THE VISITOR, Shanghai: Xilong (Teil 2)

THE VISITOR, Shanghai - Xilong, Teil 2

Tagebucheintrag von THE VISITOR. Der Basis Filmverleih bringt den Nonfiction Film im Februar 2015 in die Kinos.

Wir kommen wieder, am frühen Morgen. Unter den flatternden Hemden hocken Männer in Unterhosen und putzen sich die Zähne. Sie sehen kurz verwundert hoch und putzen weiter. Auf eine Art, scheint es, gewöhnen sie sich an unsere Anwesenheit ohne sie im Geringsten zu verstehen. Von drinnen dringen Geräusche von Toilettenwasser und von Ausgespucktem, verklebter Staub täglicher Arbeit aus den Eingeweiden eines Körpers. Wir warten draussen auf Xilong, scheuen die Intimität der Männer am Morgen. Xilong kommt aus dem dunklen Raum, einen Freund an der Seite, gibt uns ein Zeichen ihm zu folgen. Er kauft ein weisses teigiges Bällchen in einer Plastiktüte für mich und sich. Die Verkäuferin sieht mich an, dann ihn, lächelt wie eine wissende Tante zu Xilong der sie nicht beachtet.
Wir gehen durch einen Park mit künstlich angelegten Seen und ersticktem grauen Gras. Zu harmonischen Klängen aus Lautsprechern üben Gruppen alter Menschen Thai Chi. Manche tragen blaue T-Shirt mit Aufdruck, Shanghai Expo 2010. Xilong und ich gehen wortlos nebeneinander, als wären es schon Jahre, dass wir so schweigend nebeneinander gehen, als wäre das unsere Art der Existenz. Der Freund läuft genauso selbstverständlich hinterher. Aus dem Park heraus empfangen uns der Lärm, der Dreck, die Autos, auch sie wie alte Bekannte. Wir laufen an einem blauen Bauzaun entlang, immer mehr Männern mit Bauhelmen entgegen. An einer offenen Stelle des Zauns bleibt Xilong stehen: it’s here. Wir sehen eine riesige Baustelle, davor Männer mit Militaruniform und Maschinengewehren. You can’t come in, sagt Xilong.
Wir bleiben draussen stehen und sehen ihm nach.
Am Abend, als wir wiederkommen hockt Xilong vor dem Bauzaun und raucht, andere Männer sind da, auch der Freund von heute morgen, sie begrüssen uns leicht und warm, ich hocke mich neben Xilong und der Freund klaubt Mörtel aus seinem Haar während Xilong mich fragt: Going to? Where are you going to?
Ich zucke die Schulter. Xilong lacht,zwischen seinen Zähnen quillt der Rauch der Zigarette. Wir gehen mit allen Männern zusammen in eines der billigen Restaurants der Strasse, vollgepackt mit staubigen, müden Arbeitern. Xilong starrt abwesend vor sich hin.
Am nächsten Abend um die gleiche Zeit sind wir wieder da, wollen ihn von der Arbeit abholen. Er ist nicht vor der Baustelle, auch nicht am Schlafort. Wir laufen die Nacht wieder zurück an den Ort seiner Arbeit. Ein Bagger schuftet, ein gelber Dinosaurier. Die Lampen brennen auf den Köpfen von Arbeitern, die in Seilen an der riesigen Hauswand hängen wie Matrosen an einem Schiff. Es gibt keinen Feierabend. Wir sehen in jedes der kleinen, schmutzigen Restaurants. Xilong ist nicht da. Wir laufen, obwohl es längst sinnlos ist stundenlang weiter. Plötzlich, aus dem Irgendwo ist er da. Ein fast unmöglicher Zufall in der Riesenstadt Shanghai. Sein Gesicht leuchtet kurz auf als er uns sieht. Wir gehen schweigend nebeneinander.Es gibt eine merkwürdige Trauer zwischen uns, das fällt mir jetzt auf. Von Anfang an war diese Trauer da, einer Unmöglichkeit, eines Abschieds, einer verpassten Chance. Auf eine Art eine unpersönliche Trauer, eine Menschenallgemeine, ich frage mich woher so ein echtes grosses Gefühl kommt zwischen Unbekannten, zwischen zwei Menschen deren Nähe durch ein Projekt zustande kam. Kann man sich Nähe vornehmen?
Am Abend darauf erscheint er fast pünktlich, direkt von der Arbeit, die Kleidung, die schwarzen Haare voll hellem Mörtel. Geht sehr aufrecht, bestimmt, ein chinesischer Massai zwischen den Leuchtscreens Shanghais. Der Boss ist dabei. Er grinst schief. Wir gehen ihnen hinterher, dem Boss und dem Fremden, sie gehen schnell und warten nicht auf uns. Sie gehen in einen Handyladen und verhandeln. Sie kaufen etwas. Der Boss deutet auf uns, Xilong geht zu uns, die langsamer waren hinaus. My boss think you don’t like China. If you don’t like China, you are not my friend. Er sieht mich nicht an. Der Boss will, dass Xilong mit ihm nachhause kommt. Zuhause unter die Brücke. Der Boss will nicht, dass Xilong frei herumläuft. Der Boss will auch nicht, dass wir Bilder machen in der Behausung. Vielleicht sind wir ja Journalisten aus dem Westen die fotographieren, wir lausig der Boss seine Männer unterbringt. Xilong gibt mir ein Zeichen. Morgen. Der Boss nähert sich: After I work, my boss give me my pay, sagt Xilong noch und: you come here, tomorrow 6 o clock.
Am nächsten Abend an der selben Stelle, an einer Kreuzung voller Autos ist Xilong auch da. Er gibt mir eine Zigarette. Wir gehen nebeneinander. Wir setzen uns. Wir schweigen. Xilong starrt vor sich hin. My boss….my boss don’t give me money. I don’t like my boss. Er steht auf: Let’s go.
Wir kommen wieder an die gleiche Stelle pünktlich am nächsten Abend um 6. Es ist kalt. Wir warten. Wir warten lange. Er kommt nicht.
Am nächsten Morgen suchen wir ihn, dem Boss zum Trotz, in seiner Behausung unter der Brücke. Xilong, die Decke auf den Beinen, ohne Hemd auf seinem Bett. Sein Freund sitzt auf einem Stuhl, schweigend, sie rauchen. Der Freund bietet uns eine Zigarette an. Wir hören das Knacken des Wasserkochers, das dröppelnde Wasser von der nassen Kellerdecke. We are away today, sagt Xilong. Die Trauer ist jetzt in den Raum gekrochen. Er steht auf und packt. Ich helfe ihm. Er sagt: thank you. Der Boss kommt und andere Männer, sie fangen an die Betten abzubauen. Xilong sieht ihn nicht an. Der Boss hat ihm kein Geld gegeben. Xilong setzt sich an den schmutzigen Tisch und holt eine Zeitung. Er fängt an zu schreiben, auf Zeitungen, Spielkarten, Klopapier während die Betten abgebaut werden, während der Fernseher hinausgetragen wird, während andere von ihrer Arbeit kommen und packen. Der Boss sieht ihm misstrauisch zu, das ist ihm jetzt egal. Xilong zeigt mir Bilder von sich in einem weissen Anzug. One year ago, sagt er, one year. Und: I want to do another work. Irgendwann ist es spät. Xilong sagt: Now I leave. Er wird jetzt abgeholt werden. Er bringt uns hinaus. Es hängen keine Kleider mehr von der Leine, dafür stapeln sich Plastiküten mit Schlafsäcken und Habseligkeiten oder Unseligkeiten der Wanderarbeiter die sie bald wieder zu schleppen haben. Kartenspiele, sperrige Schirme, Hosen, Hemden. Bye bye, sagt Xilong leise. Wir drehen uns um und gehen.