Die Rede von Steffen Siegel, Schutzgemeinschaft Filder e.V., auf der heutigen 242. Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen das staatlich-industrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21).
Seid herzlich gegrüßt.
Die letzten Wochen könnte man unter das Motto stellen: „Wir biegen uns das Recht zurecht“. Elf anstrengende Tage Erörterungsverfahren zum Filderabschnitt liegen hinter uns. Jeden Morgen kamen Teilnehmer zu spät, weil die S-Bahnen mit ihren üblichen Verspätungen fuhren. Und auf denselben Gleisen sollen in Zukunft noch die Züge aus Zürich und Horb – die sogenannten Gäubahnzüge – im Mischverkehr durch Leinfelden-Echterdingen donnern. An den Engstellen in der Rohrer Kurve, in den Tunneln mit windiger Ausnahmegenehmigung, an den höhengleichen Kreuzungen und vor allem im Terminalbahnhof, der im eingleisigen Gegenverkehr befahren werden soll, sind Störungen vorprogrammiert.
Die TU Dresden hat nun im Auftrag von Leinfelden-Echterdingen genau diese Binsenweisheit, nämlich das zu erwartende Aufschaukeln von Verspätungen wissenschaftlich bestätigt. Die Bahn kommt – wer hätte es gedacht – zu anderen Ergebnissen und erklärt dies damit, dass sie ihren Fahrplan ganz kurzfristig passend gemacht habe und dies dem Dresdner Wissenschaftler leider vergessen habe mitzuteilen. Das ist so ungeheuerlich, dass der S21-Sprecher Wolfgang Dietrich am selben Abend kleinlaut eingestehen musste, dass „der S-Bahnbetrieb durch die Gäubahnen nicht ganz unbeeinflusst“ sei. Und wenn der das schon so sagt, heißt dies wohl, dort herrscht in Zukunft Chaos.
Das Erörterungsverfahren lief weiter in diesem Stil ab.
Zuerst sagt die Bahn, der zusätzliche Lärm in Leinfelden-Echterdingen sei vernachlässigbar, nach Anhörung der Lärmgutachter muss sie kleinlaut weitere Untersuchungen, ja unter Umständen eine weitere Erörterung zum Schall- und Erschütterungsschutz zugestehen. Beim Brandschutz im 27 Meter unter der Messe liegenden Fernbahnhof, den die Bahn als absolut sicher bezeichnet, können unsere Fachleute zeigen, dass dort vieles im Argen liegt, unterstützt vom Kreisbrandmeister, der sagt: „die Bahn hat nicht nachgewiesen, dass die Flughafenbahnhöfe sicher sind“.
Und so geht es bei den „verkehrlichen Aspekten“ weiter.
Die Bahn verweigerte die Erhebung der Passagierströme zum Flughafen. Und die Bahn verweigerte trotz klarer Aufforderungen in der Schlichtung und im Filderdialog, die Panoramastrecke funktionstüchtig zu erhalten, und wir müssen ihr zeigen, dass und wie dies gehen könnte. Der Rechtsanwalt der Bahn hat sogar die Stirn zu behaupten, die Forderung nach einer umsteigefreien Fahrt der Gäubahnzüge über den Flughafen stünde im Landesmessegesetz. Nur, wenn jemand das Landesmessegesetz kennt, dann wir von der Schutzgemeinschaft Filder.
Es war eine bewusste Falschaussage.
Die Bahn behauptet nach wie vor wahrheitswidrig, dass das Ergebnis des Filderdialogs ein anderer Flughafenbahnhof sei. Gemeint ist der Murks unter der Flughafenrandstraße, den jetzt in ihrer Not viele S21-Befürworter, ja sogar so scharfe Verfechter der Antragstrasse wie Drexler und Razavi als Lösung für alle Filderprobleme sehen. Dieser neue Bahnhof entschärft ein Problem (Gegenverkehr im Terminalbahnhof), schafft aber viele neue. (Sprengung des Kostendeckels, hoher Landverbrauch,
bahnbetrieblich überforderter Bahnhof,…)
Und schließlich ging es auch um die kriminelle Bahnsteigneigung im Stuttgarter Tiefbahnhof.
Der Verlauf dieser Diskussion war grotesk. Eine klare Vorgabe beim Bau von größeren Bahnhöfen ist: Bahnsteige in Bahnhöfen sollen die Neigung von 2,5 Promille nicht übersteigen. Wir fragten: Wie kann man dann in Stuttgart das 6-fache, also über 15 Promille planen? Der Rechtsanwalt der Bahn schoss sofort scharf: Dieses Thema dürfen wir hier nicht mehr diskutieren, für PFA 1.1 (HBHF) existiert ein bestandsfester Planfeststellungsbeschluss. Egal, wie steil dort gebaut werden soll, es ist genehmigt. Als die Diskussion dennoch hochkochte, zieht der Bahnjurist eine neue Idee aus dem Hut: Die Bestimmung sei keine Muss-Bestimmung sondern eine Soll-Bestimmung, der Bahnhof solle nicht steiler als 2,5 Promille sein, also könne man sehr wohl steiler bauen, beim Nachweis gleicher Sicherheit. Das Verrückte ist, es geht nicht um ein bisschen steiler, es geht um das 6-fache, nämlich 15 Promille – absolut einzigartig bei Großstadtbahnhöfen. (Köln, mit Abstand steilster Bahnhof, knapp 7 Promille, jedes Jahr mehrere
Wegrollunfälle!)
Zur Veranschaulichung der Absurdität ein Beispiel:
Angenommen, vor einem Kindergarten gelte die Regelung, man solle nicht schneller als 25 km/h fahren, folgt nach der Argumentation der Bahnjuristen: Man könne, da es eine Soll-Vorschrift ist, sehr wohl auch mit 6-facher Geschwindigkeit, also mit 150 km/h am Kindergarten vorbei fahren, man muss ja nur die gleiche Sicherheit garantieren. Dies allerdings kann niemand. Das nur als Beispiel, mit welchen Absurditäten wir uns rumschlagen mussten.
Letzte Woche nun waren im Erörterungsverfahren noch zwei Tage (Montag und Dienstag) vorgesehen für großräumige Varianten, für die Gesamtplanrechtfertigung und für Sonstiges und uns wurden noch zwei weitere Tage (Mittwoch und Donnerstag) vorsorglich zugesagt, falls wir nicht fertig werden sollten. Am späten Montagnachmittag konnte Christoph Engelhardt eine erste Einführung in seine umfangreiche grundsätzliche Kritik an S21 geben, die sofort von der Bahn wortreich, wenn auch nicht überzeugend, gekontert wurde. Und es wurde ihm versprochen, dass er am nächsten Tag, dem vorerst letzten Tag, ausführlich zu seiner Kritik an der Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs und am Stresstest vortragen dürfe.
Überraschend sagte Frau Bühler vom Regierungspräsidium dann aber am Dienstagmittag, sie wolle die Veranstaltung am Abend beenden, es seien ja alle Argumente im Wesentlichen ausgetauscht. Das war ein Hammer, damit hatten wir nicht gerechnet. Christoph Engelhardt war zu seinen wesentlichen Einwänden noch nicht wieder gehört worden. Und natürlich hatten sich noch viele gemeldet, u.a. auch wegen der fehlenden Finanzierung des Projekts oder weil sich die Prognosen, auf denen S21 aufbaut, als falsch erwiesen haben usw. Engelhardts Beitrag wurde – vermutlich gezielt – von der Versammlungsleitung immer weiter hinausgeschoben und dies hätte eigentlich zwingend eine Fortsetzung am Mittwoch erfordert.
Christoph Engelhardt hatte nur noch die Möglichkeit, am Dienstag, spät abends eine hervorragende, überzeugende Kurzfassung abzugeben und auf all die wichtigen Punkte hinzuweisen, die noch gar nicht behandelt wurden, wie z.B. die unzulässige Auslegung des Bahnhofs auf 32 Züge, die Verlagerung absurd vieler Zugfahrten in die Nacht, die Fehler im Stresstest, die Unterdimensionierung der Fußgängeranlagen und der Entfluchtungsmöglichkeiten usw. usw. Aber die Erörterung wurde gnadenlos abgebrochen, ohne dass die Bahn auf die Argumente einging – oder besser eingehen wollte. Es war zum Heulen.
Die Erörterung war aber auch eine großartige Demonstration, was hervorragende Fachleute aus der Bürgerschaft zustande bringen. Wir alle, ich kann sie nicht alle nennen, arbeiteten bis zur Erschöpfung und auf eigene Kosten und waren in vielen Belangen den Profis der Bahn überlegen.
Projektsprecher Wolfgang Dietrich kündigte noch am Abend des Erörterungsendes seinen Rücktritt an, verbunden mit dem Eingeständnis, dass sich das Projekt S21 wegen der „Ungereimtheiten auf den Fildern“ um mehr als ein Jahr (meint er zwei?) verzögern werde, und das ist unser Erfolg, wir haben ihm die Ungereimtheiten mühsam begreiflich gemacht! Hatte Dietrich nicht stets damit gedroht, jedes Jahr Verzögerung bedeute 100 Mio. Mehrkosten? Also sind wir jetzt schon bei über 7 Mrd. Gesamtkosten!
Nur wenige Tage zuvor hatte der Bahnjurist noch Stein und Bein geschworen, dass das Projekt seriös durchfinanziert sei, und seine technischen Mitstreiter beteuerten für sich und alle ihre Mitarbeiter, dass man mit S21 bis 2021 ganz sicher fertig sei. Und nun dies, das ist eben typisch Bahn und typisch Dietrich.
Auf den Fildern versagt die Bahn seit über zwölf Jahren. 2002 wurde das erste Mal versucht, beim EBA ein Planfeststellungsverfahren einzuleiten. Erfolglos wie in den Jahren darauf. Statt deshalb aber anders zu planen, passierte nichts, selbst dann nicht, als 2010 ein Herr Ramsauer eine üble Ausnahmegenehmigung aussprach. Heute, wieder 4 Jahre später, setzt man uns diese zwölf Jahre alte Antragstrasse nahezu unverändert vor und wundert sich, dass dieser Mist Probleme macht, und überschüttet uns mit Halbwahrheiten.
Dreiste Unfähigkeit und ein Denken in Unterschlagungen und Falschaussagen bis hin zur Rechtsbeugung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Verfahren und macht nicht mal vor Ämtern und Gerichten Halt. Auch ringsum die Erörterung herum stinkt es gewaltig: Hier nur einige Punkte:
1. Bei der Grundwassergenehmigung durch das EBA vor zwei Wochen wurde locker behauptet, dass eine mehr als doppelte Wasserentnahme kein Problem sei, ja bei starkem Regen könne man beliebig viel entnehmen (Petrus-Faktor), und außerdem, man höre und staune, müsse man es genehmigen, u.a. mit der Begründung, man könne jetzt nicht mehr anders, da ja bereits so viel Geld vergraben worden sei, und auch das Ergebnis der Volksabstimmung „spreche für eine zügige Umsetzung des Projekts“. Das hat nichts mehr mit Recht zu tun, das ist frivoler Amtsmissbrauch.
2. Und was hört man vor fünf Tagen: Die Bundesregierung will mit einer Gesetzesänderung die Stilllegung von Bahnhöfen erleichtern. Dabei geht es um die rechtlich höchst umstrittene Freigabe des Gleisvorfeldes am HBF, ohne die S21 nicht umsetzbar ist. Dobrindts Behauptung, es bestehe kein Zusammenhang mit S21, ist nachweislich falsch. Die Stuttgarter Zeitung spricht gar von einer „Lex S21“. Wieder will man sich das Recht zurecht biegen.
3. Wir von den Fildern kennen dies. Als man Ende der 90er Jahre eine Großmesse auf den Fildern plante, drohte dies am Widerstand der Landwirte und Kommunen zu scheitern. Mit Hilfe eines speziellen, eigens erfundenen Gesetzes, dem „Landesmessegesetz“, gelang der Landesregierung Baden-Württemberg, was nach damals gültiger Rechtslage unmöglich gewesen wäre: den Bau einer Großmesse mit der Begründung, sie diene dem Gemeinwohl und dafür dürfe man enteignen, d.h. man dürfe den Bauern das Land stehlen. Schon damals bog man sich das Recht zurecht.
Aber auch im Kleinen biegt man:
4. Dieser Tage liest man, dass die Bahn die heute 35 000 Quadratmeter große Baustellenfläche am Tunnelportal am Fasanenhof auf Kosten fruchtbarer Äcker vergrößern will. Das widerspricht dem Planfeststellungsbeschluss zu 1.2 und allen bisherigen Beteuerungen.
5. Letzte Woche bog man sich im Verband Region Stuttgart auch was zurecht: Ein klarer Beschluss in allen Parlamenten, nämlich den Kostendeckel nicht zu heben, soll dort im Handstreich von CDU, FW, FDP und SPD ausgehebelt werden. Die Bahn hat allenthalben überall versagt und nun wollen andere, z.B. die Region finanziell einspringen, um auf den Fildern einen anderen Bahnhof zu bauen, der in Wirklichkeit noch schlechter ist.
Dabei ist die bessere Lösung fast aller Probleme auf den Fildern so einfach: die Gäubahn mit einem Halt in Vaihingen über die Panoramastrecke nach Stuttgart belassen und einen S-Bahn-Ringschluss über die Filder.
Ich glaube, die letzten zwei Wochen haben wir es geschafft, doch einige Befürworter nachdenklicher zu stimmen, auch wenn oder vielleicht gerade weil hier von den Vorhabensträgern immer wieder so gelogen wurde, dass sich die Schienen bogen.
Wir wissen, verbogene Schienen werden zur Entgleisung des Projekts 21 führen. Nach dieser Erörterung kann es eigentlich nicht anders kommen.
Wir bleiben oben!