BBC-Filmreihe “The Trap” (III): Die Freiheit von Berlin oder Der „Kampf der Zivilisationen“
BBC-Filmreihe “The Trap”: Wie Psychologie und Menschenbild des heutigen Kapitalismus erfunden wurden
BBC-Filmreihe “The Trap” (II): Der einsame Roboter – der genetisch programmierte Homo Oeconomicus
Artikel zum dritten und letzten Teil der BBC-Filmreihe “The Trap – What happened to our Dream of Freedom” (“Die Falle – Was mit unserem Traum von Freiheit geschah”) von Adam Curtis: “We will force you to be free” („Wir werden euch zwingen frei zu sein“). Wörtliche Zitate sind als solche gekennzeichnet.
Episode III: We will force you to be free
Sprecher / Adam Curtis:
„Diese Filmreihe erzählte die Geschichte vom Aufstieg einer beschränkten und eigentümlichen Art und Weise von Freiheit. Die letzten beiden Sendungen haben gezeigt, wie Politiker sowohl von der Rechten als auch der Linken dazu kamen an ein simplifizierendes Modell von Menschen zu glauben, als selbstsüchtige, fast roboterartige Kreaturen.
Daraus entstand eine neue und vereinfachte Idee von Politik. Nicht länger machten sich Politiker daran die Welt zu verändern. Stattdessen sahen sie es als ihren Job an, nicht mehr als das abzuliefern was diese freien Individuen wollten. Und gleichzeitig fingen auch wir an von uns selbst als vereinfachte Wesen zu denken, deren Verhalten und sogar Gefühle objektiv analysiert werden könnten durch wissenschaftliche Systeme, die uns sagten was die normale Art war zu fühlen. Und sowohl wir, als auch unsere Führer, kamen zu dem Glauben, dies sei die wahre Definition von Freiheit. Es gäbe keine andere.
Doch es gibt sie.
Es gibt eine alternative Idee von Freiheit. Aber wir haben sie versteckt und vergessen, weil sie so beängstigend und gefährlich sein kann. Es ist der Traum nicht nur die Welt zu verändern, sondern außerdem Menschen zu transformieren und durch ihre Veränderung sie dann von sich selbst befreien zu können. Dieser Film wird zurückblicken und diese vergessene Idee von Freiheit ausgraben. Er wird zeigen, warum sie so gefährlich ist und warum sie versteckt wurde. Aber er wird ebenfalls zeigen, warum uns diese Idee immer noch (im Bann / gefangen) hält – weil sie Menschen inspiriert. Sie bietet Hoffnung und Bedeutung in einer Weise, welche unsere beschränkte Version der Freiheit absichtlich entworfen wurde auszuschließen.
Die Architekten unserer gegenwärtigen Welt haben uns eine schreckliche Falle gestellt. Im Streben uns vor den Gefahren der anderen Art von Freiheit zu beschützen, führten sie uns in eine Welt ohne Bedeutung.“
Adam Curtis beschreibt nun im dritten Teil von „Die Falle – Was mit unserem Traum von Freiheit geschah“ die Erfindung der Definition von Freiheit als zweier grundlegend verschiedener und sich diametral widersprechender Versionen durch einen seinerzeit einflussreichsten Philosophen des Vereinigten Königreiches, dessen zu Zeiten des Kalten Krieges entwickelte Lehren bis heute im gesamten „westlichen“ Einflussbereich von Madrid bis Melbourne als (welt)politisches Grundlagenwerk angesehen werden: Isaiah Berlin.
I
Isaiah Berlin, im Kaiserreich / Zarenreich Russland 1909 in Riga geboren und später in St. Petersburg zweisprachig (russisch, deutsch) aufgewachsen, erlebt als Kind die Revolution gegen den Zaren im Februar 1917, die Entstehung einer provisorischen Räterepublik Russland („Sowjet“ – „Rat“) und die nachfolgende Machtergreifung der Bolschewisten in der Nacht zum 7. November 1917, unmittelbar vor der Tagung des obersten russischen Rates (Allrussischer Sowjetkongress) und nur Tage vor der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung am 25. November 1917 (in der die Bolschewiki später nur rund 25 % der Delegierten bekommen und sie deshalb am 18. Januar 1918 auseinander jagen).
Die Familie Berlin – Zeitzeugen der Machtergreifung über das größte Land der Erde durch eine winzige, aber straff organisierte Gruppe – wandert 1920 zunächst wieder nach Riga im nun unabhängigen Litauen aus und Anfang 1921 weiter nach Großbritannien. Dort studiert der junge Isaiah Berlin in Oxford.
Spätestens ab 1940 ist Isaiah Berlin „Diplomat“ ihrer Majestät, zuerst in Washington, dann im sowjetischen Moskau. Bekannt wird er nicht durch Bücher, Vorträge oder Erfindungen, sondern indem ihn Winston Churchill 1949 bei einem Dinner mit dem u.s.-amerikanischen Irving Berlin verwechselt und von diesem detaillierte Informationen über die Lage in Washington verlangt. Irving Berlin macht nachfolgend die peinliche Angelegenheit öffentlich. Isaiah Berlins Name gelangt in die Presse.
Isaiah Berlin, geübter Rhetoriker, großer Kommunikator und charmant (er darf in den 60ern gleich sein eigenes College gründen) entwickelt in Oxford mehrere Gesellschaftsmodelle. U.a. teilt Berlin alle Autoren und Literaten der Welt in zwei Gruppen ein: in „Füchse“ und „Igel“. Die „Igel“ definiert er, grob erklärt, als starrsinnige Monolithen, die ihre Meinungen nicht wie Diplomaten wechseln, sondern einem kohärenten Menschenbild folgen, nach welchem sie Werte und Moral entwickeln und ausrichten.
Als „Füchse“ (so sieht er sich selbst) bezeichnet Berlin dagegen alle Autoren,
„welche viele Enden verfolgten, oft ohne Bezug zueinander und sogar widersprüchlich (..) unter Bezug auf keine Moral oder ästhetisches Prinzip; diese Letzteren führen Leben, setzen Gesetze um / führen Darbietungen auf und unterhalten Ideen die eher zentrifugal als zentripetal sind, ihr Gedanke ist zerstreut oder diffus, sich auf vielen Ebenen bewegend, die Essenz einer Vielzahl von weitreichenden Erfahrungen und Objekten vereinnahmend“
(Original nach Wikipedia: „who pursue many ends, often unrelated and even contradictory, […] related by no moral or aesthetic principle; these last lead lives, perform acts, and entertain ideas that are centrifugal rather than centripetal, their thought is scattered or diffused, moving on many levels, seizing upon the essence of a vast variety of experiences and objects“)
Isaiah Berlins zentrale und bis heute in alle Bereiche der (ab)gehobenen politischen und akademischen Klasse ausstrahlende These waren die 1958 veröffentlichten „Two Concepts of Liberty“ („Zwei Konzepte der Freiheit“). In ihnen definierte Isaiah Berlin zwei sich grundlegend widersprechende Auffassungen von Freiheit: negativer (Freiheit von) und positiver (Freiheit zu).
Für den Betrachter verwirrend ordnete er „positiv“ als negativ (gefährlich) und „negativ“ als positiv (gut) ein.
Sprecher / Adam Curtis:
„In 1958 hielt Berlin einen Vortrag in Oxford, den er ´Zwei Konzepte der Freiheit´ nannte. Es sollte eine der entscheidenden ideologischen Grundlagen des Kalten Krieges werden. Es gäbe, sagte er, tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Arten von Freiheit. Die eine nannte er `positive Freiheit´ und die andere ´negative Freiheit´. Und um sie zu erklären, ging Berlin zurück in die Vergangenheit.
Beide Ideen entstanden, sagte er, im gleichen Impuls, mehr als zweihundert Jahre zuvor zur Zeit der französischen Revolution, mit Individuen, die sich befreien wollten von der Unterdrückung durch Tyrannen und Despoten. `Positive Freiheit`, erklärte Berlin, wurde geboren aus dem Glauben derjenigen, die diese Revolutionen anführten – dass die Menschen, um wahrhaftig frei zu sein, transformiert werden müssten, dass sie bessere, rationale Wesen werden müssten. Und nur die (An)Führer wüssten, was diese Idee von Menschheit sein sollte und wie sie erschaffen werden könnte.
Dies, sagte Berlin, führte zu einer schrecklichen Logik in allen Revolutionen. Die Massen, die nicht begriffen was wirkliche Freiheit bedeutete, mussten (dazu) genötigt werden.
Auf dem Höhepunkt der französischen Revolution, erläuterte dies der Kopf der Jakobiner, Robespierre: `Terror für eine revolutionäre Regierung´, sagte er, ´ist völlig verschieden zu dem Terror, den die Tyrannen der Vergangenheit benutzten´. Denn nun bedeutete er die Zerstörung derjenigen, deren moralische Korruption den Weg zu einer neuen Gesellschaft verbauten. Terror, sagte er, sei der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei geworden. Ein anderer Jakobiner, Saint-Just, fasste es einfacher zusammen: ´Wir müssen die Menschen zwingen frei zu sein.´
Vom französischen Terror zu den Schauprozessen und Massenexekutionen in der Sowjetunion führte diese Logik, so argumentierte Berlin, immer zum Grauen und dem genauen Gegenteil von Freiheit. ´Positive Freiheit´, sagte er, würde immer scheitern, da sie getrieben sei vom Irrglauben, es gäbe eine wahre Antwort auf alle menschlichen Übel.“
Die Erfindung der Definition „Positive Freiheit“ durch Isaiah Berlin reichte weit über die Betrachtung des historischen Kontext hinaus. Im Kern waren seine in 1958 veröffentlichte Thesen nicht (mehr) nur die Aufarbeitung von russischer Revolution, der nachfolgenden Machtergreifung der Bolschewisten, des Aufstiegs vom Faschismus in Deutschland und der 2. Weltkrieg, sondern (schon) die ideelle Auseinandersetzung einer privilegierten Schicht in den westlichen parlamentarischen Demokratien (der Berlin ohne Zweifel angehörte) mit der Staatsdoktrin im konkurrierenden Ostblock bzw Teilen des östlichen Asiens, wie China und Vietnam: dem Kommunismus bzw Sozialismus.
Und in dem Kontext dieser, nicht irgendeiner historischen Situation – oder etwa aus Entsetzen einer persönlichen Erfahrung im Washington der 40er oder des Oxfords der 50er Jahre heraus – definierte Isaiah Berlin nicht nur jede zielgerichtete Ideologie, sogar jede zielgerichtete („zu“) Politik mit politischem Inhalt oder Anspruch als positive (gefährliche) Freiheit, ganz gleich wie sich dieser Anspruch selbst begründete oder argumentierte (religiös, nationalistisch, völkisch-ethnisch, sozial, sozialistisch, demokratisch, ökologisch, patriotisch, etc). Berlin erklärte jede zielgerichtete politische Idee zu einer Form der „positiven Freiheit“ (Freiheit zu) und damit gefährlich für die freie Gesellschaft, da jede zielgerichtete politische Idee – völlig egal welche – unweigerlich in autoritäre oder totalitäre (staatliche) Strukturen führe.
Bezeichnenderweise beschränkte Isaiah Berlin seine These der gefährlichen zielgerichteten „positiven Freiheit“ auf die Politik und nicht etwa auf z.B. die „Geldpolitik“ von Banken oder auf Eigentum basierende Herrschaftsverhältnisse. Finanzielle, ständische oder jedwede andere Hierarchien, Privilegien oder zielgerichtete Aktivitäten zur offenen oder verdeckten Kontrolle der Gesellschaft bzw. deren Aufrechterhaltung für den eigenen Profit, all das fiel nicht unter Berlins positive (gefährliche) Freiheit, wenn sie nicht staatlich waren, weil sie nicht staatlich waren.
Sprecher / Adam Curtis:
„Gegen diese korrupte Idee definierte Berlin seine andere Idee der Freiheit: ´Negative Freiheit´. `Negative Freiheit´, sagte er, ist die Freiheit aller Individuen zu tun was sie wollen und nicht mehr. Es solle eine Regierung und Gesetze geben, um sicherzustellen, dass jedermanns Handlungen nicht eingriffen in jedes einzelnen Freiheit. Aber andere Macht als diese solle gezügelt werden.´Negative Freiheit´ war eine Gesellschaft absichtlich ohne Ideale, außer individuelle Begehren und die Freiheit sie umzusetzen.
Wie die letzten beiden Sendungen gezeigt haben, war dies eine ähnliche Vision wie die Idee der Ökonomen und der Technokraten des Kalten Krieges. Diese hatten eine Idee einer nur aus Millionen selbstsüchtiger Individuen zusammengesetzter Gesellschaft vorgebracht, welche – so sagte es ihre Mathematik – automatisch zu Stabilität und Ordnung führen würde. Was Berlin tat, war dieser Vision ein Gefühl von Schicksal und historischer Unvermeidbarkeit zu geben.
Der gefährlichen „positiven Freiheit“ (zu einem bestimmten Sinn, Zweck oder Ziel) setzte Isaiah Berlin also die gute „negative Freiheit“ entgegen – nicht nur die von ideologischem, sondern im Zweifel auch von staatlichem, juristischem, parlamentarisch-demokratischem, autoritärem, totalitärem, faschistischem, kommunistischem und ganz besonders steuerlichem Zwang.
Oder kurz gesagt: Isaiah Berlins gute „negative Freiheit“ war die Freiheit von jedweder Verantwortung, außer für sich selbst.
Der Schwache war verantwortlich dafür, was der Starke mit ihm machte. Der Arbeitslose war frei vom Zwang seine Freiheit zur Armut durch Arbeitslosenhilfe einschränken zu lassen. Das Kind von Armen war endlich frei von der Illusion, es hätte – in Gesellschaft lauter Naturschlaumeier mit fettem Portemonnaie – irgendeine Chance. Der Kranke starb eigenverantwortlich und heldenhaft in aller Ruhe an Krebs, weil als guter, armer Antikommunist ohne staatliche Zwangskrankenversicherung. Der Reiche war frei von der Armut der anderen.
Noch heute gilt Isaiah Berlin für diese bahnbrechende philosophische Rückendeckung der westeuropäisch-supereuropäischen Hochzivilisation im Kalten Krieg als Leuchtturm des „Liberalismus“, wie er ab Ende des 20. Jahrhunderts definiert und entsprechend praktiziert wurde: als skrupelloser, perfider, heuchlerischer, amoralischer, zynischer, menschenfeindlicher, zuerst pseudo- und dann antidemokratischer, technokratischer Kapitalismus, mit ein bisschen Tand und Schmuck für diejenigen behängt, die lästigerweise (noch) ab und zu alternativlose Prothesen in vernünftige, negativ-freie Parlamente wählen durften, frei von jedwedem Inhalt außer des gepflegten Zusehens.
Dabei enthielten die „Zwei Konzepte von Freiheit“ Isaiah Berlins noch etwas ganz anderes: eine Warnung.
Berlin – sehr viel pragmatischer, als er heute in den akademischen Selbstgefälligkeitswärmestuben der Marktradikalen interpretiert wird – warnte ausdrücklich davor, sein Konzept der negativen (guten) Freiheit als absolute, endgültige Theorie zu betrachten. Im Gegenteil: genau das hatte er vermeiden wollen. Aus „Two Concepts of Liberty“ von Isaiah Berlin:
„Alles ist, was es ist: Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur, oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen. Wenn meine Freiheit oder die meiner Klasse oder Nation abhängt vom Elend einer Anzahl anderer menschlicher Wesen, dann ist das System welches dieses begünstigt ungerecht und unmoralisch. Aber wenn ich meine Freiheit einschränke oder verliere um die Schande einer solchen Ungleichheit zu verringern, und dadurch nicht materiell die individuelle Freiheit der anderen erhöhe, tritt ein absoluter Verlust von Freiheit ein. Dies kann ausgeglichen werden durch einen Gewinn an Gerechtigkeit oder Glück oder Frieden, aber der Verlust an Freiheit – ´sozial` oder ´ökonomisch´ – ist angestiegen.
Dennoch bleibt es wahr, dass beizeiten die Freiheit von manchen beschnitten werden muss um die Freiheit von anderen zu sichern. Nach welchen Prinzipien sollte dies getan werden? Wenn Freiheit ein heiliger, unantastbarer Wert ist, kann es kein solches Prinzip geben. Die eine oder andere dieser widersprüchlichen Regeln oder Prinzipien müssen, jedenfalls in der Praxis, nachgeben: nicht immer aus Gründen die eindeutig festgestellt werden, geschweige denn in Regeln oder universellen Maximen generalisiert werden können. Immer noch / trotzdem muss ein praktischer Kompromiss gefunden werden.“
Sprecher / Adam Curtis in „The Trap“:
„..Isaiah Berlin wusste, dass es schwierig werden würde diese Idee der ´negativen Freiheit´ durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Und in seiner Schrift und sein ganzes Leben hindurch warnte er vor den Gefahren, der sie begegnen würde. Diejenigen, die sich für ´negative Freiheit´ einsetzten, sollten nie zu dem Glauben gelangen sie sei eine absolute Idee, weil eine solche Idee in einer endgültigen Antwort immer zu Zwang und zum Gegenteil von Freiheit führt. Aber das war genau das, was passieren würde. Und Berlins Warnung sollte eine Prophezeiung werden.“
Im dritten Teil von „The Trap“ wird nun beschrieben, welche verheerende Eigendynamik die radikale Auslegung der Thesen Berlins während und nach Ende des Kalten Krieges entfalten sollten, in dem sie einst entstanden waren.
II
Im Jahre 1830 eroberte das Königreich Frankreich vom Osmanischen Reich das heutige Algerien. Die neue Kolonie wurde gnadenlos ausgeplündert, die Bewohner des Landes brutal unterdrückt und größtenteils in ländliche Gebiete vertrieben. Arabisch wurde zur Fremdsprache erklärt, große Teile des Landes annektiert.
Bis zum Jahre 1954. Dann, nach Jahrzehnten ergebnisloser Versuche mit politischen Parteien irgendeine Verbesserung zu erreichen, erhoben sich in der „Front de Libération Nationale“ (F.L.N.) organisierten Algerier zum bewaffneten Kampf gegen die jahrhundertelange Unterdrückung.
Die Revolution der Algerier gegen die französischen Kolonialherrscher und ihre Siedler – der Algerienkrieg – dauerte bis zur Unabhängigkeit Algeriens im Jahre 1962. Die von beiden Seiten äußerst brutal geführte Auseinandersetzung, in der bis zu anderthalb Millionen Algerier und Zehntausende Franzosen starben, repräsentiert das bis heute, gerade auch in Deutschland, verschwiegene letzte große Kapitel der Verbrechen europäischer Kolonialherrschaft in Afrika und Asien (im 20. Jahrhundert).
Den algerischen Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialherrschaft wesentlich inspiriert und geistig befördert hatte ein französischer Psychiater und Buchautor: Frantz Fanon, dunkelhäutig und qua Sünde der regionalen Fehlgeburt (in der französischen Kolonie Martinique) Franzose 2. Klasse. Er und Jean-Paul Sartre, den er persönlich kannte, beeinflussten sich gegenseitig.
Ohne den von Sartre erfundenen Existenzialismus ausführlich beschreiben, oder dessen inspirierende Wirkung auf die erstarrte, kapitalistische (und nicht zuletzt strunzlangweilige) Gesellschaft Westeuropas der 50er und 60er Jahre ausschließlich kritisch beäugen zu wollen, muss hier doch ein kleiner Umriss der Philosophie und des Menschenbildes von Sartre gezeichnet werden.
III
Sartre reisst in seinem Kopf den Menschen und dessen Psyche förmlich in Fetzen. Anschließend klebt er ihn als gefühllosen, willenlosen, identitätslosen, entleerten und einen von der – auf einen minimalen Realitätstunnel einer Gruppe oder Einheit geschrumpfte – Außenwelt („die Hölle, das sind die Anderen“) vollständig abhängigen situativen Roboter notdürftig als vollkommen relatives Wesen wieder zusammen. Und nennt das dann das „freie Individuum“.
Sartre trennt zuerst zwischen dem „Sein-an-Sich“ (der wirklichen Welt) und dem „Sein-für-sich“ (dem Bewusstsein).
Anschließend trennt Sartre das Bewusstsein auf, in Bewusstsein (ich gehe durch das Zimmer, ohne gegen den Tisch zu laufen) und Bewusstsein von Bewusstsein (ich weiß, dass ich durch das Zimmer gehe und nicht gegen den Tisch laufe, weil, ich bin ja nicht doof).
Auf der Ebene des Bewusstseins von Bewusstsein gibt es nun nach Sartre zwei Bewusstseinsgrade:
1. Bewusstseinsgrad: vorreflexives Bewusstsein von Bewusstsein („….“)
2. Bewusstseinsgrad: reflexives Bewusstsein von Bewusstsein („Hey, ich merke, dass ich durch das Zimmer laufe. Weil ich Bewusstsein habe. Ich habe Bewusstsein von Bewusstsein. Ich muss auf die Uni, so schlau bin ich.“)
Sartre definiert nun, dass das eigene Ich nur durch Bewusstsein 2. Grades überhaupt zustande kommt. Er relativiert Descartes und seinen berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“, indem er diese Erkenntnis als Akt reflexiven Bewusstseins (Bewusstsein 2. Grades) definiert.
Fatale Folge der Sartre-Logik: Nicht jeder ist, auch wenn er denkt. Nur der ist, der denkt dass er denkt.
Das „für-sich“, das Bewusstsein, definiert Sartre als „Riss im Sein“ der wirklichen Welt des „an-sich“. Mit einem Wort: Sartre definiert das menschliche Bewusstsein als Nichts, was nur durch Spiegelei / Reflexion auf die wirkliche Welt (das Sein-an-sich) „geseint“ wird, sich das Sein „leiht“ und dadurch existiert – obwohl es zugleich nicht existiert. Ergo sei der Mensch nichts.
„Das Sein kann nur Sein hervorbringen. Das Nichts kann also (buchstäblich) nur durch Nichts hervorgebracht werden. Und weil wir es sind, durch welche das Nichts in der Welt erscheint, müssen wir so etwas ähnliches wie Nichts sein“
Konsequenterweise heißt Sartres Kunstwerk Numero Eins des Existenzialismus auch „Das Sein und das Nichts“. Als tausend Seiten langer Wälzer 1943 im besetzten Frankreich irgendwie durch die Zensur gerutscht.
Sartre definiert den Glauben an eine eigene Identität – mithin das Selbstbewusstsein im klassischen Sinne – als „schlechten Glauben“ und begründet die unabänderliche „Nichtidentität“ jedes Menschen wie folgt: da wir in einer Reflexion nur die Vergangenheit (Faktizität) reflektieren können, aber nicht das was wir in der nächsten Sekunde tun könnten (Transzendenz), sind wir nie was wir sind.
„Ich bin traurig“ gibt es also nicht. „Ich bin Politiker“ gibt es auch nicht. Und „Ich bin wahnsinnig“ natürlich auch nicht.
Jegliches Gefühl von Menschen beschreibt Sartre in seinen Entwürfen als „Bewußtseinsspontanität“ und behauptet, Emotionen seien „von außen“ überhaupt nicht beeinflussbar. Sartre sieht das ganze menschliche Dasein als Nichts, als „Riss im Sein“ und folgt damit im Kern den Thesen von Hegel („Das Absolute als das Werden ist die Einheit des Seins und des Nichts.„) und Heidegger (dessen These: das Philosophieren ist nichts anderes „als die Vorbereitung auf den eigenen Tod des Individuums.“)
Sartres Konzept ist das des vermeintlich durch sich selbst, nur durch Reflexion und in ewiger Abhängigkeit von „dem Anderen“ vollkommen formbaren Menschen, der sich seine eigene Realität schafft – oder besser gleich zwei. Nein, am besten gar keine.
„Bewusstsein ist das, was es nicht ist, und nicht das, was es ist!“
Und so weiter.
Ohne auf die tatsächlichen Entscheidungen, die Sartre in seinem Leben getroffen hat näher einzugehen: Sartres Philosophie, sein Menschenbild, kommt dem des „Fuchses“ von Isaiah Berlin, „welche viele Enden verfolgten, oft ohne Bezug zueinander und sogar widersprüchlich (..) unter Bezug auf keine Moral oder ästhetisches Prinzip“ verdammt nahe. Ebenso dem Zwiedenken / Doppeldenk aus George Orwells „1984“. Und natürlich dem großen Vorbild aller Dummquatscher und (politischen) Illusionisten bis heute, den „Sophisten des Römischen Imperiums; trainierten Rednern die der festen Überzeugung waren keine zu haben, da es keine Wahrheit gäbe sondern nur die (willkürlich definierte) „Realität“, die man zuerst sich und dann – par ordre du mufti du Macht des Faktischen – auch allen anderen einreden könne.
Zum Abschluss dieses Diskurses über den Existenzialismus und Jean-Paul Sartre möchte ich hier ein Zitat von Isaiah Berlin aus „Zwei Konzepte der Freiheit“ (1958) setzen:
„Vor über 100 Jahren warnte der deutsche Poet Heine die Franzosen nicht die Macht der Ideen zu unterschätzen: philosophische Konzepte, aufgezogen in der Stille einer professoralen Studie, können eine Zivilisation zerstören…Wenn Professoren diese fatale Macht wahrhaftig handhaben können, möge es nicht sein, dass nur allein andere Professoren, oder wenigsten andere Denker (und nicht Regierungen oder Parlamentsausschüsse) diese entwaffnen können?“
IV
Zurück zu „The Trap“ und der Umschreibung des Einflusses von Frantz Fanon und Jean-Paul Sartre auf den Algerienkrieg.
Frantz Fanon, in den 50er Jahren in Paris ausgebildet und seitdem ein Bekannter Sartres, entwickelte eine Obsession für Gewalt, im Zweifel gegen jeden und alles. Durch Attentate auf Zivilisten, Terrorismus (militärtechnokratischer Begriff: Kampfmittel der asymmetrischen Kriegführung), etc, sollte aus der (von Sartre immer wieder beschriebenen) „Situation“ des bewaffneten Kampfes die Befreiung des unterdrückten Individuums ein anderer, neuer Mensch hervorgehen, der fähig wäre die westlich geprägten Diktaturen und deren koloniale Gewaltherrschaft (nicht nur) in Afrika zu überwinden. Fanons Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“ erschien kurz vor seinem Tod in 1961.
Eine ganze Reihe von Aufständen, Revolutionen und Befreiungskriegen auf mehreren Kontinenten wurden durch Fanons Thesen beeinflusst. Sartre übernahm später Fanons Idee des bewaffneten Kampfes gegen die Kolonialherrschaft europäischer und nordamerikanischer Staaten für Konzepte des bewaffneten Kampfes in diesen Staaten selbst.
Adam Curtis beschreibt nun in „The Trap“, wie Mitte der 70er Jahre nach einem vermeintlichen „Befreiungskrieg“ – geführt nach einem Konzept von „positiver Freiheit“, wie sie Isaiah Berlin 1958 definiert hatte, sprich: dem Kommunismus – ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs eines der schrecklichsten Kapitel der jüngeren Geschichte aufschlug: der Guerilla-Führer der „Roten Khmer“ und spätere Diktator Kambodschas, Pol Pot. Seine Regimekräfte und ehemaligen Guerillas setzten in letzter Konsequenz die eigene, selbst geschaffene Realität, Moral und Handlungsfreiheit in die Tat um: sie vernichteten alle anderen.
Der „bourgeoise Klassenfeind“ der ausgebeuteten Bauern – Akademiker, Intellektuelle, Kambodschaner mit höherer Schulbildung – den das Regime in die Finger bekam (und dafür sogar extra ins Land lockte), wurde in Lager gesteckt oder gleich ermordet. Das gesamte Volk wurde einer Schreckensherrschaft unterworfen, Kambodscha zu einem apokalyptischen Sklavenstaat.
Das Wort „Schlaf“ wurde verboten und durch das Wort „Ruhen“ ersetzt. Es reichte im Lager zu lächeln, um ermordet zu werden. Viele Kambodschaner wussten bis zum Ende des Regimes nicht einmal, durch wen sie eigentlich beherrscht wurden. Das Pol Pot Regime versteckte sich hinter dem Synonym „Angka“, der Diktator trat erst Jahre nach der Machtergreifung überhaupt in der Öffentlichkeit auf, unter Pseudonym.
Was die Dokumentation „The Trap“ leider vergisst zu erwähnen, sei hier noch schnell hinzugefügt oder der Dokumentation von John Pilger „Year Zero: The Silent Death of Cambodia“ aus 1979 zu entnehmen.
1965 begannen die U.S.A. während des Krieges gegen Nordvietnam ein ebenso mörderisches, wie geheimes Bombardement gegen das neutrale Kambodscha, was bis 1954 Kolonie Frankreichs gewesen war. 2,7 Millionen Tonnen Bomben zwischen 1965 bis 1973 beförderten Kambodscha „zurück in die Steinzeit“ und töteten 200.000 Menschen. Den U.S.-Bomberpiloten wurde vom Pentagon sogar verboten, die eigenen Vorgesetzten zu informieren. Die angeblichen Militärstützpunkte Nordvietnams in Kambodscha, wegen denen die Bombardements vermeintlich durchgeführt wurden, existierten nicht.
Was die Tat von Wahnsinnigen war, wurde nachher als „Wahnsinnigen-Theorie“ („Madman-Theory“) verkauft: die U.S.-Regierung unter Präsident Richard Nixon und Außenminister Henry Kissinger (der später den Friedensnobelpreis bekam) behauptete, sie habe sich wahnsinnig benommen, um der Sowjetunion Angst vor einem Atomkrieg zu machen, damit diese Druck auf Nordvietnam ausübe, damit das den Krieg gegen die U.S.A. beende, den die U.S.A. selbst begonnen hatten.
1970 stürzten die U.S.A. die Monarchie unter „Prinz“ Sihanouk, installierten ein Proxy-Regime und marschierten in Kambodscha ein. Sihanouk, einst 1941 im Alter von achtzehn Jahren vom französischen Vichy-Regime unter deutscher Besatzung zum neuen König der damaligen französischen Kolonie Kambodscha ernannt, floh ins China Mao Tse Tungs und formierte dort eine kambodschanische „Freiheitsbewegung“. Deren Teil: die Roten Khmer.
1972 besuchte Richard Nixon als erster U.S.-Präsident China und Mao Tse Tung, im Versuch gegen das mit der Sowjetunion verbündete Nordvietnam einen Verbündeten zu finden und die Rivalitäten sowohl zwischen China und Vietnam, als auch zwischen China und der Sowjetunion zu schüren.
Als 1975 in Vietnam die Truppen des Vietkong und Nordvietnams in Saigon einmarschierten und den Krieg gegen die U.S.A. gewannen, marschierten in Kambodscha die Truppen der Roten Khmer – von China unterstützt und traditionell verfeindet mit den vietnamesischen Kommunisten – plötzlich in der Haupstadt Phnom Penh ein. Und setzten Prinz Sihanouk als offizielles Staatsoberhaupt ein.
Von der Schreckensherrschaft Pol Pots, auf dessen Killing Fields Millionen Leichen lagen und dessen Verbündeter Prinz Sihanouk nach wie vor im Land lebte, befreite Kambodscha 1979 nicht etwa die „negative Freiheit“ der U.S.A., von Frankreich, oder der U.N.O., sondern die einrückenden Truppen des kommunistischen Vietnams.
Die Mörder der Roten Khmer, die gerade einen Genozid begangen hatten, flohen in Dschungel und begannen dort einen neuen Guerillakrieg – mit Unterstützung der U.S.A. und anderer ehrenwerter westlicher Länder. 1982 formierten die Massenmörder unter Führung Sihanouks eine Exilregierung, die von den U.S.A., der U.N.O und unwichtigen Ländereien Westeuropas anerkannt wurde.
Vizepräsident dieser kambodschanischen Exilregierung: das „Staatsoberhaupt“ des Pol Pot Regimes von 1976-1979, Khieu Samphan. Er lebt heute noch. Er sagt, er hätte nichts gewusst.
Pol Pot wurde nie verfolgt. Dafür sorgten die U.S.A..
Neues altes Staatsoberhaupt Kambodschas wurde 1991 Sihanouk, nach dem Abzug der vietnamesischen Truppen. Er starb erst vor wenigen Tagen, am 15. Oktober 2012, in Peking.
V
In 1979 stürzten die Iraner den seit 1941 regierenden und von den U.S.A. gestützten Diktator Reza Pahlavi, den „Schah von Persien“. Pahlavis Herrschaft hatte sich vor allem auf den Geheimdienst Savak gestützt, dessen Grausamkeit weltweit berüchtigt war. Sie nützte nichts.
Staatsoberhaupt der neuen „Islamischen Republik Iran“ wurde der schiitische Geistliche Ayatollah Khomeni. Noch in 1979 wurde das gesamte Vermögen des geflohenen Schahs (einem der bis dahin reichsten Männer der Welt) verstaatlicht, danach Ölindustrie, Banken und die Fabriken der 51 Industrie-Mogule im Iran.
Wesentlich beeinflusst wurde die iranische Revolution durch die Schriften des Lehrers Ali Shariati, dessen Leitmotiv „Weder Ost noch West“ später von der Revolution übernommen wurde. Shariati schwebte eine Verbindung von islamischer (schiitischer) Religion und Sozialismus vor.
Beeinflusst wurde Shariati von den Befreiungsthesen des bewaffneten Kampfes von Frantz Fanon und der existenzialistischen Philosophie Jean-Paul Sartre, deren Schriften er während seiner Lehrertätigkeit in Paris (1957-1964) übersetzt und in persischen Exilkreisen vorgestellt hatte. 1961 mitbegründete er die „Iranische Freiheitsbewegung“.
1973 wurde Shariati – nach Schriften gegen die feudale Oberschicht Persiens, auch die klerikale – vom schiitischen Klerus fallen gelassen und ausgegrenzt, was ihn für das Schah-Regime praktisch zum Abschuss freigab. Shariati wurde vom Savak verhaftet und nach anderthalb Jahren Haft und Folter gebrochen wieder entlassen. Er starb 1977 im Exil unter unklaren Umständen.
Adam Curtis in „The Trap“ III:
„Seit dem 7. Jahrhundert war schiitischer Islam eine apolitische, passive Kraft gewesen. Seine Führer, die Ayatollahs, sagten den Menschen, dass sie sich nicht in politische Auseinandersetzungen verstricken lassen dürften. Sie sollten geduldig warten und alle Not ertragen, bis zum Erscheinen des wahren Imam.
Aber Shariati hatte den schiitischen Islam in eine revolutionäre politische Kraft gewandelt, die, ein weiteres Mal, anbot die Menschen zu befreien und im Hier und Jetzt zu verändern. Es waren diese Ideen, die Ayatollah Khomenie aufgegriffen hatte, um Amerikas Verbündeten zu überwinden. Und was man in den Slogans, die in den Straßen Teherans gerufen wurden, hörte, waren die Ideen von ´positiver Freiheit´ und die Theorien von Frantz Fanon.“
VI
Sprecher / Adam Curtis:
„In 1980 kandidierte Ronald Reagan für die Präsidentschaft. Die Botschaft seiner Kampagne war simpel: er versprach Freiheit, zuhause und im Ausland. Als er gewählt wurde, gingen viele der jungen Neokonservativen in seine Regierung. Und ihre Ideen wurden essentiell für die neue Außenpolitik. Im Oktober 1981 gab der neue Außenminister, Alexander Haig, einem entsetzten Senat einen neuen, moralischen Kreuzzug Amerikas bekannt – Freiheit in der Welt zu verbreiten, wenn nötig mit Gewalt.“
General Alexander Haig (Filmaufnahme):
„Es gibt Dinge, für die wir Amerikaner bereit sein müssen zu kämpfen. Wissen Sie, diese Republik wurde durch bewaffneten Konflikt geboren. Und die Freiheiten und Freizügigkeiten („freedoms and liberties“) die wir heute genießen, waren die Konsequenz von bewaffnetem Konflikt, Aufstand, wenn sie so wollen. Es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt. Wir müssen das verstehen, wir müssen unsere Außenpolitik unter diese glaubwürdige und gerechtfertigte Prämisse stellen.“
Später wurde diese Politik auch unter dem Begriff Reagan-Doktrin bekannt.
Adam Curtis in „The Trap“:
„Präsident Reagan unterzeichnete eine Reihe von Direktiven, die das schufen, was ´Project Democracy´ genannt wurde. Es bestand aus zwei Teilen.
Der eine schuf mehrere Organisationen, deren Job es war im Ausland offen die Idee der Demokratie zu vertreten. Dies schuf solche Gruppen wie ´Solidarität´ (Solidarnosc) in Polen. Aber er half auch beim Sturz von Diktatoren, die Amerikas Verbündete gewesen waren. Die Reagan-Administration zwang sowohl Ferdinand Marcos, als auch General Pinochet, Wahlen anzusetzen, welche zu ihrem Niedergang führten.“
Einer der Ideologen hinter ´Project Democracy´: Samuel P. Huntington. Nach dem Fall der Mauer in Deutschland und dem „gewonnenen“ Kalten Krieg gegen die Sowjetunion war er es, der 1992 in einem Referat für das „American Enterprise Institute“ die bis heute quer durch die Nomenklatura immer wieder benutzte Ideologie des „Clash of Civilizations“ erfand (in Deutschland häufig als „Kampf der Kulturen“ zitiert). Er präzisierte seine extremistische Ideologie im Buch „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“ („Der Zusammenstoß der Zivilisationen und die Neuauflage der Weltordnung“).
Samuel P. Huntington beschwor das Verschwinden von Staaten auf der Erde und deren Ersatz durch Blöcke von „Zivilisationen“, bzw „Kulturen“ (s.o.).
Huntington erfand 2004 bezeichnenderweise den „Davos-Menschen“, in Anspielung auf die ehrenwerte Gesellschaft des „Entscheider“-Ensembles im „Weltwirtschaftsforum“, deren Privilegierte
„wenig Zeit haben für national(staatlich)e Loyalität, national(staatlich)e Grenzen als Hindernis betrachten die dankenswerterweise verschwinden und die national(staatlich)en Regierungen als Restbestände der Vergangenheit ansehen, deren einzige nützliche Funktion es ist die globalen Operationen der Elite zu ermöglichen.“
Wie gesagt: das war in 2004. Als einer der Ideologen hinter dem „Project Democracy“ der Reagan-Administration in den 80er Jahren äußerte er, es ginge um die die Beförderung von „bescheidenen“ („modest“) Demokratien, wo die Menschen wählen könnten, sich aber sonst nichts ändere.
Sprecher / Adam Curtis, „The Trap“:
„Und genau geschah. Demokratie kam zu den Philippinen. Aber die wirkliche Macht verschob sich einfach zu einer neuen Gruppe von Eliten. Und die gewaltige Ungleichheit und Korruption blieb unverändert. Es war eine bescheidene Form von Demokratie.
Der andere Teil von „Project Democracy“ war militärische Gewalt in Geheimoperationen anzuwenden um ausländische Regime zu stürzen, die der Freiheit im Weg waren. Das Hauptziel war die Regierung von Nicaragua, die Sandinisten. Die Sandinisten waren marxistische Revolutionäre, die 1979 die Macht ergriffen hatten. Doch seitdem hatten sie Wahlen abgehalten und waren demokratisch gewählt worden. Die Reagan-Administration lehnte dies als Fälschung ab und eine Operation wurde aufgestellt, um die ´richtige´ Art von Demokratie zu erzwingen – durch einen Sturz der Sandinisten, wenn nötig.
Der Mann der das Kommando hatte war ein führender Neokonservativer: Elliot Abrams.
Unter Elliot Abrams, der die Rolle eines Sonderassistenten des Präsidenten Ronald Reagan innehatte, stellte die U.S.-Regierung eine eigene Guerilla-Armee auf, die in Nicaragua einmarschierte. Später wurde diese die „Contras“ genannt. Gleichzeitig begann die Reagan-Administration nach der vom U.S.-Militär entwickelten Taktik des „Wahrnehmungsmanagements“ („Perception management“) eine Propagandawelle.
Bei einem TV-Auftritt behauptete Reagan, mit Landkarten bewaffnet um seinem hochgebildeten Wahlvolk die lebensbedrohliche Gefahr von irgendwo da unten näher erläutern zu können, die Sowjetunion habe Chemiewaffen an Nicaragua geliefert. Eine chemischer Angriff aus dem winzigen mittelamerikanischen Staat sei praktisch unvermeidlich, wenn nicht irgendjemand endlich etwas tue. Gegen den Kommunismus. Gegen Nicaragua. Und für das Vater-, Abend-, und Gutenachtland.
Die furchterregenden Presseberichte über die furchterregenden Chemiewaffen des furchterregenden Nicaragua, was seinen liebevollen Diktator Somoza unverschämterweise in die U.S.A. verwiesen hatte, entstammten der seriösesten Quelle, die die Welt von Wissen, Information und Geschichtsbewusstsein je gesehen hat: der C.I.A.
Im Bericht mit dem Titel „Implications of Soviet Use of Chemical and Toxic Weapons for U.S. Security Interests“, offiziell vom 15. September 1983, legte dieser Bericht Tonnen von Beweisen – oder besser: Hinweisen, der berühmte „evidence“ – für nicaraguanische Chemiewaffen vor. (Im Bericht wird ebenfalls erwähnt, dass Israel nach dem Yom-Kippur-Krieg 1973 Tonnen von Kriegsmaterial für Biowaffen und Chemiewaffen der C.I.A. übergab, welches angeblich von den Ägyptern stammte, usw.).
Im November 1984 machten dann die angeblichen nicaraguanischen Chemiewaffen die Runde in den U.S.-Zeitungen.
In einer Rede vor der „American Bar Association“ am 8. Juli 1985 verkündete Reagan, Nicaragua sei Teil einer „Konföderation von Terroristen-Staaten“ und eines internationalen, geheimen und supergefährlichen „terroristischen Netzwerks“, als
„Partner von Iran, Libyen, Nordkorea und Kuba in einer Kampagne des internationalen Terrors“.
Dem interessierten Leser aus Deutschland soll ein weiterer Abschnitt dieser Rede des U.S.-Präsident aus 1985 nicht vorenthalten werden. Darin enthalten: die (wieder) üblichen Verdächtigen, aber mal für anderes.
„Mit dem Beginn des Sommers 1984 und gipfelnd in Januar und Februar dieses Jahres, gab es eine Serie von offensichtlich koordinierten Attacken und Attentaten von linksradikalen Terroristen-Gruppen in Belgien, Westdeutschland und Frankreich – Attacken die sich gegen amerikanische und N.A.T.O.-Einrichtungen oder militärisch und industrielle Repräsentanten dieser Nationen richteten. Nun, was wissen wir über die Quellen dieser Attacken und die ganze Schablone von terroristischen Angriffen in den letzten Jahren? Nun, allein in 1983 bestätigte, oder fand, die C.I.A. starke Hinweise („evidence“) für eine iranische Beteiligung an 57 terroristischen Attacken.“
Die von der Reagan-Administration angewandte Taktik des „Wahrnehmungsmanagements“ („Perception management“) wird vom U.S.-Militär selbst so beschrieben:
„Aktionen um einem ausländischen Publikum selektierte Informationen zu übermitteln und / oder verweigern, um ihre Emotionen, Motive und objektive Schlussfolgerungen zu beeinflussen, ebenso Geheimdienst-System und -Führern überhaupt, um offizielle Einschätzungen zu beeinflussen, was letztlich zu im Sinne der Ziele des Urhebers günstigen ausländischen Verhaltensweisen und Amtshandlungen führt.
In verschiedener Weise kombiniert Perception Management Projektion von Wahrheit, Sicherheit, Deckung und Verschleierung von Operationen, und psychologische Operationen.“
Adam Curtis / „The Trap“:
„Was geschah war, dass die Neokonservativen begannen zu glauben, dass ihr Ideal von Freiheit ein Absolutum war und dass dies demzufolge Lügen und Übertreibungen rechtfertige, um diese Vision zu erzwingen, dass das Ergebnis die Mittel rechtfertige. Obwohl sie die Contras als Freiheitskämpfer darstellten, war es wohl bekannt, dass sie Mord, Attentate und Folter anwandten und zudem offensichtlich Flugzeuge der C.I.A. benutzten, um Kokain in die U.S.A. zu schmuggeln. Und um die Contras zu finanzieren, waren die Neokonservativen sogar bereit mit dem Feind Amerikas zu dealen – mit den Führern der iranischen Revolution.
In 1985 hielten die Leiter der Nicaragua-Operation eine Reihe von geheimen Treffen mit iranischen Führern in Europa ab. Sie arrangierten den Verkauf amerikanischer Waffen an die Iraner. Im Gegenzug ließen die Iraner amerikanische Geiseln frei, die im Libanon festgehalten wurden. Dann wurde das Geld aus diesen Verkäufen von den Leitern des `Project Democracy“ dazu benutzt die Contras zu finanzieren.
Das einzige Problem dabei – es war komplett illegal. Und der Präsident wusste es.“
Die Affäre wurde unter dem Stichwort „Iran-Contra-Affäre“ bekannt. Kein einziger der Beteiligten in der Reagan-Administration wurde wegen irgendetwas verurteilt. Im Gegenteil – der damalige Vizepräsident George Bush Sen. machte, wie wir alle wissen, zum weiteren Wohlergehen der Menschheit Karriere und wurde Präsident der Vereinigten Staaten von immer mehr außerhalb Amerika, ebenso später sein Sohn.
Adam Curtis / „The Trap“:
„Was begann zum Vorschein zu kommen, war das Problem darin das Ideal von Freiheit in der Welt zu verbreiten. Um das zu tun hatten sich diejenigen die `Project Democracy´ leiteten nicht nur Manipulation und Gewalt zugewandt, sondern begannen die Ideale von Demokratie in Amerika zu untergraben – genau das, was sie im Ausland versuchten hervorzubringen. Es war die Korruption / die Verwesung („corruption“) von Freiheit, vor der Isaiah Berlin gewarnt hatte.
Aber all diese Probleme waren dabei beiseite gelegt zu werden, weil die westliche Idee von Freiheit vor dem Triumph im Kalten Krieg stand.“
VII
1991 waren die Sowjetunion und die Diktaturen in ihrem Einflussbereich zusammengebrochen. Aus dem größten Teil der Sowjetunion entstand die Föderation Russland mit ihrem Präsidenten Boris Jelzin.
1992 erlangte ein Essay kurze Berühmtheit. Geschrieben wurde es von einem damaligen Architekten der Reagan-Doktrin der 80er Jahre: Francis Fukuyama. Das Buch trug den Titel „Das Ende der Geschichte und der Letzte Mensch“ („The End of History and the Last Man“). In ihm prognostizierte Fukuyama, dass sich die Idee eines gemäßigten, nicht marktradikalen Liberalismus und parlamentarische Demokratie weltweit durchsetzen würden. In späteren Jahren distanzierte er sich von den Neokonservativen, zu deren Aufstieg er selbst beigetragen hatte, und warnte ausdrücklich vor dem beginnenden eugenischen Zeitalter der genetischen Manipulation und ihrer Apologeten aus der „Transhumanisten“-Bewegung (mit denen sich Radio Utopie noch näher beschäftigen wird).
Adam Curtis / „The Trap“
„Heraus kam ein revolutionärer Versuch die Welt umzubauen. Die Absicht war ein Utopia zu schaffen, basierend auf der Idee von ´negativer Freiheit`. Es würde eine Welt sein, in der alle Individuen frei sein würden zu tun, was sie wollten, nicht mehr länger unter Zwang von Eliten oder Tyrannen. Es würde der Triumph sein von Isaiah Berlins Idee von Freiheit. Und es wurde in Russland beginnen.
In 1992 hatte die amerikanische Regierung den ´Freedom Support Act´ verabschiedet. Sein Zweck war Russland zu helfen sich umzubauen. Neben Millionen von Dollars an Hilfen kam eine Gruppe junger Berater, Ökonomen und politischen Theoretikern, die eine radikale Vision von dem hatten, was notwendig wäre; sie nannten diese ´Schock-Therapie`. Die Absicht war alle staatliche Kontrolle über die russische Wirtschaft aufzuheben..alle Subventionen wurden gestrichen und die gesamte staatliche Industrie über Nacht privatisiert. Ihr Anführer war ein Harvard-Ökonom mi Namen Jeffrey Sachs. (..)
Die Amerikaner verbündeten sich mit einer Gruppe von radikalen Freimarkthändlern um Jelzin. Zusammen entwickelten sie einen Plan. Ihm zugrunde lag eine Theorie, wie man durch die Erschaffung neuer Menschen die Gesellschaft transformieren könne. Wie die Sendungen der letzten Wochen gezeigt haben, war es die gleiche Theorie, die hinter dem Aufstieg der sogenannten „Marktdemokratie“ in Britannien und Amerika in den 80ern gestanden hatte. Die Theorie besagte, dass, wenn man alle elitären Institutionen zerstören würde die in der Vergangenheit den Menschen gesagt hatten was sie tun sollten und stattdessen den Individuen erlauben würde unabhängig im Markt zu sein, sie eine neue Art rationaler Wesen werden würden, wählend was sie wollen. Daraus entstehen würde eine neue Form der Ordnung und eine neue Art der Demokratie, in der die Märkte, nicht Politik, den Menschen geben würden was sie wollen.“
Was in Russland ab 1992 geschah, war folgendes: Das üppige Staatseigentum, Erbe des einstigen „Volkseigentums“ der Sowjetunion, wurde weltweit an Kapitalgesellschaften oder an verbündete inländische Betrüger verscherbelt („privatisiert“). Staatliche Sicherungssysteme – Gesundheitsversorgung, Energieversorgung, Wasserversorgung, Renten, etc, etc – wurden vernichtet, Preise freigegeben (zum Explodieren) und die im Umlauf befindliche Geldmenge drastisch reduziert (um dafür die Vermögensinflation in babelsche Ausmaße wachsen zu lassen). Die Rohstoffe Russlands wurden für ein Taschengeld zur Ausbeutung durch internationale Konzerne freigegeben. In atemberaubenden Tempo stürzte die überwältigende Mehrheit der Russen in extreme Armut, während eine winzige Clique von Oligarchen um Jelzin zu gigantischem Reichtum kam.
Schon ein Jahr später war Russland im Chaos versunken. Das Parlament rebellierte. Jelzin löste es einfach auf, ohne irgendeine Rechtsgrundlage. Sein Vizepräsident Ruzkoi widersprach. Jelzin setzte ihn ebenfalls ab. Die Abgeordneten wählten daraufhin, gemäß der russischen Verfassung, Ruzkoi zum neuen Präsidenten und erklärten Jelzin für abgesetzt. Als der Machtkampf eskalierte, verbarrikadierten sich 100 Abgeordnete im Parlament, damals noch der Oberste Rat („Sowjet“). Jelzin ließ das Parlament belagern, mit Panzern beschießen und schließlich durch eine regimtreue Eliteeinheit stürmen. Bei den Kämpfen in Moskau und anderen Städten starben über 180 Menschen. Russland stand kurz vor einem Bürgerkrieg.
Durch massive Hilfe seiner Oligarchen schaffte es Jelzin Ende 1993 seine auf ihn zugeschnittene Verfassung und ein Zwei-Kammer-Parlamentssystem durchzubekommen. 1996 wurde er, obwohl das Land wirtschaftlich am Boden lag, wie durch ein nicht existierendes Wirtsschaftswunder wiedergewählt. „Internationaler Währungsfonds“ und „Weltbank“ hatten sich in Moskau eingenistet und diktierten die russische Finanzpolitik und damit auch alles andere. Jelzin kürzte, geradezu vorausschauend für alle weiteren nachfolgenden Supereuropäer, sämtliche Staatsausgaben und nahm dem Volk noch mehr weg – für das Vertrauen der Märkte.
Am 14. August 1998 stürzte Russland in den Staatsbankrott (wie allgemein bekannt, tat sich nicht die Wolga auf und verschlang Russland mit einem Happs, wie zuvor seine Rettettettetter aus Washington). Der Rubel wertete ab und eine Menge an irrsinnig zustande gekommenen Auslandsschulden wurde einfach nicht bezahlt. Die russischen Bürger die noch über Guthaben verfügten stürmten die Banken, die meisten Banken brachen zusammen.
Ende 1999 übergab Jelzin, der wegen Alkoholismus kaum mehr laufen oder sprechen konnte, an den zuvor noch eingesetzten Ministerpräsidenten Wladimir Putin. Der erhöhte den Militäretat um 50 Prozent und begann den zweiten Tschetschenienkrieg, was ihm beim Volk ungemein Respekt einbrachte.
Endlich mal wieder gewinnen.
Adam Curtis / „The Trap“:
„Doch mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts sollte es einen weiteren heroischen Versuch geben, die Idee von ´negativer Freiheit´ über die Welt zu verbreiten. Und eine der zentralen Figuren in dieser utopischen Mission würde der britische Premierminister Tony Blair sein.“
VIII
Nach seinem Amtsantritt in 1997 schrieb Tony Blair an den bereits auf dem Sterbebett liegenden Isaiah Berlin. Blair offerierte diesem eine völlig neue Version von Berlins Philosophie: eine Kombination von „negativer“ und „positiver“ Freiheit. Die „Beschränkungen“ von „negativer Freiheit“ (Freiheit von, nicht zielgerichtetes, westliches Modell) hätten Generationen, so Blair in seinem Brief, motiviert für Ideen von „positiver Freiheit“ (Freiheit zu, zielgerichtetes politisches / ideologisches Modell) zu kämpfen. Blair schrieb dazu von einer neuen „Zukunft der Linken“.
Was Blair damit tatsächlich meinte, sollte sich bald herausstellen: Interventionismus, Imperialismus, Kapitalismus.
Blair trieb den zu Ende seiner zweiten Amtszeit bereits schwer beschädigten und amtsmüden U.S.-Präsidenten Bill Clinton 1999 zum Einmarsch in Yugoslawien, um – wie es hieß – in einer yugoslawischen Provinz, dem Kosovo, stattfindende ethnische Säuberungen zu stoppen.
Noch am 22. März 1999 stand in der Tagesmeldung des damaligen Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (ANBw): „Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen“. Es gab kein Mandat der Vereinten Nationen für einen Krieg gegen Yugoslawien. In einem Angriffskrieg marschierten (nach einem Bombardement gegen ganz Yugoslawien) dennoch Truppen des Nordatlantikpakts unter Führung der U.S.A. 1999 in das Land ein und besetzten die rohstoffreiche Provinz Kosovo.
Adam Curtis / „The Trap“:
„Für Präsident Clinton war es eine kurzzeitige humanitäre Mission. Aber Blair sah etwas viel Tieferes. Es war der Beginn eines neuen universellen Prinzips, was auf der ganzen Welt angewendet werden sollte. In der modernen miteinander verbundenen globalen Gesellschaft glaubte Blair, der Westen habe eine Pflicht in Länder zu intervenieren wo Individuen von Tyrannei bedroht seien und den Menschen Freiheit zu bringen. Er umschrieb diese dramatische neue Vision in einer Rede in Chicago in 1999:“
Blair, Filmausschnitt:
„Dies ist, glaube ich, ein gerechter Krieg. Akte des Genozids können niemals eine rein innere Angelegenheit sein. Wenn wir die Werte der Freiheit, die Herrschaft des Gesetzes, Menschenrechte und eine offene Gesellschaft etablieren und verbreiten können, dann ist das auch in unserem nationalen Interesse. Die Ausbreitung unserer Werte macht uns in der Tat sicherer. Glaubt denn irgendjemand, dass Serbien oder Irak Nationen wären die Konflikte verursachen, wenn sie Demokratien wären?“
Adam Curtis / „The Trap“:
„Aber es waren die Ereignisse des 11. Septembers, die Blairs Prinzip transformieren würden in einen revolutionären Versuch die Welt zu erneuern und Millionen Menschen die Freiheit zu bringen.“
Blair, Filmausschnitt:
„Der Gleitpfad ist erschüttert worden. Die Bestandteile sind im Fluss. Bald werden sie sich wieder ansiedeln. Bevor sie das tun, lasst uns die Welt um uns neu ordnen.
Ich glaube, dass dies ein Kampf für Freiheit ist. Von den Wüsten Nordafrikas zu den Slums in Gaza zu den aufragenden Bergen Afghanistans – auch sie sind unsere Angelegenheit.“
Adam Curtis / „The Trap“:
„Und zur selben Zeit brachten die Attentate des 11. Septembers viele der demokratischen Revolutionäre aus den 1980er wieder zu Einfluss in Washington. Sie und Blair trafen sich nun um zu versuchen Demokratie im Nahen Osten zu verbreiten. Und genau wie in den 80ern wurden die gleichen Techniken von Übertreibung und Angst eingesetzt, um das Amerikanische Volk davon zu überzeugen dies zu unterstützen.
Und Tony Blair fand sich selbst dem selben Problem gegenüberstehend. Obwohl er an die Briten appellierte ihm in dieser radikalen Vision zu vertrauen, regierte er nun eine Gesellschaft, die Politikern misstraute. Wie diese Filmserie gezeigt hat, basierte das vereinfachte Modell von ökonomischer Demokratie auf der Theorie dass jeder, eingeschlossen Politiker, nur von Eigennutz getrieben sei. Und diese Vorstellung hatte sich mittlerweile in der Kultur verbreitet. Diesem Misstrauen gegenüberstehend setzte Blair das ein, was viele als Übertreibung und Verzerrung ansahen. Vielleicht glaubte er, dies sei der einzige Weg seine moralische Vision zu erreichen, dass die Ergebnisse die Mittel rechtfertigen.“
IX
„Im April 2003 vertrieben amerikanische und Koalitionstruppen Saddam Hussein und machten sich daran eine neue, freie Gesellschaft im Irak zu schaffen. Aber um dies zu tun, würden sie die gleiche Technik benutzen, wie sie in Russland benutzt hatten:`Schock-Therapie`.“
Als Statthalter des eroberten Iraks setzten die Besatzungsmächte den Harvard-Ökonomen Paul Bremer ein. Er traf 2003 im Irak ein mit einem von einer Gruppe radikaler Ökonomen entwickelten und noch extremeren Wirtschaftskonzept, als dem, welches von Jeffrey Sachs ab 1992 in Russland angewendet worden war.
Adam Curtis / „The Trap“:
„Der Leiter der ´Provisorischen Autorität´, Paul Bremer, traf ein im Irak mit einem von einer Gruppe von radikalen Ökonomen entworfenen Plan, der sogar noch extremer, noch utopischer war, als der in Russland versucht worden war. Die Menschen würden von jeder Form von staatlicher Kontrolle befreit werden. Und Bremer machte sich daran sofort alle Mitglieder der Baath-Partei zu entlassen, die die irakische Gesellschaft kontrolliert hatte.
Es war ein dramatischer revolutionärer Schachzug. Über Nacht zerstörten die Amerikaner die zivile Struktur der irakischen Gesellschaft. Doch anstatt zu versuchen neue Institutionen zu schaffen, sah Bremers Plan vor die perfekte Marktwirtschaft zu konstruieren, von der die Amerikaner glaubten, sie würde automatisch eine neue Demokratie erschaffen.
Alle Industrien und öffentlichen Betriebe wurden sofort privatisiert. Das Land wurde dann für internationale Konzerne aufgerissen, die, im Gegenzug für Investitionen, hundert Prozent ihrer Profite steuerfrei aus dem Land ausführen konnten. Nur eines von Saddam Husseins Gesetzen blieb: das, welches Gewerkschaften beschränkte.
Aus diesem sollte eine spontane Ordnung entstehen. Was daraus resultierte war Chaos.“
Wie „The Trap“ weiter ausführt, verkündete die U.S.-Besatzungsmacht schließlich, dass die neue irakische Verfassung von einem Rat ihrer Wahl und Zusammensetzung beschlossen werde. Daraufhin erließ das Oberhaupt der schiitischen Kirche im Irak, Ajatollah Sistani, eine Reihe von Fatwas gegen die Besatzungsmacht. Sistani forderte einen Gesellschaftsvertrag und echte Demokratie für Irak und warnte im Falle einer Verweigerung durch die Besatzungsmacht vor dem Aufstieg eines antidemokratischen Islamismus.
Dazu sei hinzugefügt: In der Tat spielte die U.S.-Besatzungsmacht konsequent dem heute vergessenen obskuren „Schiitenprediger“ (ohne Ausbildung) Muktada el-Sadr (Muqtada al-Sadr) in die Hände, der von den US-Truppen völlig unbehelligt in Kerbela (Karbala) lebte, obwohl ihm und seiner “Mahdi”-Miliz regelmäßig Massaker zur Last gelegt wurden. Beobachter gingen davon aus, dass el-Sadr ein Kollaborateur der US-Besatzungsmacht war und mit allen Mitteln versuchte Ayatollah al-Sistani in seinem Einfluß zurückzudrängen, um einen Bürgerkrieg zwischen den Irakern zu entfachen.
Bereits 2005 tauchten in der U.S.-Presse Berichte darüber auf, dass die U.S.-Besatzungsmacht im Irak Todesschwadronen („Special Police Commandos“) nach Vorbild der seinerzeit in den 80ern von U.S.-gestützten Diktaturen in Süd- und Mittelamerika aufgestellt hatte. Erster Leiter des U.S.-Militärkommandos zur Ausbildung irakischer Einheiten von 2004 bis Mitte 2005 war übrigens der vor wenigen Tagen als C.I.A.-Direktor zurückgetretene General David Petraeus.
2006 wurden an jedem Tag, an jedem Morgen, Dutzende, manchmal bis zu hundert verstümmelte Leichen auf den Straßen gefunden. Die Todesschwadronen die diese Massaker verübten, setzten sich größtenteils aus Polizisten und Milizen des von den U.S.A. eingesetzten irakischen Regimes zusammen, die wiederum eng mit der „Mahdi“-Miliz von el-Sadr verknüpft waren (hier die britische Dokumentation „The Death Squads“ von Ende 2006).
Ende 2006 Anfang 2007 veröffentlichte dann der der U.S.-Partei „Demokraten“ nahestehende Think Tank „Brookings“ zwei Denkpapiere („A Bosnia Option vor Iraq„, „Things fall apart„), die unter Bezug der Kriege in ex-Yugoslawien eine Teilung des Irak nach ethnischen Kriterien und Selektion der Bevölkerung vorschlugen (wohlmeinende Lager inbegriffen, in denen sich die erschöpften Opfer des sunnitisch-schiitischen Extremismus besser konzentrieren könnten), bzw. mit einer Intervention der Nachbarstaaten Türkei und Saudi-Arabien und / oder einem Eingreifen der N.A.T.O.. kalkulierten.
Adam Curtis / „The Trap“:
„Und der revolutionäre Versuch im Ausland ´negative Freiheit´ zu kreieren, veränderten Freiheiten in Britannien selbst“.
X
Am 7. Juli 2005 führte die Firma Visor Consultants unter Managing Director Peter Power für eine bis heute unbekannte Organisation eine „Terror-Übung“ mit tausend involvierten Personen in London durch, in der die simultane Explosion von Sprengsätzen zu einem bestimmten Zeitpunkt an mehreren Orten im Londoner U-Bahnsystems geübt wurde. Leider explodierten am 7. Juli 2005 zu genau diesem Zeitpunkt an genau diesen Orten im Londoner U-Bahnsystem simultan Sprengsätze. Es starben u.a. die üblichen Verdächtigen, die so praktischerweise die üblichen nicht verurteilten Verurteilten wurden. Sie blieben bis heute die Einzigen.
Knapp zwei Wochen später wurde in einer Londoner U-Bahn der Elektriker Jean Charles De Menezes – einer unter tausend – vor aller Augen von mehreren Polizisten festgehalten und dann exekutiert. Anschließend behauptete Scotland Yard, der Verdächtige sei verdächtig gewesen, weil man De Menezes für einen Terroristen gehalten habe. De Menezes habe eine dicke Jacke getragen, darunter hätte sich eine Selbstmörderweste verbergen können (welche westlichen Westen die Scotland Yard Beamten bei ihrem Einsatz getragen hatten wurde nicht bekannt), De Menezes sei zudem weggelaufen. Außerdem habe man ihn vorher nicht festnehmen können. Es war alles gelogen. De Menezes war den ganzen Tag bereits von Agenten Scotland Yards beschattet worden und war weder gelaufen noch mit einer dicken Jacke bewaffnet. Die Einsatzleiterin der Hinrichtung, Cressida Dick, wurde 2007 befördert. Verurteilt werden brauchte offensichtlich niemand, der übliche Verdächtige war bereits tot.
Premierminister Tony Blair nutzte die 7/7 „London Bombings“ für eine ganze Reihe neuer Einschränkungen von bürgerlichen Freiheiten, nur zur Sicherheit.
Adam Curtis / „The Trap“:
„Was Tony Blair vorschlug war, dass Individuen aufgrund von weit weniger Hinweisen („evidence“) als bisher bestraft werden könnten, für antisoziales Verhalten über Terrorismus, oder sogar auf den Verdacht hin, dass sie vielleicht in Zukunft eine Straftat begehen könnten. Es gab dagegen enorme Widerstände aus der Anwaltschaft. Sie argumentierte, das öffne die Tür zum willkürlichen Gebrauch der Macht durch Regierungen.
Politiker konnten nun entscheiden, wer ein gesetzestreuer Bürger ist und wer das Individuum, dessen Ideen in der Zukunft vielleicht zu gefährlichen Straftaten führen könnten und eingesperrt werden sollte aufgrund von wenigen oder keinen Hinweisen („evidence“).
Wieder einmal transformierte sich ´negative Freiheit´ selbst in etwas, vor dem Isaiah Berlin gewarnt hatte. Sie wurde eine Version ihres Gegenteils: ´positiver Freiheit`. Unsere Politiker haben die Macht zu entscheiden was die richtige Art von freiem Individuum ist und diejenigen zu bestrafen die mit diesem Ideal nicht konform gehen.
Aber da ist etwas, was unsere heutige Freiheit von ´positiver Freiheit´ unterscheidet. ´Positive Freiheit´ ist getrieben von einer Vision, dass Freiheit für etwas ist; die Freiheit etwas Neues zu tun oder zu sein, aus dem eine bessere Welt entstehen würde. `Negative Freiheit´ hat keine solche Vision. Sie ist für nichts. Im Herzen hat sie keine Bestimmung, außer uns vor unnötigen Restriktionen oder Schaden zu bewahren. Tatsächlich aber haben die demokratischen Revolutionäre im Gebrauch von Gewalt, um eine Welt basierend auf ´negativer Freiheit` zu erschaffen, Millionen Menschen im Ausland in eine Welt ohne Bestimmung oder Bedeutung geführt.
Diese Vorstellung von Freiheit wird von vielen Politikern und einflussreichen Kommentatoren immer noch als universelles Absolutum dargestellt. Sie gehen davon aus, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie sich über die Welt ausbreite.
Aber das kann nicht wahr sein.
Wie diese Filmserie gezeigt hat, ist die Vorstellung von Freiheit in der wir heute leben eine beschränkte und begrenzende, die geboren wurde aus einer spezifischen und gefährlichen Zeit: dem Kalten Krieg. Sie hatte vielleicht damals Bedeutung und Zweck, als eine Alternative zu kommunistischer Tyrannei. Aber nun ist sie eine gefährliche Falle geworden.
Unsere Regierung verlässt sich auf ein vereinfachtes, wirtschaftliches Modell von menschlichen Wesen. Es erlaubt der (sozialen) Ungleichheit zu wachsen und offeriert nichts Positives angesichts der reaktionären Kräfte, die sie geholfen hat weltweit zu erwecken.
Wenn wir jemals dieser beschränkten Weltanschauung entkommen wollen, müssen wir die progressiven positiven Ideen der Freiheit wieder entdecken und erkennen, dass Isaiah Berlin sich geirrt hat:
Nicht alle Versuche die Welt zu verbessern führen in die Tyrannei.“
Ende der Artikelserie
(…)
Video Quelle erneuert am 15.09.2017