Brief an meine Freunde in Israel und Palästina

Liebe Freunde in Israel und Palästina,

wenn ich sage, dass ich in an einen gerechten Frieden zwischen Israelis und Palästinensern glaube, sagt ihr ich sei naiv, dass ich nicht wisse, wovon ich rede, dass ich die Realität vor Ort nicht kenne.

Wenn ich sage, dass die Regierenden in Israel und Palästina Verantwortung für die Leben und die Sicherheit aller Bürger übernehmen, diesen Krieg beenden, das Schießen aufhören, ihre Hände ausstrecken und einen Weg aus dieser Misere aushandeln müssen, sagt ihr: „Du bist verrückt! Guck dir dieses Video an, wie israelische Soldaten unschuldige Kinder erschießen!“ oder „Wie kannst du so töricht sein! Guck dir dieses Video an, wie Hamas-Kämpfer Israelis aus dem Hinterhalt abschießen!“ Ihr zeigt mir Äußerungen von Hamas-Politikern, die zur Vernichtung Israels aufrufen oder Knesset-Abgeordnete, die palästinensische Kinder als Schlangen bezeichnen und ihren Müttern den Tod wünschen. Ihr schickt mir Bilder brutaler Morde, verbrannter Körper, schießwütiger Soldaten und maskierter Männer mit Blut an ihren Händen.

Einige dieser Bilder sind gefälscht, mit dem Zweck Hass, Angst und Wut zu verbreiten. Traurigerweise sind aber auch viele authentisch und zeigen die zunehmende Verrohung und Unmenschlichkeit auf beiden Seiten. Oftmals treibt es mir die Tränen in die Augen und manche Bilder kann ich mir nicht angucken. Ich weiß, euch geht es genau so. Doch ihr irrt euch, wenn ihr denkt, dass diese Bilder und Aussprüche Gründe wären, weiter zu kämpfen. Es sind keine Hindernisse für den Frieden. Nein – es sind die überzeugendsten Argumente, warum ein gerechter und wahrer Frieden notwendiger ist als je zuvor.

Es wird immer Hass, Angst und Wut geben. Es wird immer wütende, verängstigte und hasserfüllte Menschen geben – in jeder Gesellschaft, in jedem Land, zu jeder Zeit. Aber diese Menschen können ihre Gewaltphantasien nur in einer Kultur der Gewalt ausleben – in einer Kultur, in der die Massenmedien und Politiker Gewalt verherrlichen, in der ihnen niemand sagt: „Stopp! Genug ist genug!“ Traurigerweise gibt es im Moment weder auf palästinensischer, noch auf israelischer Seite genug Menschen, die diese Worte aussprechen.

Ich denke, das Problem ist, dass die Menschen auf beiden Seiten so vielen negativen Stereotypen über die andere Seite ausgesetzt sind und die einfache Wahrheit in den Hintergrund tritt, dass wir alle Menschen sind.

Wie soll ein palästinensisches Kind, dass einen Israeli nur in Uniform, schreiend und mit geschultertem Gewehr kennt, sich den gleichen Menschen, zuhause sitzend mit seiner Familie, als liebenden Vater, Bruder oder Sohn vorstellen? Wie soll es die Bilder niedergerissener Häuser, zerstörter Olivenhaine, schikanierter Menschen an Checkpoints und Soldaten, die ihre Gewehre auf sie richten, ersetzen mit Bildern von liebenswerten, offenen und lebensfrohen Menschen, wie man sie überall in Israel findet?

Wie soll ein israelisches Kind, das Palästinenser nur im Fernsehen gesehen hat, vermummt, Drohungen schreiend und bewaffnet, sich die gleichen Menschen zuhause vorstellen, mit ihrer Familie zusammensitzend als liebevolle Väter, Brüder und Söhne? Wie soll es die Bilder der niedergebrannten Häuser vergessen und der Restaurants nach Selbstmordattentaten, die angsteinflößenden Stunden in den Bunkern, während Sirenen vor Raketenangriffen warnen, und diese ersetzen durch die von lebensfrohen, lockeren, liebenswerten Menschen, wie man sie überall in der Westbank und Gaza findet?

Wie schwer muss es sein, zu erkennen, wie ähnlich die Menschen auf der anderen Seite eigentlich sind; wie ihre Träume und Sehnsüchte den eigenen gleichen? In einer Kultur der Angst, der Wut und des Hasses ist es schwer, hinter die Fassade der Dämonisierung zu schauen; die menschlichen Gesichter zu sehen und die Menschlichkeit auf der anderen Seite zu erkennen.

Ich war in Gaza-Stadt: Man hat mich dort willkommen geheißen und ich wurde von warmherzigen Menschen gegrüßt, wie der alten Dame, deren größter Traum es war, einen Reisepass zu erhalten, um nach Paris zu reisen und den Eifelturm zu sehen, jungen Surfern am Strand oder dem gläubigen alten Mann, der in der Moschee betete, dass seine Kinder einmal ein besseres Leben haben werden, als er selbst.

Ich war in den israelischen Siedlungen in der Westbank und im Gazastreifen und wurde willkommen geheißen, von warmherzigen Menschen, wie dem amerikanischen Immigranten, der mir sagte, es sei sein größter Traum, die Pyramiden in Kairo zu sehen.

Ich habe am Ufer am Nil in Aswan gesessen und mit ägyptischen Jugendlichen gesprochen, deren größter Traum es war, einmal Jerusalem zu besuchen, diese sagenumwobene Stadt. Ich habe mit israelischen Freunden am Ufer des See Genezareth gesessen, die davon träumen, den großen Bazar in der Altstadt Damaskus zu besuchen oder die schmalen Gassen Aleppos zu durchstreifen – Städte, von denen ihre Eltern berichteten als sie noch Kinder waren.

Ich bin durch die mit Weinreben bedeckten Kopfsteinpflastergassen von Damaskus gelaufen und durch die Wüstenruinen Palmyras, habe mit Syrern gesprochen, die alles über dieses mysteriöse Land Israel wissen wollten und wie das Leben dort ist. Ich bin per Anhalter mit irakischen Fernfahrern durch Jordanien gefahren, die mir ihre Sammlung israelischer Musikkassetten zeigten und habe die Nacht mit israelischen Freunden im Galil verbracht und mir ihre herzzerreißenden ägyptische Lieder auf alten Schallplatten angehört.

Ich habe in Tyrus im Süden Libanons im alten römischen Amphitheater gesessen und habe mit Menschen gesprochen, die sich nichts mehr gewünscht haben als Frieden mit ihren südlichen Nachbarn; und vor den weißen Klippen von Rosh Ha’nikra stand ich auf der israelischen Seite der Grenze und sprach mit Menschen, die das selbe wollten …

Ob in einem Café über den Taubenfelsen von Beirut oder auf einem Zeltplatz in Eilat, einer alten Moschee in Kairo oder in einem Kibbutz im Negev, auf einer muslimischen Hochzeit in Abu Dis oder einer jüdisch-orthodoxen Hochzeit in Mea Shearim, ob Abende in Nablus, Ramallah oder Jericho mit palästinensischen Freunden oder Abende mit israelischen Freunden in Tel Aviv, Haifa oder Eilat – so viele großartige Erinnerungen, so viele Geschichten, so viele Gesichter, so viel Menschlichkeit … und oftmals sagte ich zu mir selbst: „Wenn meine Freunde aus Palästina und Israel nur hier sein könnten.“

Wenn die Menschen nur hinter den Hass, die Angst und die Wut blicken könnten, dann würden sie in der Lage sein, sich von der Kultur der Gewalt zu lösen und beginnen, eine Kultur des Friedens zu schaffen. Aber was bedeutet das – eine „Kultur des Friedens“? Ich denke nicht, dass man sie in den Hauptquartieren der Hamas oder im Büro des israelischen Premierministers finden kann. Man wird sie nicht auf den Plakaten der palästinensischen Straßen finden, die Märtyrertum glorifizieren oder in der israelischen Morgenzeitung, die für eine Unterstützung der anhaltenden Bombardierung Gazas wirbt.

Aber geht nach Neve Shalom/Wahat al-Salam, der kleinen „Oase des Friedens“ zwischen Tel Aviv und Jerusalem, wo Muslime, Christen und Juden zusammen leben und ihre Kinder mit einem Verständnis über unsere gemeinsame Menschlichkeit erziehen und wie unsere religiösen und ethnischen Unterschiede unsere Beziehungen und Gesellschaften bereichern. Oder besucht die Ärzte für Menschenrechte, die palästinensische Patienten behandeln, die keinen Zugang zu einer medizinischen Versorgung haben. Sprecht mit den tapferen Veteranen der Organisation „Das Schweigen brechen“, die versuchen die Öffentlichkeit über die Wahrheit der Besatzung zu informieren. Unternehmt eine Fahrt mit dem Friedens-Bus, der Jerusalem wöchentlich für einen Besuch im Gazastreifen verlässt und die trauernden Familien israelischer und palästinensischer Opfer dieses Krieges besucht. Schließt Euch den Mitgliedern von B’tselen oder Ta’ayush an, trauert mit den hinterbliebenen Vätern und Müttern der „Parents Circle”-Familien, die ihre Kinder in diesem Konflikt verloren haben, aber sich weigern, verfeindet zu sein. Helft dem „Israeli Comittee against House Demolitions“, die sich gegen die rechtswidrigen Annektionen und die Zerstörung von Lebensgrundlagen in der Westbank engagieren. Lauscht der wundervollen Musik Daniel Barenboims „West-Eastern Divan Orchestra“ oder schaut Euch eine Veranstaltung der israelisch-palästinensischen Theatergruppe „Combatants for Peace“ an. Erlebt jüdische und arabische Medizinstudierende Seite an Seite lernend im „Hadassah“-Krankenhaus in Jerusalem oder abonniert das Palästina-Israel Journal, um die Geschichte hinter den Schlagzeilen zu erfahren.

Ich weiß, dass dies nur kleinen Gruppen sind, kaum bemerkbar vor lauter fliegenden Raketen, sterbenden Menschen, rollenden Panzern und explodierenden Bomben. Aber ihre Vision ist soviel humaner, soviel weiser, soviel rationaler, als alles, was die Politiker auf beiden Seiten zu bieten haben. Im Gegensatz zu den politischen Führungen und den Extremisten auf beiden Seiten haben sie das Leben und Wohlergehen aller Palästinenser und Israelis im Sinn. Sie zeigen einen Hauch einer besseren Welt, wo Nachbarn sich gegenseitig in die Augen schauen, ihre Differenzen artikulieren und Wege finden können, ihre Probleme gemeinsam zu lösen.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich auf einer Bank an der Spree in Berlin, einem Ort, der mehr Blutvergießen und himmelschreiende Ungerechtigkeit gesehen hat als die meisten anderen Plätze der Welt. Als ich ein Kind war, waren 18-jährige Soldaten bereit, Jugendliche zu erschießen, für den Versuch, diesen Fluss zu überqueren. Bevor ich geboren wurde, wüteten zwei große Kriege auf dem Kontinent, innerhalb von nur 30 Jahren. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren die Menschen nicht in der Lage, sich gegenseitig in die Augen zu schauen und eine Lösung für ihre Probleme zu finden, außer mithilfe von Pistolen und Panzern. Der Krieg zerstörte nicht nur Städte und tötete Menschen, er reduzierte den Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens und verbreitete Hass, Angst und Wut. Die Zerstörung der Menschlichkeit und Rationalität war so gewaltig in diesem Land, das Männer, Frauen und Kinder in dieser Stadt zusammengetrieben und in Konzentrationslager verfrachtet wurden, nur weil sie Juden waren, Kommunisten, homosexuell oder sich weigerten, sich an der Gewalt um sie herum zu beteiligen. Eine Kultur der Gewalt hatte das Gefühl der Menschlichkeit vernebelt und die Menschen in diesem Land waren nicht mehr im Stande, über die Fassade des Hasses, der Angst und der Wut hinweg zu sehen. Es hat fast sechs Jahre des Todes und der Zerstörung gedauert, um diesen Albtraum zu beenden.

Heute, an diesem sonnigen Tag im August 2014, finden sich hier am Ufer der Spree lachende Jugendliche, die sich über ihre Lieblingsbands unterhalten, ein paar israelische Kinder rennen an mir vorbei mit Eiscreme in der Hand, ein deutscher Mann spielt Akkordeon, eine Gruppe Araber sitzt im Gras auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses und raucht Nargilah und Russen, Amerikaner, Inder und Japaner schießen Fotos von den in der Nähe liegenden Überresten der Berliner Mauer. Sicherlich haben wir unsere Probleme der Gewalt, des Hasses und der Wut hier in Deutschland und in Europa – aber wir haben einen Ausweg gelernt. Wir haben versucht, eine Kultur des Friedens zu schaffen. Wenn unsere Regierung versucht, uns den Krieg wieder schmackhaft zu machen, sagen die Menschen mit überwältigender Mehrheit „Nein!“; und wenn unsere Politiker den Konflikt in der Ukraine aufgrund politischer und ökonomischer Vorteile anfeuern, kommt es zu Demonstrationen in den Straßen – von Menschen, die sich weigern, einer einseitigen Berichterstattung zu glauben und sich nicht in die Angelegenheit anderer Länder einmischen wollen.

Die Situation in Deutschland ist in keiner Weise vergleichbar mit der im Nahen Osten. Aber sie zeigt, wie sich Menschen und Gesellschaften im Laufe der Zeit verändern können. In Deutschland mussten wir es auf die harte Art und Weise lernen. Wir haben gelernt, dass es Millionen von Menschen braucht, die zugeben, dass sie sich geirrt haben und bereit sind, die Last der Schuld gemeinsam zu tragen; dass es einen Kanzler braucht, der demütig vor den Opfern seines Landes niederkniet, am Ort der größten moralischen Schande. Es braucht Jahrzehnte in denen sich junge Menschen gegenseitig kennenlernen, die andere Sprache erlernen, in das Heimatland des Anderen reisen und sich in die Kultur des Anderen verlieben. Es braucht Vergebung und Bescheidenheit, Gesten des guten Willens, viel Zeit und Verständnis. Es ist schwierig und schmerzhaft und treibt jedes Jahr Millionen von Kindern zu Tränen, wenn sie in den Schulen erfahren, was ihre Vorfahren in diesem Land geschehen ließen. Es braucht Stärke und Beständigkeit und Millionen menschlicher Bemühungen, aber am Ende ist es das wert – für nur einen Tag des Friedens, wie diesem. Mit Tränen in den Augen sitze ich hier am Flussufer und danke all denen, die diesen Frieden möglich gemacht haben und hoffe, dass auch ihr einmal in der Lage sein werdet, zusammen, Arm in Arm, auf dem Ölberg zu sitzen und herab zu schauen auf die wunderschöne Stadt Jerusalem, die euren beiden Völkern gehört.

Liebe Freunde in Palästina und liebe Freunde in Israel – habt Mut und versucht, über die Fassade des Hasses, der Wut und der Angst hinweg zu schauen. Wartet nicht auf einen „Sieg“, den euch eure Regierenden versprechen, der so aber nie erreicht werden kann. Seid ehrlich: ihr wisst, wie wahrer Sieg aussieht. Ihr wisst wie es sich anfühlt, eure Regierenden zu sehen, frühere Gegner, Hand in Hand bei einer Friedenskonferenz stehend, eine bessere Zukunft für alle Bürger versprechend – das ist ein Sieg, viel größer, als jede Landnahme, jeder beschlagnahmte Raketenwerfer oder jeder gefangengenommene Gegner. Ihr habt die Erfahrung gemacht, dass ein kalter Frieden besser ist als ein heißer Krieg. Ihr habt beide zu viel zu verlieren und in einem Krieg wie diesem, gibt es nur Verlierer. Das wisst ihr. Wenn ihr ehrlich mit euch seid, seht ihr die Abwärtsspirale, in die euch die Politik eurer Regierenden getrieben hat. Ihr wisst, dass nur die Extremisten etwas bei diesem Krieg zu gewinnen haben.

Ihr wisst, dass dieser Krieg euer Leben nicht sicherer oder besser machen wird. Im Gegenteil, mit jedem Tag dieses schlimmen Konflikts, verlieren mehr Menschen ihr Leben, mehr Familien werden getrennt, mehr Teile eures schönen Landes werden mit Stacheldraht, Bombenkratern, Zäunen, Mauern und Checkpoints verschandelt – und eure Menschlichkeit wird mehr und mehr von Gewalt überdeckt. Es wird nicht einfacher, sondern schwerer werden, je länger ihr wartet. Liebe und Frieden sind die einzigen Dinge auf dieser Welt, die mehr werden, wenn man sie teilt. Habt Mut und reicht euch die Hände. Es ist der einzige Weg.

Euer guter Freund, Alex Rosen

Erstveröffentlichung des Beitrages von Dr. Alex Rosen, Kinderarzt und stellvertretender Vorsitzender der IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) am 14. August 2014