizepräsident der U.S.A., Joe Biden, in Kiew.
Dzhemilev beeilte sich sofort, die gefälschte Botschaft im Internet weit zu verbreiten mit dem Kommentar, dass es „nichts weiter als ein Indikator dafür sei, wie ‚zivilisiert‘ der Zustand ist, mit dem wir es zu tun haben“.
Auf dem Foto befinden sich weder Briefkopf einer Behörde noch Unterschriften.
Ein Sprecher der russischen Einreisebehörde bestritt gestern gegenüber dem Sender RT ein derartiges Verbot für Dzhemilev: „Wir haben keine solchen Informationen. Weshalb denken Sie, dass wir ihm das Betreten der Russischen Föderation verboten haben sollten? Ich kann Ihnen das gleiche Dokument senden, Sie können es auch an mich schicken. Ich habe es gesehen und es gibt wirklich nichts dazu zu sagen.“
Auch das neu gewählte Parlament der Krim dementierte Vorwürfe, dass es eine Anordnung dieses Verbots zu Dzhemilev erteilt hätte und erklärte, dass sein Name nicht in der offiziellen Liste der Reisebeschränkungen aufgenommen wurde, auf der dreihundertvierzig Namen gelistet sind. Der stellvertretende Vorsitzende des Krim-Parlaments, Konstantin Baharev sagte:
„Der Staatsrat hat für Mustafa Dzhemilev keine Entscheidungen getroffen zu Beschränkungen zur Einreise auf das Gebiet der Krim. Früher hatte das Präsidium des Krim-Parlaments eine persona non grata-Liste von mehr als dreihundert ukrainischen Abgeordneten aufgestellt, die sich gegen die Krim-Initiative, ein Referendum über die Selbstbestimmung, gestellt hatten.“
Weshalb setzt ein politisch erfahrener Mann, ein Diplomat, eine derartige Meldung in eine Zeitung? Rachegefühle gegenüber dem russischen Staat mögen ihn geleitet haben für sein verpfuschtes Leben, das er jahrzehntelang in Gulags in Sibirien und in Gefängnissen verbringen musste. Auch seine Abwahl als Vorsitzender der Nationalen Versammlung der Krim-Tataren im letzten Jahr wird eine Rolle gespielt haben.
Vor allem auch seine Verpflichtung gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, die in den Zeiten des Kalten Krieges jede Chance ergriffen, russische Dissidenten dafür zu benutzen, ihre eigene Gesellschaftsordnung als die humanere zu präsentieren. Ohne die Konfrontation zwischen dem Westen und dem Osten hätte sich Washington‘s Machtapparat einen Dreck um das Schicksal von Mustafa Dzhemilev geschert.
Nun wird er ein zweites Mal im politischen Ränkespiel ausgenutzt. Jen Psaki, Sprecherin des U.S.-Aussenministeriums, sagte gestern auf einer Pressekonferenz:
„Heute gab der Krim-Tataren-Stammesführer, Mustafa Dzhemilev, der vor ein paar Wochen nach Washington zu Treffen hier in diesem Gebäude gereist war, einige alarmierende Hinweise. Und er warnte heute, dass ein mögliches Blutvergiessen auf der Krim und im Süden der Ukraine vor der Tür stehen. Und er erklärte auch, dass einige der F.S.B.-Offiziere aus Moskau hoffen, dass es zur erneuten Deportation der Tataren kommt. Wir sind immer noch sicher, dass es eine starke Verbindung zwischen Russland und den bewaffneten Kämpfern im Osten der Ukraine auf der ganzen Linie gibt. Wir haben gesehen, dass es ähnliche Schritte – oder ähnliches Verhalten gibt, das wir ein vor ein paar Wochen auf der Krim sahen. Und wir beobachten natürlich sehr genau, was in dem Land geschieht.“
Mustafa Dzhemilev wurde 1998 mit dem Nansen-Flüchtlingspreis der Organisation der Vereinten Nationen in Würdigung seines friedlichen Einsatz für die Rechte der Krim-Tataren ausgezeichnet.
Einen Tag, nachdem der russische Präsident diese Rechte gesetzlich garantiert, fällt Dzhemilev seinem Volk auf beschämende Weise in den Rücken. Und nicht nur das, er stösst ihm das Messer in den Rücken. Mit seinem Verhalten nimmt er in Kauf, dass es bei einem grösseren Konflikt um die südöstlichen Gebiete der Ukraine unweigerlich zwischen die Fronten gerät.
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