Verantwortung für Drohnenmorde: Präsident Obama und der Nebel des Krieges

Als Präsident Barack Obama sich am 23. April bei den Familien von Warren Weinstein und Giovanni Lo Porto, einem Amerikaner und einem Italiener, beide Geiseln, die durch einen Drohnenangriff in Pakistan im Januar getötet wurden, entschuldigte, gab er die Schuld an ihrem tragischen Tod dem „Nebel des Krieges.“

„Diese Operation entsprach voll den Richtlinien, nach denen wir antiterroristische Maßnahmen in der Region durchführen,“ sagte er, und auf der Grundlage von „hunderten Stunden der Überwachung glaubten wir, dass das (das von den von Drohnen abgeschossenen Raketen getroffene und zerstörte Gebäude) eine Anlage von al-Qaeda war, dass keine Zivilisten anwesend waren.“ Sogar angesichts der besten Absichten und strengsten Sicherheitsmaßnahmen, so der Präsident, „ist es eine grausame und bittere Wahrheit, dass im Nebel des Krieges allgemein und besonders in unserem Kampf gegen Terroristen Fehler, manchmal tödliche Fehler – passieren können.“

Der Begriff „Nebel des Krieges” wurde vom preussischen Militäranalytiker Carl von Clausewitz 1832 eingeführt, um die Unsicherheit zu beschreiben, die von Kommandanten und Soldaten auf dem Schlachtfeld erfahren wird. Er wird oft benutzt, um „friendly fire“ (Beschuss durch eigene Truppen) und andere unbeabsichtigte Tode in der Hitze und Verwirrung des Kampfs zu erklären oder zu entschuldigen. Der Begriff lässt lebendige Bilder von Chaos und Ungewissheit aufkommen. Nebel des Krieges beschreibt unglaublichen Lärm und Trauma, Hagel von Kugeln und Artilleriegeschossen, markerschütternde Explosionen, Schreie der Verwundeten, gebrüllte und widerrufene Befehle, durch Gas-, Rauch- und Staubwolken eingeschränkte und gestörte Sicht.

Krieg selbst ist ein Verbrechen und Krieg ist Hölle, und in seinem Nebel können Soldaten unter emotionaler, sensorischer und physischer Überlastung leiden. Im Nebel des Krieges müssen Soldaten, die ermüdet sind über den Punkt der Belastbarkeit hinaus, und voller Angst um ihr eigenes und das Leben der Kameraden, oft in Sekundenbruchteilen Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Unter derart betrüblichen Umständen ist es unvermeidlich, dass „Fehler – manchmal tödliche Fehler – passieren können.“

Aber Warren Weinstein und Giovanni Lo Porto wurden nicht im Nebel des Krieges getötet. Sie wurden nicht einmal im Krieg getötet, nicht in dem, was bis jetzt als Krieg betrachtet wird. Sie wurden in einem Land getötet, mit dem die Vereinigten Staaten von Amerika sich nicht im Krieg befinden. Niemand kämpfte in der Anlage, in der sie starben. Die Soldaten, die die Raketen abfeuerten, welche diese beiden Männer töteten, befanden sich tausende Meilen weit weg in den Vereinigten Staaten von Amerika und waren in keiner Weise gefährdet, nicht einmal wenn jemand zurückgeschossen hätte. Diese Soldaten beobachteten, wie die Anlage unter ihren Raketen in Rauch aufging, aber sie hörten nicht die Explosion und auch nicht die Schreie der Verwundeten, noch spürten sie die Erschütterung durch die Explosion. Es kann angenommen, dass sie in dieser Nacht wie auch in der Nacht vor dem Angriff zuhause in ihren eigenen Betten geschlafen haben.

Der Präsident gibt an, dass diese Raketen erst abgefeuert wurden, nachdem “Hunderte von Stunden der Überwachung” sorgfältig von Verteidigungs- und Geheimdienstanalysten ausgewertet wurden. Die Entscheidung, die zu den Toden von Warren Weinstein und Giovanni Lo Porto führte, wurde nicht in der Hitze des Kampfes getroffen, sondern im Komfort und in der Sicherheit von Büros und Konferenzräumen. Die Sicht war nicht getrübt durch Rauch und Staub, sondern wurde verstärkt durch die höchstentwickelte „Gorgon Stare“ Überwachungsgtechnologie der Reaper-Drohnen.

Am selben Tag wie die Erklärung des Präsidenten gab der Pressesprecher des Weißen Hauses auch eine Veröffentlichung mit diesen Neuigkeiten heraus: „Wir sind zum Schluss gekommen, dass Ahmed Farouq, ein Amerikaner, der ein al-Qaeda-Führer war, in derselben Operation getötet wurde, die zum Tod von Dr.Weinstein und Herrn Lo Porto führte. Wir haben auch befunden, dass Adam Gadahn, ein Amerikaner, der zu einem prominenten Mitglied von al-Qaeda wurde, im Januar getötet wurde, wahrscheinlich in einer getrennten Antiterrorismusoperation der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Obwohl Faraouq und Gadahn Mitglieder von al-Qaeda waren, war die Operation gegen keinen der beiden gerichtet, und wir hatten keine Information, die auf ihre Anwesenheit an den Orten dieser Operationen hingewiesen hat.“ Wenn das Mord per Drohne-Programm des Präsidenten manchmal versehentlich Geiseln tötet, tötet es auch manchmal versehentlich Amerikaner, die angeblich Mitglieder von al-Qaeda sind, und scheinbar erwartet das Weiße Haus von uns, dass wir in dieser Tatsache einigen Trost finden.

Ungeachtet von „Hunderten Stunden Überwachung“ und obwohl er „voll den Richtlinien entsprach, unter denen wir unsere Antiterrorismusbemühungen durchführen,“ wurde der Befehl, die Anlage anzugreifen, trotz Fehlens jeglichen Hinweises gegeben, dass Ahmed Farouq dort war oder dass Warren Weinstein nicht anwesend war. Drei Monate nach dem Vorfall gibt die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zu, dass sie ein Gebäude in die Luft jagte, das sie tagelang beobachtet hatte, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wer sich darin aufgehalten hat.

Die „grausame und bittere Wahrheit” ist in der Tat, dass Warren Weinstein und Giovanni Lo Porto nicht in einer „Antiterrorismus-Bemühung“ getötet wurden, sondern in einem Akt des Terrorismus, begangen von der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie starben in einem gangstermäßigen Überfall, der daneben ging. Getötet in einem hochtechnisierten Feuergefecht sind sie bestenfalls Opfer einer fahrlässigen Tötung, wenn nicht eines unverblümten Mordes.

Eine weitere „grausame und bittere Wahrheit” ist, dass Menschen, die durch Drohnen fernab von einem Schlachtfeld wegen Verbrechen hingerichtet werden, für die sie nicht vor Gericht gestanden und verurteilt worden sind, wie bei Ahmed Farouq und Adam Gadahn der Fall, keine Feinde sind, die rechtmäßig im Kampf getötet wurden. Sie sind Opfer einer Lynchjustiz per Fernsteuerung.

„Predators und Reapers sind nutzlos in einer umkämpften Zone,” gab General Mike Hostage, Chef des Luftkampfkommandos der Luftwaffe in einer Ansprache im September 2013 zu. Drohnen haben sich als nützlich erwiesen, sagte er, bei „der Jagd auf“ al-Qaeda, aber taugen nicht für wirklichen Zweikampf. Nachdem al-Qaeda und andere terroristische Organisationen erst geblüht und sich vermehrt haben, seit Obamas Drohnenkampagnen 2009 losgingen, kann man mit der Behauptung des Generals über ihren Nutzen an einer Front nicht einverstanden sein, aber es ist eine Tatsache, dass der Einsatz von tödlicher Gewalt durch eine militärische Einheit außerhalb eines Kampfgebiets, außerhalb eines Schlachtfelds ein Kriegsverbrechen ist. Es könnte sich daraus ergeben, dass bereits der Besitz einer Waffe, die nur in einer nicht umkämpften Umgebung von Nutzen ist, schon ein Verbrechen darstellt.

Die Tode von zwei westlichen Geiseln, eine davon ein amerikanischer Bürger, sind in der Tat tragisch, aber nicht tragischer als die Tode von Tausenden von jemenitischen, pakistanischen, afghanischen, somalischen und libyschen Kindern, Frauen und Männern, die von denselben Drohnen ermordet werden. Sowohl der Präsident als auch sein Pressesprecher versichern uns, dass die Ereignisse in Pakistan im vergangenen Januar „voll den Richtlinien entsprochen haben, nach denen wir unsere antiterroristischen Maßnahmen durchführen,“ alles wie gehabt, in anderen Worten. Es sieht so aus, als wenn nach Ansicht des Präsidenten Tod nur tragisch ist, wenn ungelegenerweise herauskommt, dass westliche nicht muslimische Menschen getötet werden.

„Als Präsident und als Oberbefehlshaber übernehme ich die volle Verantwortung für alle unsere Antiterrorismus-Operationen einschließlich derjenigen, die irrtümlich Warren und Giovanni das Leben kostete,“ sagte Präsident Obama am 23. April. Seit Präsident Ronald Reagan die volle Verantwortung für das Iran-Contra-Waffengeschäft übernahm bis zum jetzigen Zeitpunkt ist klar, dass ein Eingeständnis von Verantwortung durch den Präsidenten heißt, dass niemand zur Verantwortung gezogen wird und dass sich nichts ändern wird. Die Verantwortung, die Präsident Obama für nur zwei seiner Opfer übernimmt, ist zu armselig, um Überlegungen anzustellen, und in Verbindung mit seiner teilweisen Entschuldigung ist sie eine Beleidigung ihres Andenkens. In diesen Tagen der Ausflüchte der Regierung und der offiziellen Feigheit ist entscheidend, dass es einige gibt, die die volle Verantwortung für alle Getöteten übernehmen und Taten setzen, um diesen Akten von rücksichtsloser und provokanter Gewalt ein Ende zu bereiten.

Fünf Tage nach der Bekanntgabe der Morde an Weinstein und Lo Porto durch den Präsidenten, am 28. April, hatte ich das Privileg, mit einer entschlossenen Gemeinschaft von Aktivisten in Kalifornien vor der Beale Air Force Base zu sein, der Heimat der Global Hawk Überwachungsdrohne. Sechzehn von uns wurden verhaftet wegen Blockierens der Zufahrt zur Basis, wobei sie die Namen von Kindern verlasen, die auch in Drohenattacken getötet wurden, aber ohne Entschuldigung des Präsidenten oder auch nur das Eingeständnis, dass sie überhaupt gestorben sind. Am 17. Mai war ich mit einer anderen Gruppe von Anti-Drohnen-Aktivisten vor der Whiteman Air Force Base in Missouri und Anfang März in der Wüste von Nevada vor der Creech Air Force Base, die mehr als hundert Drohnenmorde zu verzeichnen hat. Verantwortungsvolle Bürger demonstrieren vor Drohnenbasen in Wisconsin, Michigan, Iowa, New York, vor der RAF in Waddington im Vereinigten Königreich, vor der Zentrale der CIA in Langley, Virginia, vor dem Weißen Haus und anderen Schauplätzen dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Auch im Jemen und in Pakistan sprechen sich Menschen aus gegen die Morde, die in ihren eigenen Ländern stattfinden, und das unter großem Risiko für sich selbst. Anwälte von Reprieve und des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte haben eine Klage bei Gericht eingebracht, die die deutsche Regierung beschuldigt, ihre eigene Verfassung gebrochen zu haben, indem sie den Vereinigten Staaten von Amerika gestattet hat, eine Satelliten-Relaisstation auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland für Drohnenmorde im Jemen zu benutzen.

Vielleicht wird Präsident Obama eines Tages für diese Morde zur Verantwortung gezogen werden. Bis dahin liegt die Verantwortlichkeit, vor der er und seine Administration sich drücken, bei uns allen. Er kann sich nicht hinter einem Nebel des Krieges verstecken, und wir auch nicht.

Orginalartikel „Taking Responsibility for Drone Killings: President Obama and the Fog of War“ vom 27.Mai 2015

Quelle: http://antikrieg.com/aktuell/2015_05_27_verantwortung.htm