Vor einhundert Jahren, am ersten Heiligen Abend des Ersten Weltkrieges, folgten deutsche, englische und französische Soldaten in den Schützengräben, die an der Westfront in Belgien und Frankreich gekämpft hatten, nicht den Befehlen der Generäle sondern den natürlichen ihres Herzens. Diese Nacht schrieb Geschichte, die im englischen als „Christmas Truce“ bezeichnet und der bis heute in einen viel grösseren Ausmass in den U.S.A. und Grossbritannien als in Deutschland in den Kirchen gedacht wird, vor allem auch mit dem Lied „Christmas in the Trenches“.
In der klirrenden Kälte des Abends begann ein junger deutscher Soldat das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Einige weitere stimmten ein und schliesslich auch die britischen Soldaten mit „Silent Night, holy night“ (Version von ENYA). So wurde dieses Lied in der Dunkelheit zusammen in zwei Sprachen gesungen, von sich zwei feindlich gegenüberliegenden Armeen.
Bitte halten Sie jetzt für einen Moment inne und veranschaulichen Sie sich diese Situation, die die totale Absurdität des Krieges zeigte. Es wird kaum ein mächtigeres Argument für unbedingten Frieden geben. Die meisten Soldaten waren noch sehr jung.
Es wurden immer mehr Soldaten, die sich von beiden Seiten Weihnachtswünsche zuriefen „A merry Christmas, „Frohe Weihnachten“.
Ein deutscher Soldat spielte auf seiner Geige. Soldaten aus Kent sangen „God Rest Ye Merry, Gentlemen“ traditionelle Choraufnahme, Song von Loreena McKennit.
Als Soldaten aus ihren Schützengräben aufstanden, unbewaffnet, zum Teil mit weissen Tüchern, fiel nicht ein einziger Schuss. Kurz danach trafen sich die Soldaten im „Niemandsland“, unterhielten sich, rauchten gemeinsam Zigaretten, tauschten Lebensmittel aus und zeigten sich die Bilder ihrer Familienangehörigen.
Ein britischer Zeitzeuge: „Einige von uns sprangen auf die Brustwehr und begannen die ankommenden Deutschen zu begrüssen. Unsere Hände streckten sich aus und schlossen sich im Griff der Freundschaft. Weihnachten hatte die erbittertsten Feinde zu Freunden gemacht.“
Es kam sogar zu einem improvisierten Fussballspiel zwischen deutschen und englischen Soldaten, das Fussballfeld wurde mit Fackeln beleuchtet, die von den Zuschauern hochgehalten wurden.
An der Frontlinie hatten einige Soldaten Fotoapparate in ihrem Gepäck. So wurden Fotos dieses Waffenstillstandes überliefert – ein Ausnahmezustand der Menschlichkeit inmmitten einer Hölle, angezettelt von ihren „Obrigkeiten“.
Nach dem Ende des Krieges trafen sich in Dänemark nahe der deutschen Grenze einige Veteranen jedes Jahr an den Weihnachtsfeiertagen in Erinnerung an dieses einzigartige Ereignis.
Weshalb bedarf es erst eines besonderen Anlasses, spontan der Vernunft und Einsicht zu folgen, dass die Menschen an der gegenüber stehenden Frontlinie Menschen mit den gleichen Gefühlen, mit Familien und Ansichten sind. Ein Stück Stoff, die Uniform kann unmöglich einen gefühllosen Mechanismus trotz allen Drills und Konditionierung bewirken.
Der Weihnachtsabend 1914 brachte die Soldaten wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, in die Normalität – zurück zur Menschlichkeit. In gewissen Sinn ist der 24.Dezember auch eine Art Konditionierung, hervorgerufen durch die Tradition, das Fest der Liebe und des Friedens.
Jeder Soldat muss sich für oder gegen eine Beteiligung am Töten entscheiden. Es gibt kein Dazwischen, weder für den Mechaniker, Büroangestellten, Koch, Funker und andere „zivilen“ Berufe in der Bundeswehr. Alle tragen dazu bei, dass dieser Apparat funktioniert. Der Tod eines Soldaten der gegnerischen Partei ist kein Ausnahmezustand, der so gut wie nicht eintreten wird.
Die Geschichte des selbst gewählten Waffenstillstandes hilft dabei, diesen Widerspruch anschaulich zu verdeutlichen. Jeder noch so gute Verdrängungsmechanismus kann versagen, die „Täteropfer“ erliegen ihren Schuldgefühlen, Suizidgedanken und das ein Leben lang. Ignoranz ist fehl am Platz, es gibt genügend Beispiele, bei denen ein psychologisches Wrack am Ende steht – abhängig von Psychopharmaka oder Alkoholismus. Die meisten Betroffenen klagen über zu geringe Unterstützung seitens der Armee und langjährige Kämpfe um Anerkennung als Krankheit.
Gesellschaftlich kritische Künstler tragen mit ihren Bildern, Texten und Musik dazu bei, die Grauen und Absurdität des Krieges einer breiten Schicht sehr anschaulich und einprägsam vor Augen zu führen.
John McCutcheon, ein U.S.-amerikanischer Folksänger, griff den Waffenstillstand von 1914 auf und veröffentlichte diesen siebzig Jahre später in 1984 in dem Album Winter Solstice (Wintersonnenwende) mit der Ballade „Christmas in the Trenches“ (Weihnachten in den Schützengräben). Der Song, der kein Weihnachtsmärchen ist, fand auch als Cover-Version weite Verbreitung. Hier ein Video mit John McCutcheon:
Die österreichische Zeitung „Der Standard“ veröffentlichte am 23.Dezember den Beitrag „English soldier, a merry Christmas, a merry Christmas!“ von Jakob Pflügl. Dort wird ein Brief des britischen Augenzeugen Frederick W. Heaths vorgestellt, hier in deutscher Übersetzung.
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